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Familie Balser-Theobald

DR. HELMUT BALSER

Mein Vater




Eltern

Generalkonsul


Lagerarbeiter

Sangerin u. Souffleuse

Karl August

Marie

Josef

Friedel

BALSER

THEOBALD

KANNEN

STEUERWALD

geh. 02.09.1913 in Tsingtau/China

verh. BALSER

geh.

verh. KANNEN

* 20.12.1858

* 25.05.1890

* 20.12.1892

* 08.02.1904

Assenheim/Friedberg

Gießen

Recklinghausen

Darmstadt

+ 05.02.1937

+ 16.02-1981

+ 10.06.1961

+ 08.09.1981

Darmstadt

Darmstadt

Gießen

Hennef

68

90

68

75

Oberleutnant und Jurist

Tänzerin und Soubrette

Dr. Helmut

Helga

BALSER

KANNEN

geh. 1941 in Gießen

verh. BALSER

* 15.01.1916

* 03.02.1922

Tientsin/China

Gießen

+ 25.03.1945

+ 16.12.2007

Rhade/Westfalen gefallen

Gießen

29

85

2 Söhne

Hans-Henning

Gerald

BALSER

BALSER

* 14.03.1942

* 25.04.1944

Gießen

Gießen



 


 HELGA KANNEN

verh. Balser

 

Staatstheater Oldenburg
Der Name Balser ist für Gießen typisch und meine Mutter, Helga Kannen, dachte wohl, im hohen Norden einen Landsmann getroffen zu haben. Die Behauptung meines Vaters, in China geboren zu sein, quittiert sie mit einem ungläubigen Lachen.

Meine Mutter, Helga Kannen, arbeitete als Ballett-Tänzerin im Staatstheater Oldenburg. Nach ihrer Ausbildung am Gießener Stadttheater im Jahr 1939 war Oldenburg bereits ihr zweites Engagement. Das Stadttheater Wilhelmshaven hatte sie ein Jahr zuvor engagiert. Die Ausbildung zur Tänzerin war für meine Mutter nur der erste Schritt zu ihrem eigentlichen Berufsziel Soubrette. In Wilhelmshaven und Oldenburg nahm sie intensiv Gesangsunterricht. Das Theater in Annaberg im Erzgebirge bot ihr 1941 ein Engagement als Soubrette an. Mein Vater, Helmut Balser, diente in einer Fernaufklärer-Fliegerstaffel am Fliegerhorst in Oldenburg.

Die Mutter meines Vaters, Marie Balser, genannt Eni, war, wie meine Mutter, in Gießen geboren. Ob dieser Zufall eine Rolle gespielt hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls muss mein Vater sich Hals über Kopf verliebt haben. Eni war 1940 zu Besuch in Deutschland und traf sich mit ihrem Sohn im Fliegerhorst. Nach einer Operettenvorstellung hatte sich mein Vater (24) mit ein paar Kameraden und einigen jungen Damen vom Theater in einem Restaurant verabredet. Hier lernte Eni meine Mutter kennen und fand Helga Kannen (18), wie sie in ihrem Buch „Östliches und westliches Gelände“ schreibt, durch ihre Natürlichkeit und Frische gleich sympathisch. Auch Helmut schien gefallen an ihr gefunden zu haben, bemerkte sie.

Seine Eltern sah mein Vater an Ostern 1941 zum letzten Mal. Er war als Kurier und gleichzeitig zur Rekonvaleszenz in Japan. Über der Nordsee auf der Höhe von Norwegen war sein Flugzeug von englischen Spitfire abgeschossen worden. Aufgrund seiner Farbenblindheit durfte er nur als Copilot fliegen. Der Pilot war bereits tot und mein Vater durch ein Geschoss neben dem Auge in der Nase fast blind. Ein Tragflügel der Maschine war halb abgeschossen. Dennoch war es ihm gelungen, den Flieger in Stavanger zu landen. In Bergen lag er einige Wochen im Lazarett. Das Geschoss trug er als Talisman in seiner Jackentasche. Seinen Eltern in Kobe hatte er bereits angekündigt, Helga Kannen zu heiraten. Aus Japan zurückgekehrt (1941), wurde er mit der Absicht meiner Mutter überrascht, das Engagement in Annaberg anzunehmen. Daraufhin machte er ihr einen Heiratsantrag.

Die große Wohnung in der Landgrafenstr. 8
Die Annahme des Heiratsantrags bedeutete für meine Mutter den Verzicht auf eine mögliche Theaterkarriere. Mein Vater war ein Mensch seiner Zeit. Er wollte vier Kinder und dazu passte keine arbeitende Ehefrau. Meine Mutter sollte nicht länger zur Untermiete wohnen. Sie kündigte ihr Zimmer in Oldenburg und zog in das Haus des Fliegerkollegen und Freundes Kurt Gast und dessen Frau Wilma nach Bad Zwischenahn. Hier wohnten sie zusammen bis zum Umzug im Spätsommer 1941 nach Gießen. Für meine Mutter war es ein glückliches halbes Jahr.  Im Frühsommer 2024 haben Gabi und ich endlich Oldenburg und Bad Zwischenahn besucht. Leider kannte ich die Adresse von Kurt Gast nicht.

Am 28.06.1941 wurde in Gießen im Hotel Prinz Carl geheiratet. Für Gießen war diese Verbindung eine Sensation und die Hochzeit geradezu filmreif (Offizier und Gentleman). Ein Luftwaffenoffizier, promovierter Jurist und Diplomatensohn heiratet eine Ballett-Tänzerin und Arbeiterkind aus dem kleinen Gießen.

Meine Mutter wurde schwanger. Mein Vater wollte seine Frau in guter Obhut wissen und entschied, in Gießen eine Wohnung zu suchen. Die musste sehr groß sein, denn es sollten auch seine Schwiegereltern und die Großmutter Steuerwald, meine Urgroßmutter Elisabeth, untergebracht werden, eine 4-Generationen-Wohnung.

Gegenüber vom Landgericht in der Landgrafenstraße 8, Ecke Ostanlage, stand ein wunderbares, herrschaftliches Haus. Die riesige Wohnung im 1. Stock war 1941 frei geworden. Wer hätte unter diesen Umständen nicht zugegriffen. Meine Mutter, die sich in Gießen gut auskannte, wusste, dass in diesem Haus deportierte Juden gewohnt hatten. Ihr Einwand, so etwas bringe kein Glück, hielt mein Vater für Aberglauben und meinte nur pragmatisch „wenn wir die Wohnung nicht nehmen, nimmt sie ein anderer“. Er konnte nicht ahnen, wie Recht meine Mutter behalten würde. Vor einigen Jahren wurden in den Bürgersteig vor dem Haus Landgrafenstr. 8 sog. Stolpersteine eingelassen, die die Erinnerung an die ehemaligen Hausbewohner wachhalten sollen.

Mein Bruder Henning kam im März 1942 im evangelischen Krankenhaus in der Johannesstraße (heute Alten- und Pflegeheim, in dem unsere Mutter nach einem Aufenthalt nur von sechs Tagen gestorben ist) in Gießen zur Welt. Für meine Mutter begannen die schönsten Jahre ihres Lebens. Die Familie war gut versorgt und sie war mit einem Mann verheiratet, den sie nicht nur unendlich liebte, sondern auch regelrecht verehrte. Die Ruhe in der Landgrafenstraße wurde durch ein laut brüllendes Mädchen gestört. Sie rief nach meiner Mutter. Mein Bruder war in den kleinen Goldfischteich in der Ostanlage gefallen. Mit seinem Tiroler Hut auf dem Kopf war er gut auszumachen. Er wollte dem Nachbarmädchen Blumen pflücken. Mein Bruder war schon immer ein charmanter Kavalier.

Hochzeit von Onkel Hannes
Der Fall von Stalingrad stand noch bevor. Man glaubte immer noch an einen nahen Sieg. Mein Vater wollte vier Kinder. Warum nicht jetzt ein zweites Kind? Es geschah auf der Hochzeit seines „kleinen“ Bruders Johannes Balser mit Jutta Schimmelpfennig am 7. August 1943 in Soest. In der Kirche sang meine Mutter das Ave-Maria. Onkel Hannes und meine Mutter waren beide erst 21 Jahre alt, und sie verstanden sich prächtig.

Meine Geburt
Meine Cousine Jutta bestätigt in ihren Berichten meine Ausführungen: Am 25.04.1944 kam ich im evangelischen Krankenhaus in Gießen zur Welt, also 16 Tage vor ihrer Geburt. Ich kannte die pikante Geschichte bereits von meiner Mutter. „Man habe das junge Brautpaar hinter sich gelassen“, hatte sie mir einmal lächelnd erzählt. Der väterliche Freund von Onkel Hannes auf dem Hochzeitsfoto, Paul Esser, war auch gleichzeitig ein guter Freund meines Vaters und sogar einer meiner drei Patenonkel. Dies waren der jüngere Bruder meiner Mutter Werner Kannen, Ernst Volz (das Völzchen) und Paul Esser. Bei der Einreise nach Florida ruft mein vollständig ausgeschriebener Name "Gerald Werner Ernst Paul Balser" stets großes Erstaunen hervor.

Bombenangriff am 6. Dezember 1944
Amerikanische und englische Bomber brachten den Krieg nach Deutschland. Am Nikolaustag, dem 6. Dezember 1944, das Geschirr vom Abendessen stand noch auf dem Tisch, begann das Heulen der Sirenen, Fliegeralarm. Opa Kannen war auf diesen Moment vorbereitet. Die Familie flüchtete nicht mit allen anderen in den offiziellen Luftschutzbunker im Amtsgericht, sondern ging nach unten in den eigenen Keller. Dem äußerst stabilen Gewölbe traute Opa größere Standfestigkeit zu. Er behielt Recht. Unser Haus wurde zwar völlig zerstört, aber der Keller blieb unversehrt. Dagegen hatte der Bunker im Amtsgericht einen Volltreffer erhalten. Es gab sehr viele Tote. Durch den starken Luftdruck wurden die Kellerfenster unseres Hauses eingedrückt. Steine flogen und brennendes Phosphor floss in den Keller. Ein dicker Brocken fiel Mitten in den Kinderwagen hinein. Gott sei Dank hatte mich meine Mutter vorher aus dem Wagen genommen. Jetzt musste sich die Familie vor dem Feuer retten. Opa Kannen hatte vorsorglich im Keller einen großen Bottich mit Wasser und Decken deponiert. Die Decken wurden ins Wasser eingetaucht und sich umgehängt. Opa Kannen nahm seine Schwiegermutter Huckepack, Oma Friedel den Henning bei der Hand und meine Mutter mich auf den Arm. So ging es raus aus der brennenden Ruine durch einen Funkenhagel über die Ostanlage am Amtsgericht vorbei in die Wieseckaue. Dort verbrachten wir die restliche Nacht.

Die Familie war ausgebombt, so nannte man dies damals. In einer Nacht hatten wir unser gesamtes Hab und Gut verloren und das war nicht wenig. Die Großeltern Balser hatten ihre Wohnung in Berlin aufgegeben und die wertvollen Möbel in der großen Wohnung ihres Sohnes Helmut in Gießen untergestellt. Dort gab es viel Platz und in dem unbedeutenden, kleinen Gießen glaubte man sie sicher. Am nächsten Morgen suchte Opa Kannen in der lebensgefährlichen Ruine nach Brauchbarem und fand lediglich eine, durch die hohe Hitze in der Glasur verbrannte Reliefvase aus der Ming-Dynastie. Die Vase hat mir Mutti zu meiner Hochzeit mit Gabi geschenkt. Gießen wurde in einer Nacht zu 80 % zerstört und nahezu unbewohnbar. Zum Vergleich: Dresden war „nur“ zu 60 % zerstört.

Die Apotheke in Stadtprozelten
Meine eigenen Erinnerungen beginnen erst ab dem Jahr 1947. Meine Berichte aus der Zeit direkt vor bzw. nach Ende des Krieges stammen von meiner Mutter und den Großeltern. Mein Vater hörte von der Vernichtung Gießens und bekam noch im Dezember 1944 Sonderurlaub für die Suche nach seiner Familie. Opa Kannen hatte an die verbliebene Häuserwand mit Kreide die Adresse der notdürftigen Bleibe auf dem Lande, in der Nähe von Gießen, geschrieben. In einer abenteuerlichen Fahrt in überfüllten Zügen, bei ständigen Fliegerangriffen brachte mein Vater unsere Mutter und uns Kinder Ende Dezember 1944 nach Stadtprozelten am Main.

Sein Onkel Ludwig-Conrad Theobald, Enis Bruder, war dort mit Enis Klassenkameradin Ernestine, genannt Erna, verheiratet und besaß eine Apotheke. Das war ein großes Glück. Meine Mutter hatte sich durch den Aufenthalt in der feuchten Kälte der Wieseckaue in der Nacht nach dem vernichtenden Fliegerangriff Gießens am 6. Dezember 1944 eine schwere Krankheit zugezogen und der Onkel hatte die notwendigen Medikamente. Unsere Aufnahme bekam der Onkel allerdings durch Überweisungen meines Vaters versüßt. Als die Zuwendungen ausblieben, begann die Stimmung im Hause Theobald leider zu trüben. Meine Mutter wurde zur schwer arbeitenden Haushaltshilfe in absoluter Ab-hängigkeit. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass die kleine Familie als unnütze Kostgänger betrachtet wurden. Dazu hatte auch ich beigetrage. Wie auch immer es mir gelungen war, ich hatte die Kräutersammlung neu sortiert. Die ersten Monate nach Ende des Krieges waren sicherlich für alle sehr schwer. Jeder versuchte sich über Wasser zu halten. Trotz der zum Schluss weniger schönen Erlebnisse, war meiner Mutter klar, dass wir dem Onkel sehr viel zu verdanken hatten.

Die Amerikaner hatten Anfang April 1945 den Main erreicht und marschierten auf den leisen Sohlen der Springerstiefel nach Süden. Die “Befreiung“ von den Nazis haben wir also nicht in Gießen, sondern in Stadtprozelten erlebt. Das deutsche Volk hatte große Schuld auf sich geladen. Wie würden die Sieger uns behandeln? Die Angst war groß, als Nazi eingestuft und bestraft zu werden. Alles, was im Haus Theobald an diese Zeit erinnerte, wurde rasch vernichtet, lei-der auch die Briefe meines Vaters an meine Mutter, weil sie oftmals mit „Heil Hitler“ endeten.

Nicht nur wir, viele Einwohner Gießens waren aus der zerbombten Stadt geflohen. Die Großeltern Kannen dagegen waren bei der Familie Paul in der Landmannstraße untergekommen. Alle Häuser dort standen noch. Oma Friedel hatte zum Glück recht bald in der Grünberger Straße 30, im 1. Stock eine große Wohnung gefunden, wo es auch gen

ügend Platz für uns gab. Opa Kannen organisierte einen Lastwagen mit Holzvergaser und brachte uns im Spätsommer 1945 wieder zurück nach Gießen.

Wenige Jahre vor ihrem Tod bin ich mit meiner Mutter nach Stadtprozelten gefahren. Sie wollte die alten Stätten noch einmal sehen. Auch mit meiner Gabi war ich vor kurzem nach einem Besuch von Würzburg in Stadtprozelten. Die Apotheke in der Hauptstraße existiert immer noch.

 


Nachricht vom Tod meines Vaters
Mein Vater war einquartiert auf einem großen Bauernhof bei Rhade in Westfalen, nördlich von Gelsenkirchen. Die Luftwaffensoldaten hatten keine Flieger mehr und mein Vater wurde zur Sprengung der Brücken nördlich des Ruhrgebiets eingesetzt. Meinem Vater stand ein Motorrad mit Beiwagen zur Verfügung. Bei der Rückfahrt am 26.03.1945 in die Unterkunft stürzte sich ein englischer Tiefflieger auf das Motorrad. Der Fahrer konnte sich noch rechtzeitig mit einem Hechtsprung in den Straßengraben retten, mein Vater dagegen kam nicht schnell genug aus dem Beiwagen heraus. Diese schlimme Nachricht erhielt meine Mutter erst - nach langem Bangen - im September 1945 von dem Kameraden mei-nes Vaters. Nun hatte sie Gewissheit. Sie war mit 23 Jahren Witwe, Mutter von zwei Buben, drei und ein Jahr alt und als Ausgebombte mittellos. Der Fahrer berichtete, Ihr Ehemann läge unter einem Birkenkreuz in der Nähe seiner Unterkunft, dem Bauernhof, begraben. Später wurde er, zusammen mit anderen Gefallenen, auf dem benachbarten Friedhof in Raesfeld-Erle umgebettet. Dort liegt er noch heute. Leider ist sein Geburtsjahr (1911) auf dem Krieger-Kreuz aus Sandstein falsch.

 


 

 

Stadttheater Gießen
Der Aufbau des zerstörten Gießens ging zügig von statten. Meine Mutter war mit ihrer Arbeit im amerikanischen Offiziersclub nicht unzufrieden und sie wur-de auch nicht schlecht bezahlt. Der zukünftige Intendant des notdürftig aufge-bauten Gießener Stadttheaters Prof. Anton Ludwig lockte Ende 1951 meine Mutter mit der vakanten Stelle der Soubrette. Der Hinweis stammte wahrscheinlich von seiner Tochter, Christa Ludwig, die meine Mutter aus der Zeit direkt nach Kriegsende kannte, als sie gemeinsam durch die amerikanischen Clubs tingelten. Christa Ludwig wurde eine weltberühmte Kammersängerin. Die Bretter, die die Welt bedeuten, sind eher dünn und machen nicht unbedingt satt, vor allem nicht in den Jahren der Nachkriegszeit.

Muttis Partner war der beim Gießener Publikum sehr beliebte Buffo Hans Gruben. Der hatte auf meine Mutter ein Auge geworfen. Einen Partner zu finden, war für die Frauen in der Nachkriegszeit ein großes Problem. Besonders schwer hatten es Kriegerwitwen mit Kindern. Muttis Freundin Ellen zog die Konsequen-zen, heiratete einen amerikanischen Soldaten und ging mit ihm und Tochter in die USA. Die Freundschaft zu Ellen hielt das ganze Leben. Sie besuchten sich ge-genseitig in den USA und in Deutschland. Bei meiner USA-Rundreise habe auch ich Ellen und ihren Ehemann Kenneth besucht. Meine Mutter war eine junge Frau von Mitte zwanzig, hatte Charme und sah gut aus. Auch sie hatte Chancen bei einem amerikanischen Offizier. Meine Mutter war aber so früh nach dem Tod ihres geliebten Mannes an einer neuen Beziehung nicht interessiert. Außer-dem vergraulte sie jeden Interessenten durch ihr Schwärmen für ihren gefallenen Mann.

 

Bei Mutti in der Walltorstr. 57
In der Bundesrepublik war der wirtschaftliche Aufschwung nicht zu bremsen. Deutschland war an wachsenden Wachstumsraten gewohnt. Auto und Fernseher waren nicht mehr ein Zeichen von Reichtum. Uns hatte die Wirtschaft anscheinend vergessen. In der Grünberger Straße bei Oma Friedel wohnten wir immer noch als Großfamilie: mein Bruder Henning mit meiner Mutter, auch Onkel Ludwig und Opa Kannen. Ich lebte bei Eni in der Wolfstr. 25.

Meine Mutter war bereits 38, Henning 18 und ich 16 Jahre alt, als sie beschloss, mit ihren zwei Jungen endlich eigenständig zu leben und sie suchte für uns in Gießen eine moderne Zweizimmerwohnung mit Bad und Küche. Für meine Mutter, die bei Oma Friedel kostenfrei lebte, war dies bei ihrem armseligen Gehalt ein mutiger Schritt. Der Familienrat wurde einberufen. Eni und Oma Friedel waren bereit, uns zu unterstützen und willigten ein. Opa Kannen verkaufte seinen Garten an der Lahn und Onkel Hannes spendierte die moderne Küchenzeile mit eingebautem Brotschneider.

Herr Brückel von der Druckerei Herr bot meiner Mutter eine Wohnung mit zwei Zimmern und großem Balkon, einer Küche einem Bad mit Badewanne und Toilet-te, in der Walltorstraße 57, im 3. Stock an. Ein Fahrstuhl war vorhanden. Im Frühjahr 1960 zogen wir in die Walltorstraße. Die beiden Zimmer lagen leider hintereinander und mit einer Tür verbunden. Henning und ich schliefen im hinteren Zimmer, Mutti auf der Schlafcouch im Wohnzimmer. Jeden Abend musste sie sich ihr Bett bauen. Unsere Wohnung wurde von Besuchern bestaunt, denn meine Mutter hatte ihre moderne Stringwand und der aus dem Offizierskasino geretteten wuchtigen Couchgarnitur mit Enis kunstvoll geschnitzten China-Schrank, asiatischen Bilder und Accessoires geschmackvoll kombiniert.

Lothar Klinksieck
Befreundet war meine Mutter mit dem Schauspielkollegen Lothar Klinksieck, kein schöner Mann wie Hans Gruben, auch deutlich älter als sie, aber intellektuell eine imponierende Person. Als Arzt hatte er einem Mädchen aus der Not geholfen, seine Approbation verloren und war beim Theater gelandet.

Lothar sah die Schwierigkeiten, die meine Mutter mit zunehmendem Alter in ihrem Fach Soubrette bekam. Man nutzte ihre Abhängigkeit vom Standort Gießen aus, schob sie nach und nach in den Chor ab und setzte sie nur noch bei kurzfristigen Ausfällen als Ersatz ein. Aber selbst dies gönnten ihr einige Kolleginnen im Chors nicht. Die Rolle, in die sie einsprang, verlangte einen Spitzentanz. Für meine Mutter als ausgebildete Tänzerin war dies kein Problem. Noch rechtzeitig vor ihrem Auftritt bemerkte meine Mutter Reisbrettstifte in ihren Ballettschuhen.

Lothar hatte Muttis Talent für die Schauspielerei erkannt und ermutigte sie, zum Schauspiel zu wechseln. In dieser Sparte fühlte sie sich auch privat wohler. Zu ihrem engen Freundeskreis gehörten Harald Müller, Michael Chevalier, Wolfgang Beaujon und Rainer Domke. In dieser Zeit schrieb Paul Nieren, ein ehemaliger Kollege meiner Mutter, in einem Beilagenblatt folgenden netten Artikel über meine Mutter:

Nie Star, immer Stern
Früher hatten die Gießener anderen Kontakt zu "ihrem Theater", es war die Zeit des Hofrat Steingötter und die Intendantenjahre Dr. Praschs. Mit diesen beiden für die Geschichte unseres Theater unauslöschlich verbundenen Persönlichkeiten ist auch Helga Balsers Name verknüpft. Ihr Großvater war der erste Gewandmeister in dem seit 1907 bestehenden "neuen Hause" und damit hatte Helga erste Berührung mit der Welt, die auch ihren Lebensweg bestimmen sollte.

Mit sechs Jahren fiel ihre helle, klare Kinderstimme bereits auf, dass man ihr ein Solo in Kienzls damals noch oft gespielten Oper „Der Evangelimann“ anvertraute. Jahre später holte sich unser heute in Gießen im Ruhestand lebender Regisseur und Schauspieler Karl Volck, das Ehrenmitglied unseres Theaters, der Jahrzehnte als „Papa Volck“ allen Kindern unserer Stadt vertraute „Märchenonkel“, Helga für die Rolle des Katers.

1936 beginnt unter Dagmar Zenner und Thea Maaß ihre Ausbildung als Tänzerin, bleibt .............  Jahre in Gießen, ist 1939 als Tänzerin in Wilhelmshaven und wird 1940 an Staatstheater in Oldenburg verpflichtet. In Wilhelmshaven ist man auf ihre starke Spielbegabung aufmerksam geworden, es beginnt ein intensives Gesangsstudium, da Helga ins Soubrettenfach übergehen will. Ihrer ersten Soubrettenverpflichtung, die sie nach Annaberg geführt hätte, kommt Helga nicht nach, da sie mittlerweile ins Fach Hausfrau gewechselt hat. Ihr Eheglück währt leider nicht lange. Ende März 1945 fällt der Jurist und Fliegerhauptmann Dr. Helmut Balser in Westfalen.

Der Krieg und seine Folgen verschlagen Helga und ihre beiden damals noch kleinen Jungens zusammen mit ihren Schwiegereltern, dem vor einigen Jahren verstorbenen Generalkonsul a. D. Balser und seiner Gattin, wieder nach Gießen. Unter Oberspielleiter Kurt Pscherers Regie hat die Künstlerin als Annemirl im „Fidelen Bauer“ wieder ihre Berührung mit der heimatlichen Bühne. Blättert man die Besetzungszettel der zwölf Spielzeiten durch, kann diese heimische Künstlerin auf eine lange Reihe gespielter Rollen und gesungener Partien zurückblicken. Um nur einige zu nennen: Die resolute Mascha im „Zarewitsch“, die liebenswerte Stasi in der „Csárdásfürstin“, die temperamentvolle Raka in der „Blume von Hawaii“, die energische Tante Liesa im „Feuerwerk“, die resolute Irma in „Meine Schwester und Ich“, die kluge „Feodora aus dem „Opernball“, nicht zu vergessen die sympathische Erikas aus der „Saison in Salzburg“ und die waschechte Pepi aus dem „Wiener Blut“, daneben Ottilie und Kathi, dem „Weißen Rössl“ entsprungen, und das Hannerl im „Schwarzwaldmädel“. Aus dem Bereich der Oper finden wir die Partien der Juno in Offenbachs „Orpheus“, den Pagen in „Rigoletto“, die Anina aus „Traviata“, die Erika im „Schwarzen Peter“, in Lortzings „Wildschütz“ sind die Nanett und in Donizettis „Liebestrank“ die Gianetta ihre Partien. Auch das Schauspiel greift nach Helga Balser, in Hauptmann „Ratten“, Zuckmayers „Fröhlichem Weinberg“ und Brechts „Gutem Mensch von Sezuan“ konnte Helga Balser ihre schauspielerische Begabung unter Beweis stellen.

Ein seltenes Talent ist der Künstlerin eigen, um das sie von vielen ehrlich beneidet wird. Sie hat die glückliche Fähigkeit, in plötzlichen Umbesetzungsfällen in kürzester Zeit zuverlässig und sicher einspringen zu können und zu übernehmen. Oft hat sie in den Jahren ihres Wirkens durch ihr Vertrauen in ihr Können und durch ihre Vielverwendbarkeit eine Vorstellung direkt gerettet, so dass ihr der nur auszeichnend gemeinte, freundschaftlich-kollegiale Scherzname „Frau Einsprung“ anhaftet.
Nach ihren weiteren Plänen befragt, hat sie ernstlich den Übergang ins Schauspiel ins Auge gefasst und nennt als erstrebenswertes Ziel die Charaktercharge, ein Fach, das ihrer Gestaltungsfreude und ihrer Spielbesessenheit weitgehend entspricht. Es bleibt zu wünschen, dass Helga Balser, ein Gießener Kind, die in ihrer Herzlichkeit und Bescheidenheit nie ein Star werden wollte, das bleibt, was sie ist: ein Stern in unserem Ensemble.

Die Theaterleute trafen sich am Theaterstammtisch im Café Deibel. Die Gagen waren damals sehr gering. Spendable Freunde des Theaters waren am Stammtisch hoch willkommen, ihnen wurde gerne ein Platz angeboten. Billiger war es, privat zu feiern. Im Halbschlaf hörte ich im Wohnzimmer die Kollegen und Muttis Ermahnungen, ihre Kinder schliefen im Nebenraum. Wenn Lothar mehr als ein Bier und einen Schnaps getrunken hatte, erzählte er gerne die Geschichte von seiner Mutter, die mit Kaiser Wilhelm II. ein Verhältnis gehabt habe. Er sei ein Sohn des deutschen Kaisers und stellte sich zum Beweis der Ähnlichkeit mit strengem Blick in Pose. Schauspieler!!

Oma Friedel hatte einen braunen Langhaardackel, genannt Jockel. Jeder Hund wurde von ihr verwöhnt und sie erwartete selbstverständlich von Jockel entsprechende Dankbarkeit. Lothar imitierte oft und gerne ihren Spruch: „Willst Du die liebe Oma Friedel beißen?“

Wie bei Schauspielern und Sängern üblich, wechselte Lothar nach wenigen Jahren das Theater. Er bekam ein Engagement am Theater Baden-Baden mit der Möglichkeit, auch beim Südwestfunk tätig zu werden. Bei einem Besuch in Baden-Baden lernte meine Mutter in der Theaterkantine die damals blutjunge Kollegin Antje Hagen kennen. Seit 2005 ist Antje Hagen in der ARD-Telenovela „Sturm der Liebe“ in der Rolle der Hildegard Sonnbichler zu sehen.

 


























 
 
 
 
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