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Familie Balser-Theobald


GERALD BALSER


Dipl-oec. Oberstudiendirektor

Verw.-Angestellte beim Regierungspräs.

Gerald

Gabriele

BALSER

FOCK

geh. 18.06.1982 in Gießen

verh. BALSER

* 25.04.1944

* 12.06.1968

Gießen

Gießen

Keine Kinder

 

 

Hochzeit von Onkel Hannes
Der Fall von Stalingrad stand noch bevor. Man glaubte immer noch an einen nahen Sieg. Mein Vater wollte vier Kinder. Warum nicht jetzt ein zweites Kind? Es geschah auf der Hochzeit seines „kleinen“ Bruders Johannes Balser mit Jutta Schimmelpfennig am 7. August 1943 in Soest. In der Kirche sang meine Mutter das Ave-Maria. Onkel Hannes und meine Mutter waren beide erst 21 Jahre alt, und sie verstanden sich prächtig. 

Meine Geburt
Meine Cousine Jutta bestätigt in ihren Berichten für ihre Familie meine Ausführungen: Am 25.04.1944 kam ich im evangelischen Krankenhaus in Gießen zur Welt, also 16 Tage vor ihrer Geburt. Ich kannte die pikante Geschichte bereits von meiner Mutter. „Man habe das junge Brautpaar hinter sich gelassen“, hatte sie mir einmal lächelnd erzählt. Der väterliche Freund von Onkel Hannes auf dem Hochzeitsfoto, Paul Esser, war auch gleichzeitig ein guter Freund meines Vaters und sogar einer meiner drei Patenonkel. Dies waren der jüngere Bruder meiner Mutter Werner Kannen, Ernst Volz (das Völzchen) und Paul Esser. Bei der Einreise nach Florida ruft mein vollständig ausgeschriebener Name "Gerald Werner Ernst Paul Balser" stets großes Erstaunen hervor.

Bombenangriff am 6. Dezember 1944
Amerikanische und englische Bomber brachten den Krieg nach Deutschland. Am Nikolaustag, dem 6. Dezember 1944, das Geschirr vom Abendessen stand noch auf dem Tisch, begann das Heulen der Sirenen, Fliegeralarm. Opa Kannen war auf diesen Moment vorbereitet. Die Familie flüchtete, aber nicht mit allen anderen in den offiziellen Luftschutzbunker im Amtsgericht, sondern ging nach unten in den eigenen Keller. Dem äußerst stabilen Gewölbe traute Opa größere Standfestigkeit zu. Er behielt Recht. Unser Haus wurde zwar völlig zerstört, aber der Keller blieb unversehrt. Dagegen hatte der Bunker im Amtsgericht einen Volltreffer erhalten. Es gab sehr viele Tote. Durch den starken Luftdruck wurden die Kellerfenster unseres Hauses eingedrückt. Steine flogen und brennendes Phosphor floss in den Keller. Ein dicker Brocken fiel Mitten in den Kinderwagen hinein. Gott sei Dank hatte mich meine Mutter vorher aus dem Wagen genommen. Jetzt musste sich die Familie vor dem Feuer retten. Opa Kannen hatte vorsorglich im Keller einen großen Bottich mit Wasser und Decken deponiert. Die Decken wurden ins Wasser eingetaucht und sich umgehängt. Opa Kannen nahm seine Schwiegermutter Huckepack, Oma Friedel den Henning bei der Hand und meine Mutter mich auf den Arm. So ging es raus aus der brennenden Ruine durch einen Funkenhagel über die Ostanlage am Amtsgericht, unterhalb der "Seufzerbrücke" vorbei in die Wieseckaue. Dort verbrachten wir die restliche Nacht.

 


Die Familie war ausgebombt, so nannte man dies damals. In einer Nacht hatten wir unser gesamtes Hab und Gut verloren und das war nicht wenig. Die Großeltern Balser hatten ihre Wohnung in Berlin aufgegeben und die wertvollen Möbel in der großen Wohnung ihres Sohnes Helmut in Gießen untergestellt. Dort gab es viel Platz und in dem unbedeutenden, kleinen Gießen glaubte man sie sicher. Am nächsten Morgen suchte Opa Kannen in der lebensgefährlichen Ruine nach Brauchbarem und fand lediglich eine, durch die hohe Hitze in der Glasur verbrannte Reliefvase aus der Ming-Dynastie. Die Vase hat mir Mutti zu meiner Hochzeit mit Gabi geschenkt. Gießen wurde in einer Nacht zu 80 % zerstört und nahezu unbewohnbar. Zum Vergleich: Dresden war „nur“ zu 60 % zerstört.

Die Apotheke in Stadtprozelten
Meine eigenen Erinnerungen beginnen erst ab dem Jahr 1947. Meine Berichte aus der Zeit direkt vor bzw. nach Ende des Krieges stammen von meiner Mutter und den Großeltern. Mein Vater hörte von der Vernichtung Gießens und bekam noch im Dezember 1944 Sonderurlaub für die Suche nach seiner Familie. Opa Kannen hatte an die verbliebene Häuserwand mit Kreide die Adresse der notdürftigen Bleibe auf dem Lande, in der Nähe von Gießen, geschrieben. In einer abenteuerlichen Fahrt in überfüllten Zügen, bei ständigen Fliegerangriffen brachte mein Vater unsere Mutter und uns Kinder Ende Dezember 1944 nach Stadtprozelten am Main.

Sein Onkel Ludwig-Conrad Theobald, Enis Bruder, war dort mit Enis Klassenka-meradin Ernestine, genannt Erna, verheiratet und besaß eine Apotheke. Das war ein großes Glück. Meine Mutter hatte sich durch den Aufenthalt in der feuchten Kälte der Wieseckaue in der Nacht nach dem vernichtenden Fliegerangriff Gießens am 6. Dezember 1944 eine schwere Krankheit zugezogen und der Onkel hatte die notwendigen Medikamente. Unsere Aufnahme bekam der Onkel allerdings durch Überweisungen meines Vaters versüßt. Als die Zuwendungen ausblieben, begann die Stimmung im Hause Theobald leider zu trüben. Meine Mutter wurde zur schwer arbeitenden Haushaltshilfe in absoluter Abhängigkeit. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass die kleine Familie als unnütze Kostgänger betrachtet wurden. Dazu hatte auch ich beigetrage. Wie auch immer es mir gelungen war, ich hatte die Kräutersammlung neu sortiert. Die ersten Monate nach Ende des Krieges waren sicherlich für alle sehr schwer. Jeder versuchte sich über Wasser zu halten. Trotz der zum Schluss weniger schönen Erlebnisse, war meiner Mutter klar, dass wir dem Onkel viel zu verdanken hatten.

Die Amerikaner hatten Anfang April 1945 den Main erreicht und marschierten auf den leisen Sohlen der Springerstiefel nach Süden. Die “Befreiung“ von den Nazis haben wir also nicht in Gießen, sondern in Stadtprozelten erlebt. Das deutsche Volk hatte große Schuld auf sich geladen. Wie würden die Sieger uns behandeln? Die Angst war groß, als Nazi eingestuft und bestraft zu werden. Alles, was im Haus Theobald an diese Zeit erinnerte, wurde rasch vernichtet, leider auch die Briefe meines Vaters an meine Mutter, weil sie oftmals mit „Heil Hitler“ endeten.

Nicht nur wir, viele Einwohner Gießens waren aus der zerbombten Stadt geflohen. Die Großeltern Kannen dagegen waren bei der Familie Paul in der Land-mannstraße untergekommen. Alle Häuser dort standen noch. Oma Friedel hatte zum Glück recht bald in der Grünberger Straße 30, im 1. Stock eine große Wohnung gefunden, wo es auch genügend Platz für uns gab. Opa Kannen organisierte einen Lastwagen mit Holzvergaser und brachte uns im Spätsommer 1945 wieder zurück nach Gießen.

Wenige Jahre vor ihrem Tod bin ich mit meiner Mutter nach Stadtprozelten gefahren. Sie wollte die alten Stätten noch einmal sehen. Auch mit meiner Gabi war ich vor kurzem nach einem Besuch von Würzburg in Stadtprozelten. Die Apotheke in der Hauptstraße existiert immer noch.

Nachricht vom Tod meines Vaters
Mein Vater war einquartiert auf einem großen Bauernhof bei Rhade in Westfalen, nördlich von Gelsenkirchen. Die Luftwaffensoldaten hatten keine Flieger mehr und mein Vater wurde zur Sprengung der Brücken nördlich des Ruhrgebiets eingesetzt. Meinem Vater stand ein Motorrad mit Beiwagen zur Verfügung. Bei der Rückfahrt am 26.03.1945 in die Unterkunft stürzte sich ein englischer Tiefflieger auf das Motorrad. Der Fahrer konnte sich noch rechtzeitig mit einem Hechtsprung in den Straßengraben retten, mein Vater dagegen kam nicht schnell genug aus dem Beiwagen heraus. Diese schlimme Nachricht erhielt meine Mutter erst - nach langem Bangen - im September 1945 von dem Kameraden meines Vaters. Nun hatte sie Gewissheit. Sie war mit 23 Jahren Witwe, Mutter von zwei Buben, drei und ein Jahr alt und als Ausgebombte mittellos. Der Fahrer berichtete, Ihr Ehemann läge unter einem Birkenkreuz in der Nähe seiner Unter-kunft, dem Bauernhof, begraben. Später wurde er, zusammen mit anderen Gefallenen, auf dem benachbarten Friedhof in Raesfeld-Erle umgebettet. Dort liegt er noch heute. Leider ist sein Geburtsjahr (1911) auf dem Krieger-Kreuz aus Sandstein falsch.

 


Selbstversorger
Die erste Aufbauleistung und auch Verantwortung lagen nun bei den Frauen, den sog. Trümmerfrauen. Oma Friedel war handwerklich geschickt und hatte die zu-packende Art einer Pionierin. Aus Militärstoffen nähte sie Kleider, aus Tischdecken Hemden, gegessen wurde aus dem Garten. An Weihnachten gab es Marzipan aus Gries. In Ruhephasen wurde gestrickt. Sie konnte aber auch Schuhe besohlen und Zimmer tapezieren. Oma Friedel war die Chefin der Familie. Zur Arbeit gingen nach dem Krieg nur die beiden Frauen. Opa Kannen war Frührentner und wurde zum Hausmann und Kindermädchen. Bargeld war knapp, jede Mark zählte. Wir Kinder sammelten Bucheckern und Kastanien. Beim Förster gab es dafür ein wenig Geld.

Wenn Opa Kannen aus dem Haus ging, dann an die Lahn in seinen Garten. Dort standen viele Obstbäume und Obststräucher, es gab aber auch Rabatten mit Gemüse. Obst und Gemüse wurden nicht gekauft. Aus heutiger Sicht hatten wir uns in der Zeit des Mangels gesund ernährt. Gekocht wurde nach Saison. Was am Baum übrig blieb, kochte Oma Friedel in Gläser ein. Im Winter gab es Sauerkirschen und Stachelbeeren aus dem Einmachglas, aber auch karamellisierte Bratäpfel frisch dampfend aus dem großen Küchenherd. Opa Kannen lagerte seine Äpfel der Sorte Goldparmäne und Boskoop im Keller in Holzgestellen auf Zeitungspapier.

Mit dem Leiterwagen hatte ich Opa Kannen oft begleitet. Onkel Ludwig war bereits im Garten. Opa Kannen wollte den Rest der Äpfel ernten, aber die Bäume waren leer. Von den Nachbarn erfuhr er, dass sein Schwager die Äpfel großzügig seinen Kindern geschenkt hätte. Der arme Onkel Ludwig wollte bei seinen Kindern glänzen. Der gutmütige Opa Kannen wurde rot vor Wut und es gab ein Gerangel, das sogar auf dem Boden landete. Onkel Ludwig appellierte lautstark an das Gewissen von Opa Kannen, einen armen schwachen Mann nicht zu schlagen.

Im Keller stand ein großes Fass mit Sauerkraut, das ein ganzes Jahr halten musste. Einmal kam ich dazu als Opa Kannen im Keller ein Huhn schlachtete. Er hielt den Kopf des Huhns über den Klotz, auf dem Holz gehackt wurde. Ohne Kopf raste das Huhn plötzlich durch den Keller. Opa Kannen hatte es nicht fest genug gepackt. Wir hatten einen Stallhasen, für den Henning und ich Futter sammelten und gerne fütterten. Irgendwann war der Hase weg. Den hätten wir bereits gegessen. Er hätte uns doch so gut geschmeckt. Danach gab es keinen Hasen mehr.

In der Waschküche stand über dem Herd eine große kupferne Schüssel. Oma Friedel benutzte die nicht nur zum Kochen der Wäsche, sondern auch zur Herstellung von Pflaumenmus und Hagebutten-Gelee. Neben der Grünfläche hinter dem Haus, der Bleiche, standen dicke Büsche Heckenrosen. Die Bleiche war auch unser Bolzplatz. In der mitgebrachten Kanne wurde bei Lebensmittelhändler Häuser in der Grünberger Straße unsere Milch gekauft.

Der Ring Fleischwurst vom Metzger Bös war unser Sonntagsbraten. Erst Jahre später wurde die Fleischwurst durch Schweine-Koteletts ersetzt. Das Abnagen der Kotelett-Knochen mochte ich fast lieber als das reine Fleisch, auch noch heute. Das Zuckerbrot war unsere Süßigkeit. Im Winter stellte ich mit Pfanne, Fett und Zucker meine Karamellbonbons selbst her. Die Großfamilie musste mit sehr wenig Geld auskommen. Für uns Kinder war es beim Einkaufen üblich, anschreiben zu lassen, d. h. Ware und Geldbetrag wurden vom Händler in einem besonderen Buch notiert.
Wir bezahlten - eigentlich ganz modern - mit „unserem guten Namen“, allerdings ohne Kreditkarte.

 

Für unsere Familie wurden die Zeiten sehr viel besser, als meine Mutter einen Arbeitsplatz am Buffet im amerikanischen Offiziersclub „Cup and Saucer“ in der Wilhelmstraße bekam. Sie hatte in der Schule Englisch lernen dürfen. Die Amis lebten im Überfluss, waren schon damals eine Wegwerf-Gesellschaft. Die deutschen Mitarbeiter durften am Arbeitsplatz so viel essen und trinken wie sie woll-ten und konnten, aber durften keine Lebensmittel mit nach Hause nehmen, auch nicht jene, die nicht verzehrt wurden. Dies wurde streng kontrolliert. Die Abfälle kamen auf eine Haufen, es wurde Benzin darüber gegossen und angesteckt. Wir Kinder kamen nicht zu kurz. Am Nachmittag schlichen wir uns zur Hintertür der Club-Küche und machten uns bemerkbar. Meine Mutter kam heraus mit  reichlich Eis und Kuchen. Der Manager übersah es beflissentlich. 

Die amerikanischen Soldaten waren ausgesprochen kinderlieb und auf unsere Frage “Do you have chewing gum“? gab es zunächst ein breites Grinsen und dann das Päckchen Kaugummi. Während des Manövers hörten wir Kinder schon das Gerassel der Panzerketten und liefen auf die Straße. Es war wie beim Kölner Karneval. Vom Panzer flogen keine Kamelle, aber Hershey´s Schokolade und Wrigley´s Kaugummi. Die Amerikaner beendeten sehr schnell das angeordnete Fraternisierungsverbot. Die GI´s hatten Glück bei den „German Fräuleins“, denn für die waren sie äußerst attraktiv. Die GI´s hatten eine ungezwungene, lässige Art, sahen gut aus und waren obendrein noch sehr spendabel. Große Konkurrenz hatten sie nicht, denn viele deutsche junge Männer waren im Krieg gefallen oder noch in Gefangenschaft. Im „Woodland-Club“ wurde, vor allem am Pay Day, die Nacht durchgefeiert.. Da hatten die jungen GI´s viel Geld und gaben es mit vollen Händen aus. Viele Gießenerinnen heirateten US-Soldaten und gingen mit nach Amerika. Die beste Freundin meiner Mutter, auch eine junge Kriegerwitwe, verliebte sich in einen sehr gut aussehenden amerikanischen Unteroffizier. Er hatte nichts gegen eine deutsche Tochter. Sie heirateten, er adoptierte die kleine Tochter und sie gingen zusammen zurück in seine Heimat. Dort bekamen sie noch einen gemeinsamen Sohn. Bei meiner großen Amerika-Rundreise im April 1978 durfte ich diese überaus freundliche und großzügige deutsch-amerikanische Familie in Lawton/Oklahoma besuchen, unvergesslich.

Für uns Kinder waren die amerikanischen Soldaten Freunde. Meine Generation empfand die GI´s keinesfalls als Besatzer. Die waren sehr freundlich und kinder-lieb. Sie prägten in gewisser Weise unsere Kindheit und Jugend. Für Kinder ohne Vater veranstaltete die Army wunderbare Weihnachtsfeste. Die Kinder durften so viel essen, wie sie wollten, und am Ende bekam jedes Kind noch ein schönes Weihnachtsgeschenk. Auch mein Bruder und ich hatten das Glück, eingeladen zu werden.


Die US-Soldaten brachten den „American Way of Life“ nach Gießen. Die 46er-Basketballer haben ihrem Ursprung in der Millerhall. Dort trainierten  die US-Soldaten und ließen interessierte deutsche Sportler mittrainieren. Später spielten US-Soldaten beim Basketballverein MTV Gießen sehr erfolgreich. Legendär in Gießen ist Ernie Butler, der sich 1962 den Basketballern des MTV anschloss. Zusammen mit Holger Geschwindner wurde er 1964 gegen den VfL Osnabrück deutscher Meister. Am 21.04.2024 feierte Ernie seinen 90. Geburtstag.

In der Ludwigstraße/Ecke Goethestraße stand das Amerika-Haus, eine Art Lese- und Filmraum mit angeschlossener Bibliothek. Der amerikanische Soldatensen-der AFN-Frankfurt war ein fester Bestandteil des täglichen Lebens, das „Deutsch-Amerikanische Freundschaftsfest“ auf dem Sportgelände der Millerhall (ehem. Volkshalle) sowie Woodland und Alpine Club waren Attraktionen. Hier gab es für sehr wenig Geld echte amerikanische Hamburger und Icecream (Vanille, Erdbeere, Schokolade) mit dem Holzlöffelchen aus der Papierschachtel. Eni war Mitglied im Deutsch-Amerikanischen Freundschaftsclub „die Brücke“. Zu Veranstaltungen des Vereins im amerikanischen Offiziersclub in der Rödgener Straße ging ich besonders gern. Das wunderschöne Gebäude lag abseits der Straße in einem parkähnlichen Gelände.

Im Nachbarhaus in der Grünberger Straße hatten Oleschs eine „Ami-Kneipe“. Natürlich gab es immer sehr viel mehr Soldaten als Mädchen in der Kneipe und folglich jedes Wochenende Zoff. Die amerikanische Militärpolizei ging mit den betrunkenen Soldaten nicht zimperlich um. Der Schlagstock war keine Dekoration. Die geschnappten Soldaten wurden in den Jeep geknallt und ab ging es in den Bau. Am nächsten Morgen in aller Früh haben Oma Friedel, Henning und ich die verlorenen Münzen eingesammelt.

Abenteuerspielplatz
Wir Kinder hatten kein Spielzeug, Fernsehen gab es noch nicht. Dennoch war es uns nie langweilig. Den langen Tag tobten wir zusammen in den vielen Trümmergrundstücken herum. Die waren unser Abenteuerspielplatz. Ich war der Jüngste. Unsere Freunde Ulli und Ernst waren Hennings Jahrgang. Ich musste froh sein, wenn mich die Älteren mitnahmen. So kostenlos war das für mich nicht. Beim Zielscheiben werfen mit herumliegenden Ziegelsteinen stand ich neben dem Ziel und musste es bei Treffern wieder aufbauen. Einmal bin ich nicht schnell genug zur Seite getreten. Vor der Pestalozzischule war ein großer Bombentrichter, den man auf dem Hosenboden, wir trugen alle Lederhosen, wunderbar runterrutschen konnte. Allerdings musste rechtzeitig abgebremst werden, denn ganz unten im Loch lagen Glassplitter. Einmal gelang mir dies nicht. Im Hochsommer barfuß im Klingelbach laufen, eine Wonne, aber nicht, wenn man in eine Glasscherbe tritt. Henning hatte es nicht leicht mit mir. Er musste mich jedes Mal zum Arzt schleppen. Aber sie hatten auch ihren Spaß mit mir. Sie schickten mich zum Wasserhäuschen, einem Kiosk an der Ecke zum Nahrungsberg, wo Henning heute wohnt. Ich sollte für 10 Pfennig „Hau-mich-blau“ kaufen. Henning und seine Freunde beobachteten voller Schadenfreude meinen misslungenen Einkauf. Da ich aber in der Nachbarschaft keine gleichalt-rigen Freunde hatte, durfte ich es mir mit ihnen nicht verderben.

Großeltern Balser zurück aus Japan
Erst im August 1948 durften meine Großeltern Japan verlassen. Opa Balser zählte als Generalkonsul in Japan bei den Alliierten als hoher Nazi und wurde erst einmal nach Ludwigsburg zur Entnazifizierung gebracht. Nur als Mitläufer eingestuft, war er nach zwei Wochen wieder frei. Opa Balsers Bruder, Onkel Edi, Arzt in Benzheim-Auerbach an der Bergstraße, nahm Schwägerin und Bruder auf. Im Frühjahr 1949 bekam Opa Balser an der TH Darmstadt einen Lehrauftrag für ostasiatische Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. Die Einkünfte ermöglichten ihm den Einzug in eine winzige Dachwohnung in Auerbach. Jeden Sommer verbrachten Henning und ich in Auerbach. Dort trafen wir auch unsere Cousine Inga und Onkel Conny. Vom Bahnhof Auerbach waren es nur wenige Meter entlang dem Ziegel-Bach zu Onkel Edis Haus. Unvergessen sind die Wanderungen zum Auer-bacher Schloss und durch das Odenwälder Felsenmeer. Onkel Conny stimmte die Lieder an. Opa Balsers Nachbarn, die Familie von Derschau, hatte eine Tochter in unserem Alter und vor allem einen großartigen Kirschbaum. Die Tochter trafen wir später auf der Darmstädter Hütte wieder. Gerne erinnere ich mich auch an den Besuch des Sulzbacher Hofs bei Weinheim mit den vielen Pfirsichbäumen. Obst war schon immer meine Leidenschaft. Eigentümer des Gutshofes war Enis Bekannter Professor Schmidt.

Pestalozzischule
1949 war die Hungerzeit endgültig vorbei. Gießen befand sich Mitten im Aufbau, war aber immer noch eine Trümmerstadt. Zur Arbeit gingen in der Grünberger Str. 30 nur die beiden Frauen, Oma Friedel und meine Mutter. Den Aufschwung ging an uns leider vorbei. Wir waren arm wie die Kirchenmäuse, aber wir Kinder wussten es nicht besser. Erst als unsere Großeltern Balser nach Gießen zogen, ging es uns besser, denn Opa Balser griff uns finanziell unter die Arme. Eni schreibt in ihrem Buch: „Als sich später die Frage erhob, ob wir nach Darmstadt oder Gießen übersiedeln sollten, entschieden wir uns für Gießen, um den vaterlosen Enkeln nahe zu sein.“ Im Jahr 1950 zogen die Großeltern Balser von Auerbach nach Gießen. Opa Balser hatte ganz in der Nähe der Großeltern Kannen und uns in der Wolfstraße 25 eine Wohnung gefunden. Sie lag im 2. Stock, hatte drei Zimmer und Wohnküche. Die Toilette war eine halbe Treppe tiefer. Ein Badezimmer gab es nicht.

Henning wurde mit sieben Jahren eingeschult. Wegen der Kriegsschäden konnte an der Pestalozzischule nicht früher unterrichtet werden. Er bekam wie jeder Erstklässler eine schöne, große Tüte mit Leckereien, aber nicht, wie er annahm, für sich allein. Bereits ein Jahr später im Jahr 1950 wurde auch ich eingeschult, eigentlich zu früh. Ich war ein eher verträumtes Kind und hatte am Lernen kein Interesse. Die meiste Zeit schaute ich zum Fenster hinaus. Alles andere war viel interessanter als Unterricht. Meine Leidenschaft war es, auf Bäume zu klettern. Die konnten gar nicht hoch genug sein.

Voll auf meine Kosten kam ich bei Onkel Karli auf der Darmstädter Hütte im Nordschwarzwald. Meine Hände klebten ständig wegen des Baumharzes der hohen Fichten. Besonders gern kletterte ich im Hochmoor auf die Enden der fast flach liegenden Kieferlatschen und schaukelte im Winde. Nur wenige Meter von unserem Haus in der Grünberger Straße entfernt stand ein hoher Birnbaum, mein Lieblingsbaum. In meinem Alter damals kam er mir sogar riesig vor. Dort im Wipfel saß ich stundenlang und beobachtete die Umgebung. Henning behauptet, ich habe Schutzmann gespielt und den Verkehr gelenkt. Dies tat ich tatsächlich, aber zusammen mit einem echten Verkehrsschutzmann an der Gabelung Grünberger und Licher Straße. Dort, wo heute das Dormann-Hochhaus steht, gab es im Freien, ohne Wetterschutz, eine mit der Hand zu schaltende Ampel-anlage. Den jungen Polizisten, mit dem ich fast täglich an dem großen Schaltkasten stand, habe ich im Frühjahr 2016 beim Bäcker Weller in Wieseck getroffen. Wir haben uns beide wiedererkannt und auch er konnte sich noch an unsere gemeinsame Zeit gut erinnern.

Meinen Klassenlehrer Wahl traf meine Oma Friedel zufällig auf der Straße und der erzählte ihr, dass ihr Enkel Gerald im Unterricht mit seinen Gedanken wo ganz anders wäre. Oma Friedel forderte ihn auf, mich wegen meiner Unauf-merksamkeit mit der dafür üblichen Ohrfeige zu bestrafen. Herr Wahl schüttelte nur den Kopf und meinte, das könne er nicht, der Gerald habe keine Bosheit in sich. Diese noble Haltung entpuppte sich als ein großer Fehler, denn meine schu-lischen Leistungen waren nicht berauschend und würden für einen späteren Besuch eines Gymnasiums nicht ausreichen.

Eni übernimmt das Kommando
Henning und ich waren gewohnt, in den Tag hineinzuleben. Für uns war mit Enis Erscheinen die große Freiheit zu Ende. Sie mischte sich sehr massiv in unsere Erziehung ein. Meine Mutter war darüber froh. Sie empfand Eni als eine Entlastung, denn sie wurde im Grunde mit uns nicht fertig. Außerdem füllte Eni in unserer Erziehung eine Lücke. Meine Mutter sagte immer, „Oma Friedel ist für die Herzens- und Eni für die Geisteserziehung zuständig“. Bei den Balsers hieß meine Großmutter Tebchen, eine Kurzform von Theobald. Wahrscheinlich gefiel ihr dieser Kosename nicht und sie erfand ihren eigenen. Sie erklärte mir, Eni hätte sie dem schweizerischen Äni – die Ahnen – entnommen und diese Bezeichnung etwas umgewandelt.

Wenn es sein musste, wurde Eni richtig listig. Weil Henning und ich wenig Lust hatten, in den Schwimmunterricht zu gehen, schickte sie uns ins Kino, den Gloria Palast neben dem Volksbad. Am Ausgang passte sie uns ab und so lernten wir mit der Schwimmbüchse auf dem Rücken bzw. an der „Angel“ das Schwimmen. Eni war der Mittelpunkt der Familie Balser. Bei ihr lernten wir in den Sommerferien die Kinder von Onkel Karli, unsere Cousine Inga und unseren Vetter Peter kennen. Der hieß eigentlich als ältester Balser seiner Generation traditionell Karl August. Bei Eni gab es Programm und sie achtete auf Pünktlichkeit. Wir unternahmen mit ihr viele Tagesfahrten, aber nie ohne einen historischen oder kulturellen Hintergrund, z. B. in das Senckenberg Museum in Frankfurt und nach Worms. Unsere Erlebnisse schrieben wir in ein Büchlein und beklebten die Seiten mit ausgeschnittenen Bildern und Eintrittskarten.

Ehepaar Zillich und die Darmstädter Hütte
Meine Leistungen in der Schule wurden eher schlechter. Eni zog im Sommer 1952 die Notbremse. Sie wollte durch eine Rückstufung von der 3. in die 2. Klasse meine verfrühte Einschulung ausgleichen.  Dies geschah nicht sofort, sie  schickte mich für drei Monate zu Onkel Karli auf die Darmstädter Hütte. Dort sollte ich meine Faulheit durch Gewöhnung an Arbeit beseitigen. Auf der Hütte lebte das schon ältere Hausmeisterehepaar Zillich. Dort war ich tatsächlich gar nicht faul, ich half Herrn Zillich mit meinen acht Jahren fleißig bei der Arbeit. Der eigene Kasten klare Limonadensprudel war mein Statussymbol. Woran ich mich ebenfalls noch gut erinnere, weil es mir besonders viel Freude bereitet hatte, waren die Fahrten mit dem Eselskarren. Es gab keinen Teerweg, auf dem man mit dem Auto auf die Hütte hätte fahren können. Das Gepäck der Gäste bzw. die Waren für die Hütte holte ich mit meiner Eselin vom Ruhestein ab. Gretel war, für einen Esel untypisch, folgsam und gar nicht bockig. Herr Zillich hatte mich nicht als Faulenzer erlebt. Er erkannte, dass ich nicht faul war, sondern an Schule einfach kein Interesse hatte.

Zurück nach Gießen übernahm mich meine neuer Klassenlehrer Haas. Der war streng, aber gerecht. Er ließ mir wenig Spielraum, meinen Gedanken nachzugehen und - Siehe da! - meine Leistungen in der Schule schnellten nach oben. Am Ende der 4. Klasse stand dem Übergang ins Gymnasium nichts entgegen.

 

Fußball versus Tennis
Wie alle kleinen Jungs waren Henning und ich begeisterte Fußballer und traten mit Erlaubnis unserer Mutter 1955 dem VfB 1900 Gießen bei. Ich wurde in die D-Jugend eingestuft. Wir waren stolz auf unser VfB 1900-Trikot und auf unsere Fußballschuhe mit Stollen. Mitten im Training tauchte Eni auf dem Sportplatz auf und rief uns entgegen „jetzt ist Schluss mit dem Proletensport“ und schleppte uns nur wenige Meter weiter zum Tennisclub Rot-Weiß. Henning und ich bekamen Trainer-Stunden bei Herrn Lang. Am Clubleben nahmen wir nicht teil. Das exklusive Getue lag uns nicht. Dem Tennissport blieben wir immerhin bis zum Einzug von Henning 1962 zur Bundeswehr treu. Ich hätte mir einen neuen Partner suchen müssen, dazu hatte ich keine Lust. Heute ist Henning wieder Mitglied beim VfB 1900 und aktiv im Förderverein tätig. Er ist fußballverrückt und verpasst kein Heimspiel. Auf dem Spielplatz fällt er wegen seiner imposanten Erscheinung, sondern auch wegen seiner lautstarken Rufe in Richtung Schiedsrichter auf.

Opa Balsers früher Tod
Opa Balser hatte am Wochenende eine schwere Nacht. Er nahm die Zeichen aber nicht ernst genug. Eni durfte den Arzt nicht rufen. Er verwies auf seinen Vater, der als Arzt häufig unnötig nachts bzw. sonntags gerufen wurde. Am Montag wäre noch Zeit genug. Mitten im Unterricht kam der stellvertretende Schulleiter mit ernstem Gesicht in meine Klasse, die VI/5, und entließ mich nach Hause. Opa Balser war am Morgen des 27. Februars 1956 im Balserischen Stift gestorben. Ich blieb bei Eni noch weitere vier Jahre, bis meine Mutter in der Walltorstraße eine eigene Wohnung mit Henning und mir bezog. Danach wurde für Eni die Wohnung zu groß. Sie zog um in die Memeler Straße. Die acht Jahre bei Eni haben mich sehr geprägt, aber auch umgekehrt habe auch ich Eni beeinflusst. Sie hatte das Glück, im fortgeschrittenen Alter noch einmal einen Sohn zu haben, ich war ihr „Knucki“ und im hohen Alter stellte sie mich schon einmal als ihren Sohn vor.

Ein eigenes Bad
Im Jahr 1960, Opa Balser war bereits tot, entschied sich Enis Vermieter zu einem Anbau mit Bad und Toilette. Neben der freistehenden Badewanne gab es einen hohen runden Wasserbehälter, der mit Öl beheizt wurde. Eine Warmwasser-Leitung gab es nicht. Das Heizöl wurde im Keller aus einem großen Tank abgezapft. Für mich kam die Badewanne gerade zur rechten Zeit, denn Levi´s Jeans kamen in Mode und die mussten richtig eng sein. Ich zog mir meine neuen Jeans an und stieg für mehrere Minuten in das sehr heiße Wasser in der Badewanne. Danach saß die wie angegossen.

 

Hochzeit von Hannerl in Darmstadt
1956 waren wir zur Hochzeit von Tante Mariechens jüngster Tochter Hanna Hofmann (Hannerl) mit Ernst Aßmus in Darmstadt eingeladen. In der Orangerie trafen sich die Vertreter aller drei Stämme des Urgroßvater Balser. Viele Verwandte sah ich zum ersten Mal. Man musste mir die Verwandtschaftsverhältnisse erklären. Wer geborener Balser war oder nur angeheiratet, konnte ich unschwer erkennen. Die Balsers sahen sich alle ähnlich. Angefreundet hatte ich mich mit meinem fast gleichaltrigen Vetter zweiten Grades Herwart Schmidt, dem Sohn der Lieblingscousine meines Vaters, Lotte Hofmann, und seiner jüngeren Schwester Birte. Herwart habe ich später auf der Darmstädter Hütte erneut getroffen. Er ist in die Fußstapfen unseres gemeinsamen Urgroßvater Balser getreten und wurde Arzt. Er hatte die zurückhaltende, bescheidene Art der Balsers geerbt und - was den Urgroßvater Balser sehr gefreut hätte - als einer der wenigen das Talent und den Wunsch zum Arztberuf. In Ruhpolding hat er seit Jahren eine eigene Praxis.

Henning, als der älteste Vertreter seiner Generation, wurde verdonnert, eine Damenrede zu halten. Mit der Unterstützung von Onkel Hannes und eines Gläschen Sekts hatte er sich gut geschlagen. Als Tante Mariechen starb, versetzte sie mit ihrem letzten Willen den Töchtern einen gehörigen Schock. Als Arzttochter wusste sie, dass es in der Arztausbildung immer ein Mangel an Leichen gab und hatte ihren Leichnam der Anatomie vererbt.

Onkel Ernst Volz
Zur Zeit meiner Geburt war es üblich, den Kindern zusätzlich zu ihrem Rufnamen noch die Vornamen ihrer Paten zu geben. Der volle Name auf meinem Geburtsschein lautet Gerald, Werner, Ernst, Paul Balser. Bei der Einreise in die USA habe ich viel zu schreiben. Werner heiße ich nach dem jüngeren Bruder meiner Mutter, Werner Kannen. Ernst Volz und Paul Esser waren alte, gute Freunde meines Vaters aus Darmstadt. Paul Esser ist im Krieg gefallen.

Mit Völzchen, wie der kleine Ernst Volz genannt wurde, hatte Eni Kontakt aufgenommen. Er war Kaufmann und hatte als selbständiger Handelsvertreter ein Auto. Als Junggeselle hätte er sicherlich Zeit für uns, dachte sich Eni und bat ihn, uns auf die Darmstädter Hütte zu fahren. Ich fuhr zum ersten Mal in einem Auto. Für mich war diese Fahrt ein einschneidendes Erlebnis. Auf der Autobahn bis Baden-Baden war alles noch gut gegangen. Danach fuhr man die wunderschöne Strecke der Schwarzwaldhochstraße. Alle waren von der schönen Landschaft begeistert, nur ich war es nicht. Ich musste erfahren, dass mir die kurvenreiche Strecke nicht bekam. Nach wenigen Kilometern war ich kalkweiß im Gesicht und musste mich zum Übergeben ganz schnell aussteigen. Noch heute bin ich ein schlechter Beifahrer. Autofahren vertrage ich nur, wenn ich selbst hinter dem Steuer sitze. Bei meinen Flügen nach Florida oder bei Flügen mit Eddis Privatflugzeug geht nichts ohne Reisetabletten. Auf ein Schiff wage ich mich erst gar nicht. Henning hat damit keine Probleme. So ungerecht ist die Welt.

Familie Mampf
In den Sommerferien 1957 fuhr ich mit meinen gerade einmal 13 Jahren ganz allein auf die Darmstädter Hütte. Meine Mutter brachte mich zur Bushaltestelle in der Licher Straße, den Rest schaffte ich locker allein. Ich kannte die Strecke auswendig. Der Zug brachte mich nach Baden-Baden. Dort musste ich umsteigen in einen Triebwagen nach Baden-Os und dann mit dem Post-Bus die Schwarzwaldhochstraße hoch bis zur Haltestelle Ruhestein. Von da ging es zu Fuß auf die Darmstädter Hütte.

Auf der Hütte lernte ich eine Gruppe junger Darmstädter Studentinnen und Stu-denten, die „Familie Mampf“, kennen, die sich ihren Aufenthalt auf der Hütte durch Arbeit verdienten. Sie nannten sich „Mampf“ wegen ihres durch die schwere körperliche Arbeit entwickelten Appetits. Ebenfalls auf der Hütte war Marion Ortelli aus Berlin. Die Großmutter unseres Opa Balser, Karoline Balser, war eine geborene Ortelli aus Weimar. Deren Vorfahren stammten aus Griante am Comer See. Bei Marion konnte man das Italienische noch erkennen. Sie war eine hübsche, dunkelhaarige junge Frau mit dunklen Augen und bemutterte mich ein wenig. Es war mir nicht unangenehm. Eines Abends, nach einem heißen Tag, verabredete sie sich mit der Familie Mampf zum Baden im Wildsee und nahm mich mit. Mit Taschenlampen ausgestattet ging es über den weichen Moorboden des Latschenwäldchens runter zum See. Ich hatte in der Eile meine Badehose vergessen. Die hatte allerdings niemand mit. Mein erstes FKK-Erlebnis im Mondschein. Sehr spannend für einen Dreizehnjährigen.

Herderschule
In Gießen gab es im Jahr 1955 mehrere Gymnasien. Das Alte Realgymnasium, eine reine Jungenschule, klang modern, fortschrittlich und schien für mich die richtige Schule zu sein. So dachten aber nicht nur die Großeltern Balser. Die Schule platzte bei den vielen Anmeldungen aus allen Nähten. Für mich lief es an dieser Schule so lange gut, wie mein Großvater Balser lebte. Mit seinem überraschenden Tod im Februar 1956 (ich war fast 13 Jahre alt) wurden die Zeiten für mich deutlich schlechter. In der Sexta und Quinta war meine schlechteste Schulnote  die „befriedigend“. In der Quarta (1956/57) blies mir der Wind ins Gesicht.

Dem neuen, jungen Schulleiter Wilhelmi – er war der jüngste Gymnasial-Schulleiter Hessens – passte wohl die ganze Richtung nicht. Nach außen wurde im Jahre 1956 die neue Richtung durch die Änderung des Schulnamens von „Altes Realgymnasium“ in „Herderschule“ verdeutlicht. Anscheinend wollte er mehr Klasse als Masse. Wir, der Jahrgang darüber und die Jahrgänge darunter, waren sechszügig. Die neue Herderschule bestand aber nur aus dem einen Gebäude di-rekt an der Ludwigstraße. Natürlich war das Schulgebäude viel zu klein. Meine Klasse war ausgegliedert in dem dahinter liegendem Gebäude der Liebigschule. Warum hat die Schulleitung so viele Schüler aufgenommen?

Die Schule fing an, gründlich auszusieben. Fördern war fortan an dieser Schule ein Fremdwort. Mein Lateinlehrer, ich war 13 Jahre alt und ging in die Quarta (7. Klasse), ein Österreicher aus Linz an der Donau, prahlte damit, sollten die Rus-sen kommen, ihn mit seinen Russischkenntnissen aus der Kriegsgefangenschaft könne man sicher gebrauchen. Er hatte die Angewohnheit, zu Beginn des Unter-richts Vokabeln abzufragen. Theatralisch holte er sein Notenbuch aus der Ja-ckentasche und begann mit der Suche nach einem geeigneten Kandidaten. „Balser!“. Ich musste sofort aufstehen. Und in den Gang zwischen den Bänken treten. Er tat so, als suche er nach einer Vokabel. Ließ dies aber sein und sagte zu mir im strengen Ausdruck und Ton, „Setz Di nieder, bist a Fuscher, kriegst a Fünferl“. Die Klasse war vor Schrecken starr, im Raum wurde es mucksmäus-chenstill. Jeder hatte Angst davor, der nächste zu sein.

Die Auswahl der drangsalierten Schüler überließ die Schule offensichtlich nicht dem Zufall. In die engste Auswahl kamen all jene Schüler, die von Dorfschulen kamen. Die nächste Kategorie waren die Kinder ohne Vater, bei denen man mit wenig oder keinem Widerstand rechnen konnte. War der Vater Arzt oder Rechtsanwalt oder sogar Kollege bestand für den betreffenden Schüler kaum eine Gefahr. Am Ende des Schuljahres 1958/59 blieb über die Hälfte meines Jahr-gangs und der entsprechend anderen überfüllten Jahrgänge sitzen. Dies war sogar der Bildzeitung eine Schlagzeile wert. Auch ich gehörte zu den Unglücklichen. Die Schule hatte mich wegen einer einzigen, zweifelhaften fünf in Latein abgesägt. Viele, viele Jahre später erfuhr ich von einem ehemaligen Mitschüler und Leidensgenossen, dass unser Lateinlehrer nach seiner Pensionierung in seine Heimatstadt Linz an der Donau zurückgekehrt sei. Er konnte sich das Grinsen nicht verkneifen als er mir berichtete, dass dieser dort nach nur kurzem Aufent-halt von der Straßenbahn überfahren wurde und verstarb. Im neuen Schuljahr kam ich mir gar nicht wie ein Sitzenbleiber vor, denn sehr viele meiner Klassenkameraden traf ich in der neuen Klasse wieder. Aber es hörte nicht auf. Zwar schaffte ich die Versetzung in die Untertertia, aber dann war  es wieder so weit. War es zwei Jahre zuvor nur ein einziger Lehrer, so waren es jetzt sehr viele, von denen wir täglich den Spruch hörten „dann gehe doch ab auf die Mittelschule“.

Ich bekam etwas, was ich früher überhaupt nicht kannte, Schulangst. Mir wurde morgens übel und ich musste mich häufig übergeben. Der Hausarzt konnte wahrscheinlich nichts finden und diagnostizierte vorsichtshalber eine Magenschleimhautentzündung. Ich wusste, was mein Problem war, schämte mich aber, es zu offenbaren.

Eine Rollkur wurde verordnet. Erst nach einigen Wochen war ich stabil genug, um am Unterricht wieder teilnehmen zu können. Meine Mutter hatte mich als Kind wegen meiner leichten Speckansätze Dicki genannt. Davon war ich nun weit entfernt. Durch meine Krankheit hatte ich viel Unterrichtsstoff verpasst. Die schlimmen Verhältnisse an der Schule waren unverändert. An dieser Schule zu bleiben, machte für mich keinen Sinn. Mit dieser Erkenntnis ging ich im Sommer 1960 zu Eni und habe sie gebeten, mich von der Schule zu nehmen. Wer aber nimmt denn einen nach Aktenlage gescheiterten Schüler? Niemand, außer dem Schulleiter Keil der Mittelschule in Wieseck.

Konfirmation
Der "Alte Friedhof" mit der bezaubernden Kapelle in der Licher Straße war uns Kindern allgegenwärtig. Für mich hatte dieser große Park mit den großen, alten Bäumen nichts von einem Friedhof, obwohl die vielen zum Teil stolzen Grabstät-ten nicht zu übersehen waren. Dass einer der berühmtesten Söhne Gießens Prof. Röntgen dort ein bescheidenes Grab hatte, wusste ich damals nicht. Halte ich aber für keine Schande. Als Lehrer konnte ich immer wieder erfahren, dass viele, auch ältere Gießener Schüler, Röntgens Grab nicht kennen. Auch Justus von Lie-big ist bei den Schülern weitgehend unbekannt. Die Schuld will ich aber nicht bei den Schülern suchen. Ihre Unkenntnis macht nur darauf aufmerksam, wie stief-mütterlich die Stadt Gießen mit ihren berühmten Söhnen umgeht. Wetzlar mit ihrem Goethe ist da viel geschickter. Noch heute besuche ich gerne, insbesonde-re im Frühjahr, wenn der Boden ein einziger Blumenteppich ist, den Alten Fried-hof. Während sich bei schönem Wetter die Gießener den Schwanenteich bevölkern, ist man am Alten Friedhof fast allein. Von der Kapelle aus kann ich Hennings Wohnung Am Nahrungsberg und unsere frühere Wohnung in der Grünberger Straße sehen. Da werden Erinnerungen wach. Unvergessen bleibt die riesige Blutbuche vor der Friedhofsmauer. Die weit herunterhängenden Äste dienten mir als Schaukel, der leichte Hang hinauf zum Lutherberg war im Winter meine Rodelbahn und zugleich Idiotenhügel bei meinen ersten Versuchen auf Skiern.

Ja, die Friedhofskapelle! Es hat für die Familie Balser eine besondere Bedeutung. Es beginnt mit meinem Ur-Ur-Großvater Daniel Balser. Er war in Gießen Schulleiter einer Mädchenschule, der späteren Ricarda-Huch-Schule, und gleichzeitig mit halber Stelle Pfarrer und Frühprediger in der Stadtkirche.  Das Kapellchen hatte damals noch keine eigene Gemeinde. So kam es, dass Daniel Balser dort vor allem bei Beerdigungen predigte. Seine 17 Jahre jüngere Ehefrau, Karoline, geb. Ortelli, liegt am Ende des Fußweges, wenige Meter entfernt vom oberen Ausgang, vor der Friedhofsmauer begraben. Eni hatte vor dem Grabstein mit dem großen christlichen Kreuz eine Gedenktafel für unseren in den letzten Kriegstagen gefallenen Vater aufgestellt. Als Kind habe ich mit einem feinen Pinsel und Silberfarbe die verwitterte Schrift nachgemalt. Unser Großvater ist den romantischen Fußweg von der Kapelle zum Gemeindezentrum am Lutherberg sehr häufig und gerne gegangen. Großvater Balser saß im Kirchenvorstand.

Nicht nur mein Bruder Henning und ich, auch unsere Mutter wurden im Kapellchen konfirmiert. Die Zeit für die Vorbereitung zur Konfirmation war für mich, im Gegensatz zu Henning, lästig. Ich hatte genügend Probleme in der gymnasialen Herderschule und brauchte nicht unbedingt eine zweite Auswendiglernschule. Das brachte mich in eine peinliche Situation, denn unser Großvater hatte sich mit Pfarrer Bernbeck angefreundet und ich als sein Enkel hatte damit Stress. Bei Herrn Bernbeck blieb meine ablehnende Haltung nicht unentdeckt und er ahnte wohl Schlimmes. Ganz gegen seine Gewohnheit verriet er mir alle Prüfungsfragen und bat mich inständig, die für jeden Konfirmanden obligatorischen, frommen Verse auswendig zu lernen. Dazu hatte ich keine Lust, zumal mir mit meinem schlechten Gedächtnis dies auch sehr schwerfiel. Um nicht anstatt eines Vortrages, Schweigen zu erzeugen, habe ich mir die Verse auf einen Zettel notiert, sie mir in die Jackettasche gesteckt und dann einfach vorgelesen. Ich beobachtete bei den in der Kapelle anwesenden Gemeindemitgliedern wohlwollendes Schmunzeln, bei den Mitkonfirmanden ein kaum zu unterdrückendes Gelächter und bei Pfarrer Bernbeck ein Gesicht des Entsetzens.

Handball-Septett
Handball war meine Lieblingssportart. Ich spielte Handball in der Schule, beim MTV Gießen und privat in der Freizeit im selbst gegründeten Septett. Das Septett war ein Freundeskreis, gegründet ursprünglich aus verschiedenen Klassen der Herderschule. Dazu gehörten Jan (Immobilien München), „Jacky“ Jürgen (Steuerberater), „Ecki“ Eckhard (Hess. Finanzministerium), Gerd (Prof. Dr. med.) und Günter (Urologe). Der Einzige, der von uns an der Herderschule blieb und dort sein Abitur schaffte war Gerd.

Im Jahr 1962 erlitt ich leider während eines Spiels eine Verletzung an der linken Hand. An zwei Finger waren die Sehnen gerissen. Operiert wurde ich im evangelischen Krankenhaus. Nach dem Ziehen der Stifte, blieb der obere Teil der Finger trotz intensiver Massage und Übungen leicht steif. Ich kann noch heute mit der linken Hand keine Faust ballen. Zu einer Befreiung vom Militärdienst verhalf mir diese Verletzung nicht. Bei der Musterung wurde ich gerade noch als diensttauglich eingestuft. Vor einem halben Jahr hatte ich anfangen, Gitarre zu spielen. Damit war leider Schluss. Mit Handball auch.

 

Bei Mutti in der Walltorstr. 57
In der Bundesrepublik war der wirtschaftliche Aufschwung nicht zu bremsen. Deutschland war an wachsenden Wachstumsraten gewohnt. Auto und Fernseher waren nicht mehr ein Zeichen von Reichtum. Uns hatte die Wirtschaft anscheinend vergessen. In der Grünberger Straße bei Oma Friedel wohnten wir immer noch als Großfamilie: mein Bruder Henning mit meiner Mutter, auch Onkel Ludwig und Opa Kannen. Ich lebte bei Eni in der Wolfstr. 25.

Meine Mutter war bereits 38, Henning 18 und ich 16 Jahre alt, als sie beschloss, mit ihren zwei Jungen endlich eigenständig zu leben und sie suchte für uns in Gießen eine moderne Zweizimmerwohnung mit Bad und Küche. Für meine Mutter, die bei Oma Friedel kostenfrei lebte, war dies bei ihrem armseligen Gehalt ein mutiger Schritt. Der Familienrat wurde einberufen. Eni und Oma Friedel waren bereit, uns zu unterstützen und willigten ein. Opa Kannen verkaufte seinen Garten an der Lahn und Onkel Hannes spendierte die moderne Küchenzeile mit eingebautem Brotschneider.

Herr Brückel von der Druckerei Herr bot meiner Mutter eine Wohnung mit zwei Zimmern und großem Balkon, einer Küche einem Bad mit Badewanne und Toilette, in der Walltorstraße 57, im 3. Stock an. Ein Fahrstuhl war vorhanden. Im Frühjahr 1960 zogen wir in die Walltorstraße. Die beiden Zimmer lagen leider hintereinander und mit einer Tür verbunden. Henning und ich schliefen im hinteren Zimmer, Mutti auf der Schlafcouch im Wohnzimmer. Jeden Abend musste sie sich ihr Bett bauen. Unsere Wohnung wurde von Besuchern bestaunt, denn meine Mutter hatte ihre moderne Stringwand und der aus dem Offizierskasino geretteten wuchtigen Couchgarnitur mit Enis kunstvoll geschnitzten China-Schrank, asiatischen Bilder und Accessoires geschmackvoll kombiniert.

Mittelschule Wieseck
Im Herbst 1960 verließ ich die Herderschule und wechselt in die Mittelschule nach Wieseck. Rektor Keil und mein Klassenlehrer begleiteten mich an meinem ersten Schultag zu meinem Klassenraum in einem flachen Anbau der Roten Schule. Als ich in den Raum trat, dachte ich, ich wäre wieder in der Herderschule gelandet. Die Hälfte der Klasse waren ehemalige Herderschüler die so schlau waren, diese unmögliche Schule schon vorher zu verlassen. Man begrüßte mich mit großem Hallo. Lehrer Kunz wollte gerade eine Klassenarbeit schreiben und bat mich dreißig Minuten auf den Schulhof zu gehe. Mitzuschreiben hätte wohl keinen Zweck. Als ich an der Tür rief er mich zurück. Und nun erlebte ich etwas für mich außergewöhnliches. Herr Kunz bat mich doch hinzusetzten. Wenn ich die Klassenarbeit verhauen würde, landete sie in den Papierkorb. In der nächsten Woche betrat Herr Kunz mit ernstem Gesicht den Klassenraum. „Gerald, was soll ich denn mit dir nur machen?“ Ich bekam einen Schreck. Sollte es in Wieseck so weitergehen? „Du hast die beste Arbeit geschrieben. Warum bist du denn eigentlich hier in Wieseck?“

Die eineinhalb Jahre an der Mittelschule in Wieseck waren für mich wie ein Aufenthalt im Paradies. Die Lehrer waren Pädagogen, die den Schülern bei Schwierigkeiten halfen und keine Sadisten waren, die nur aussortierten. Die ehemaligen Herderschüler hatten alle, wie auch ich, dort eine Klasse wiederholen müssen und natürlich waren wir auch älter. Handball war unser Lieblingssport und wir wurden sogar Gießener Schulmeister.

Unser Vermieter Brückel hatte für mich einen Job in unserem Hause, in seiner Druckerei Herr. In den Sommerferien 1961 wurde ich für drei  Wochen eingestellt, in einem kleinen Kellerraum, die dort gelagerten, verbrauchten Setzbuch-staben zu schmelzen. In dem Raum stand ein Ofen, mit dem das Blei geschmolzen und anschließend in Formen zu Barren gegossen wurde. Herr Brückel hatte nicht mit meinem Fleiß gerechnet. Nach bereits zwei Wochen war ich mit meiner Arbeit fertig. Im Anbau des Erdgeschosses gab es einen hellen Raum, in dem ausschließlich Frauen mit dem Bearbeiten von Papier, z. B. Aufstoßen und Falten, beschäftigt waren. Hier setzte er mich in der letzten Woche ein, bat mich allerdings eindringlich, den Frauen nicht meinen Stundenlohn zu verraten. Die wurden nämlich deutlich schlechter bezahlt als ich. Erst später wurde mir klar warum, die Arbeit mit Blei war nicht gerade gesundheitsfördernd.

Meinen Klassenlehrer Richard Tölg werde ich nie vergessen, ihm bin ich ewig dankbar. Er hatte erkannt, was in mir steckte, mich seelisch und moralisch wieder aufgebaut und gefördert. Seine Frau begleitete ihn bei unserer Abschlussfahrt nach Berchtesgaden. Frau Tölg war eine ausgesprochen liebenswerte Person und ich mochte sie sehr. Für mich war es eine Selbstverständlichkeit, bei den Wanderungen ihre Provianttasche zu tragen. Für Frau Tölg dagegen nicht, denn bei späteren Treffen erwähnte sie dies immer anerkennend.

Von Herrn Tölg kam der Hinweis auf eine Schule in Gießen, die Wirtschaftsoberschule (WO), die auch Schüler mit dem Abschluss der Mittelschule in ihre gymnasiale Oberstufe aufnahm. Voraussetzung war ein gutes Abschlusszeugnis und das Bestehen der Aufnahmeprüfung. Die Prüfung bestand aus den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik und war offensichtlich nicht ganz einfach, da ein Großteil der Bewerber sie nicht bestand. Herr Tölg bereitete mich und noch weitere vier Mitschüler auf die Prüfung in kostenlosen Stunden seiner Freizeit vor. Wir waren alle fünf ehemalige Herderschüler. Dieser vorbildliche Lehrer hät-te es verdient, Namensgeber einer Schule zu werden. Die Arbeit mit Herrn Tölg trug Früchte, alle Wiesecker bestanden die Prüfung.

Das Gießener Stadttheater hatte im Sommer sechs Wochen Spielzeitpause. In dieser Zeit waren die Angestellten und Künstler arbeitslos. Meine Mutter musste jeden Morgen zum Arbeitsamt, um sich ihren Stempel abzuholen. Dies nannte man Stempelngehen. Die wenigen DM bekam man in die Hände gedrückt. Wer nicht kam, bekam an diesem Tag, ohne Entschuldigung, kein Stempelgel. Meine Mutter hatte in dieser schweren Zeit, Schwierigkeiten ihre Miete zu bezahlen.

In den Osterferien 1962, nach meiner mittleren Reife, bekam ich eine Job bei der Bau-Firma Carl Freytag in der Ostanlage. Meine Baustelle lag fast neben der Roten Schule in Wieseck. Die Arbeit auf dem Bau – und insbesondere auf solch einer kleinen Baustelle – war harte, körperliche Schwerstarbeit, denn es gab keinen Krahn. Als Hilfsarbeiter musste ich den Maurern die Stein herantragen. Der Lkw, voll beladen mit Zement-Säcken, wurde von Hand entladen. Den Speis habe ich in einer großen Wanne, wegen des fehlenden Mischers, mit der Hand anrühren müssen.  Ich wurde allerdings sehr gut bezahlt. Die Bauarbeiter kamen alle vom Dorf und sprachen in ihrem Platt permanent von „erwen“. Ich zerbrach mir fast den Kopf, was die alle zu erben hätten, bis ich erkannte, dass die „arbeiten“ meinten.

Zur Arbeit fuhr ich mit dem Fahrrad. Nach Feierabend traf ich meine Mutter in der Walltorstraße. Sie erkannte mich so dreckig und speckig in meiner Arbeitskleidung nicht. Zum Abendessen fuhr ich öfter zu Oma Kannen. Die wohnte inzwischen in einer kleinen Wohnung am Ludwigsplatz. Einmal bin ich vor Müdigkeit auf der Couch eingeschlafen. Als ich wach wurde, war es bereits dunkel und Oma Friedel zur Abendvorstellung im Theater. Die Haustür war verschlossen, in die Wohnung zurück konnte ich nicht mehr. Mir fiel ein, dass die Hintertür zum Hof ein kleines Regendach hatte. Durch ein Flurfenster konnte ich auf das Dach steigen und wollte mich langsam herunterlassen. Noch fast im Schlaf verlor ich das Gleichgewicht und fiel mit der Seite auf den Teerboden. Zuerst bekam ich keine Luft und befürchtete schon das Schlimmste. Ich muss beim Fallen sehr locker gewesen sein, denn ich hatte mir nichts gebrochen.

Henning arbeitete zur gleichen Zeit bei einem Bierverlag in der Braugasse als Bierkutscher. Mit einem Teil seines Geldes hat er den ersten Fernseher der Familie gekauft. Unsere Mutter wurde im Sommer während der Spielzeitpause des Theaters immer arbeitslos und musste stempeln gehen. Konkret hieß dies, sie musste täglich beim Arbeitsamt ihr geringes Arbeitslosengeld abholen. Die Barauszahlung wurde durch eine Stempelung quittiert. Henning und ich gaben unserer Mutter einen großen Teil unseres schwer verdienten Lohns zur Bezahlung der Wohnungsmiete. Wir waren stolz, zur Ernährung der Familie beitragen zu können

 

Tanzschule Bäulke
In Gießen ging die Jugend zu Bäulke in die Tanzschule. Mit 17 Jahren gehörte ich 1961 zu den Jüngeren. Die „Damen“ waren im Schnitt zwei Jahre jünger als die „Herren“. Für die Eltern war die Tanzschule ihrer Kinder richtig teuer. Die mussten nicht nur die Kursgebühren, sondern auch Anzug und Ballkleid für den Mittelball bzw. Abschlussball kaufen.

Star der Mädchen unseres Kurses war Karin. Sie war ihrem Alter weit voraus und für uns irgendwie unerreichbar. Die „Herren“ wurden von den Bäulkes aufgefordert, rechtzeitig eine Tanzpartnerin für den Ball einzuladen. Zwei Termine vor dem Mittelball wurde geprüft, wer noch keinen Partner hatte. Ein schüchterner Junge hatte sich noch nicht getraut und – wir konnten es nicht glauben – Karin hatte man erst gar nicht gefragt. Jeder dachte, die ist schon vergeben.

Jan und Elisabeth
Mit Jan bin ich viele Jahre in die Schule gegangen. An der Herderschule haben wir uns angefreundet. An Lernen hatte Jan genauso wenig Interesse wie ich. So verwundert es nicht, dass wir den Bestrebungen der Herderschule nicht viel entgegenzusetzen hatten und gemeinsam die Quarta wiederholen mussten. Jan hatte zwar noch einen Vater. Die Eltern waren aber geschieden und als Arzt in Hersfeld war der Vater außer Reichweite. Jan war der jüngste von drei Söhnen. Sein ältester Bruder war mit bereits 18 Jahren nach Südafrika ausgewandert. Jans Mutter war apostolisch und wohnte ganz in der Nähe der apostolischen Kirche in der Ederstraße. Mit Frömmigkeit und Artigkeit hatte Jan allerdings wenig zu tun.

Sein Bruder aus Afrika war zu Besuch. Bei ihm hatte er ein Heft mit nackten Frauen entdeckt und gut versteckt. Die Pin-Up-Girls hatte er uns in den schillerndsten Farben geschildert. Als sein Bruder wieder abgereist war, lud er uns Jungs zu sich ein. Erwartungsfroh beobachteten wir Jan in seinem Versteck stöbern. Laut schrie er nach seiner Mutter. Das Heft war weg. Diesen Schmutzkram hätte sie vernichtet.

In der Plockstraße gab es ein Café, wo Billard gespielt wurde. Das fanden wir in-teressant und verbrachten dort viel Freizeit. Unserem Schulleiter gefiel dies gar nicht und ließ uns in seinem Geschäftszimmer antreten. Nach einer Strafpredigt, dass ein solches Lokal nichts für Gymnasiasten sei und wir den guten Ruf der Schule schädigten, bekamen wir ganz offiziell das „Consilium abeundi“.

Mit Jan war ich gemeinsam in der Tanzstunde bei Bäulke und wir waren beide Mitglieder im Handball-Septett. Er war ein sehr guter Sportler. Noch einige Monate vor mir gab Jan auf und verließ die Herderschule. Seine Mutter suchte nicht lange nach einer öffentlichen Schule, sondern meldete ihn bei der privaten Vogt´schen Handelsschule an. Auf der WO trafen wir uns nach der mittleren Rei-fe wieder. Die WO sollte sein Schicksal werden. Hier lernte Jan Elisabeth kennen. Elisabeth wirkte mit ihren mandelförmigen Augen ein wenig exotisch. Wir nannten sie „cat eyes“. Jan war ein sehr gut aussehender, sportlicher junger Mann und hatte bei den Mädchen Erfolg. Die Eroberung der immerhin fast zwei Jahre älteren Liz empfand Jan als Triumpf. Er konnte allerdings nicht ahnen, dass er mit 18 Jahren die Frau seines Lebens gefunden hatte.

In der Oberprima wurde Liz schwanger. Damals war dies ein Grund, die Schule verlassen zu müssen. Ein Jammer, denn Liz war eine gute Schülerin und dies so kurz vor dem Abitur. Damals wurde man erst mit 21 Jahren volljährig. Vorher durften die Beiden nicht heiraten. Sohn Ralf erzählte seinen Spielkameraden stolz, dass er bei der Hochzeit seiner Eltern Blumen gestreut habe. Jan ging ab von der WO und machte bei der Firma Mettler eine Lehre zum Industriekaufmann. Schon früh verließ er mit Familie Gießen und wurde in München ein erfolgreicher Immobilienmakler. Noch heute ist er geschäftsführender Gesellschafter der Immobilien-Firma MPM. Anfang 2018 erreichte mich die Nachricht vom plötzlichen Tod Elisabeths.

 

Beeindruckende Mädchen und Parwaneh
Meine Freizeit im Sommer verbrachte ich zumeist im Freibad Ringallee. Ein ausgesprochen hübsches Mädchen in einem schönen Bikini fiel mir auf. Sie war sehr häufig im Schwimmbad. Ich sprach sie an. Sie hieß Gabriele und hatte es nicht weit, denn sie wohnte genau gegenüber in der Ringallee. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch und verbrachten viel Zeit miteinander.

Auch ihre Mutter Gertrud lernte ich kennen, eine tüchtige, kluge Frau, die als Alleinerziehende von ihrer Wohnung aus per Telefon Bestellungen der Apotheken an die Firma Fresenius übermittelte.

Gabriele war im Gegensatz zu mir eine sehr gute Schülerin mit literarischen Interessen und wirkte bereits sehr erwachsen. Sie war 1962 erst 14, aber ich bereits 18 Jahre alt. Jetzt fiel mir zum ersten Mal auf, dass ich Kindskopf bisher ohne Ehrgeiz und Ziel in den Tag hineingelebt und mich nicht sehr viel weiterentwickelt hatte. Trotz meiner 18 Jahre kannte ich mich in Liebesdingen nicht aus, ich wagte noch nicht einmal einen Kuss in der Öffentlichkeit. Mutti war im Theater, Henning unterwegs. Die Gelegenheit war günstig, da ging die Wohnzimmertür auf. Henning war zurück. Ende der Vorstellung.

Vier Jahre Unterschied sind in diesem Alter sehr viel. Ich hatte damit eigentlich kein Problem. Mein Freund Jan dagegen war nur am Lästern. Seine Freundin war sogar etwas älter als er. Am Ende der Schwimmbadsaison sprach ich mit Gabriele und bat um Verständnis. Es wäre eigentlich auch in ihrem Sinne, bei diesem großen Altersunterschied die Beziehung zu beenden. Nach einigen Tagen rieb ich mir die Augen. Gabriele hatte einen neuen Freund, den auch ich kannte. Er war Zahnarzt und – nicht zu fassen – 20 Jahre älter als sie. Erst jetzt wurde mir klar, dass es kein Zufall war, mich im Beisein von Gabriele anzusprechen. Ich nahm mir fest vor, zukünftig nichts auf die Meinung anderer zu geben. Nach dem Abitur heiratete Gabriele und bekam zwei Söhne.

Viele Jahre später wurden mir von einem Kollegen schöne Grüße ausgerichtet. Er hatte Gabi auf einem Lehrgang kennengelernt. Sie sei Lehrerin und wohne in Frankfurt. Im September 2018, wenige Tage vor meinem traditionellen Urlaub in Florida, erhielt ich von Gabi eine E-Mail. Sie schrieb aus einer unklaren Stimmung heraus „Alterssentimentalität? Ich bin jetzt auch schon 70...“  hätte sie meinen Namen im Internet eingegeben, ohne genaue Erwartung - und zu ihrer Überraschung  - tauchte sofort ein Artikel im Gießener Anzeiger über mich auf. Dadurch wäre sie auf meiner Website gelandet und habe mit Interesse über meinen beruflichen Werdegang gelesen.

Eine ähnliche Erfahrung machte ich noch im gleichen Jahr mit Karen Mann, der Enkelin von Enis Bridgedame Frau Reisinger. Ihre Tochter hatte nach dem Krieg einen Engländer geheiratet und lebte in Ghana. Karens Eltern suchten für sie eine geeignete Schule in England. Bis zum Beginn des nächsten Schuljahres wohnte Karen bei ihrer Oma in Gießen. Die beiden alten Damen meinten, uns verkuppeln zu müssen. Karen war trotz ihrer gerade einmal 14 Jahren eine faszinierende, welterfahrene Persönlichkeit. Sie sprach neben Englisch, fließend Deutsch und Italienisch. Ihr Onkel hatte eine Italienerin geheiratet und arbeitete in Rom bei der Alitalia. Ich hätte wahrscheinlich in ihrem Alter die Freizeit zum Faulenzen genutzt, Karen tat dies nicht. Sie besuchte an der Berlitz School einen Italienischkurs, um ihre Sprachkenntnisse weiterhin zu verbessern. Auweia, wieder so eine Überfliegerin. Ich musste mich richtig ins Zeug legen. Karen war noch mehrere Male zu Besuch bei ihrer Oma in Gießen. Danach habe ich sie aus den Augen verloren.

Kathleen Vance aus Scanactady im Staat New York war meine erste Brieffreundin. Sie war die Schülerin im Fach Deutsch von Frau Pestel, der amerikanischen Ehefrau von Prof. Pestel. Deren Sohn Robin war in meinem Alter. Ich hatte mich gerade mit Karin angefreundet, da kündigte sie ihren Besuch in Gießen an.

Mit dem damaligen Billigflieger "Icelandic Airlines" flog sie über Reykjavik nach Luxemburg. Mit dem Zug fuhr ich nach Luxemburg, um sie am Flughafen abzuholen. Mit dem Shuttle-Bus ging es nach Frankfurt. Dummerweise hatte ihr Flieger mehrere Stunden Verspätung. Wir verpassten den letzten Nachtzug nach Gießen. Geld für eine Übernachtung im Hotel hatte ich nicht. Ich musste als 18jähriger mit dem todmüde 14jährigen Mädchen in Frankfurt herumgeistern bis der erste Zug fuhr. Für uns beide ein Abenteuer. Die 14 Tage gewohnt hat sie bei Eni in meinem ehemaligen Zimmer. Auch Kathy war blitzgescheit und sprach bereits recht gut deutsch. Ihre für uns etwas befremdlichen amerikanischen Essgewohnheiten fielen meinem kleinen Vetter Christian auf: „Kathy, du schmatzt ja!“, platzte es aus ihm heraus. Viele Jahre später besuchte ich Kathy auf meiner USA-Rundreise in Vancouver. Sie arbeitete als Dozentin in Deutsch an der Uni, war verheiratet und hatte einen Sohn, den sie sehr verwöhnte.

Meine Mutter war mit einem persischen Ehepaar befreundet. Huschang und Parwaneh wohnten mit ihren zwei goldigen Kindern, Ali (5) und Elahe (3), ge-genüber von Oma Friedel im Hochhaus Dach Café. Sich kennengelernt hatten sie durch Elahe. Die Kleine stand im Fenster und machte meine Mutter durch Tanz auf sich aufmerksam. Karen und ich durften mit den Kindern am Schwanenteich spazieren gehen. Mit ihren dunklen Locken und den großen braunen Augen fielen die Beiden damals auf. Fremde Menschen fragten uns, woher wir die Kinder hätten. Ali ist Physiker und lebt in England, Elahe ist bei München mit einem Banker verheiratet.

Saint-Tropez
In den Sommerferien 1962 fuhr ich mit zwei Freunden nach Saint-Tropez an die Cote d`Azur. Unser Auto, ein Fiat Neckar Weinsberg 500, ein Winzling von 3,09 m Länge, hatte nur zwei Türen. Auf dem Dachgepäckträger lag unser Zelt. In Saint-Tropez fielen wir drei jungen Burschen mit dem winzigen Auto unter den Rolls-Royce, Mercedes und BMW sofort auf (Der Neupreis damals lag bei knapp 4.000 DM. Heute als Oldtimer ist er unter 30.000 € nicht zu bekommen.). Am nächsten Morgen marschierten wir als erstes an den Strand und dort machten wir große Augen. Bei unserer Ankunft war es bereits dunkel gewesen und wir hatten uns nichts ahnend den Campingplatz zum FKK-Strand ausgesucht.

Ein Ehepaar mit zwei Mädchen winkte uns und bot uns Tee zum Frühstück an. Es waren nicht Adam und Eva, sondern Engländer mit einer kleinen Tochter und ihrem Au-pair-Mädchen. Diese war nicht viel jünger als ich und wir freundeten uns an. Leider war nach knapp einer Woche wieder Schluss. Die Familie fuhr zurück nach England.

Ramatuelle, ein kleines Künstlerdorf oberhalb von Saint-Tropez war der Geheimtipp. Hier gab es eine zur Kneipe ausgebaute ehemalige Scheune. Stammgast war eine sehr reiche Holländerin mittleren Alters. Um sie herum schwänzelten einige junge Männer und buhlten um ihre Gunst. Geld schien bei ihr keine Rolle zu spielen, denn die Lokalrechnung übernahm die spendable Dame. Der Urlaub im teuren Südfrankreich entpuppte sich für mich als sehr preisgünstig. Am Ende des Urlaubs brachte ich fast die Hälfte meines Budgets wieder mit nach Hause.

Hennings Partys
Eine Kneipenkultur, wie sie heute selbstverständlich ist, gab es damals in der Universitätsstadt Gießen noch nicht. Studentenlokale, in denen auch getanzt wurde, entstanden erst später. Dafür wurde eifrig zu Hause Party gefeiert. Der Partykeller war sehr in Mode. Den hatten wir nicht, also wurden Hennings Partys in der Wohnung gefeiert. Ich kannte seine Klassenkameradinnen und Klassenkameraden sehr gut und durfte mitfeiern. Zuvor schafften wir Platz und stellten die Möbel um bzw. räumten die leicht zerbrechlichen Wohnaccessoires weg. Meine Mutter ließ sich vor Mitternacht nicht blicken. Heute kann ich es kaum glauben, dass sie uns das in ihrer schönen neuen Wohnung erlaubte. Mit Hennings Abitur und sein Weggang zur Bundeswehr im Frühjahr 1962 war die Party-Phase beendet.

Ferdinand Dux
Wir beiden Brüder hielten immer zusammen und schützten uns gegenseitig. Meine Mutter erzählte gerne amüsiert folgende Geschichte: Wir waren noch kleine Buben als Henning sich mit einem Nachbarsjungen heftig stritt und es schließlich zu Handgreiflichkeiten kam. Ich stand daneben und immer, wenn der Nachbarsjunge mit dem Rücken zu mir stand, habe ich ihm kräftig in den Hintern getreten. Es hätte ausgesehen wie in einem Stummfilm von Charly Chaplin. Ernster wurde es in der Walltorstraße unweit unserer Wohnung. Zwei junge Männer hielten uns spät abends an und ohne Vorwarnung bekam ich einen Faustschlag ins Gesicht und fiel zu Boden. Henning stellte sich dazwischen und zückte drohend sein Messer. Daraufhin ließen sie von mir ab und verschwanden. Oben in der Wohnung saßen der Schauspieler Ferdinand Dux und seiner Frau, die Ballettmeisterin des Gießener Stadttheaters. Ferdinand war der Typ kerniger Seemann. Als er mein blaues Auge sah, ließ er seine Muskeln spielen und bedauerte es sehr, nicht dabei gewesen zu sein.

Scarabee, Lascaux und Haarlem
Studentenlokale, in denen auch getanzt wurde, entstanden erst spät. Der erste Studentenkeller in Gießen war das Scarabee im Riegelpfad 8, benannt nach dem heiligen Käfer und Glücksbringer der Pharaonen. Der Name war Programm, denn der Keller war mit orientalischen Sitzkissen und niedrigen, bearbeiteten Messingtischen ausgestattet. Geschäftsführer war der Ägypter Muri. Alles traf sich ab 1962 im Scarabee, auch wir Oberstufenschüler. Es gab nichts anderes. Geld war bei mir knapp. Ein Fläschchen Bier musste den ganzen Abend reichen. Als melodischer Rausschmeißer und Abschiedslied wurde der Song „I wonna go home“ gespielt. Mit der Zeit wurde das Scarabee Kult. Künstler, wie Udo Lindenberg, Otto Walke und Marius Müller-Westernhagen landeten bei ihren Auftrit-ten in Gießen im Scarabee. Wer bereits um 20:00 Uhr ausgehen wollte, der fand im Scarabee gähnende Leere. Erst ab 10:00 wurde es richtig voll. Dann verlagerte sich aus Platzmangel die Scene auch vor der Eingangstür. Der Ruf der Studentenkneipe wurde leider mit der Zeit schlechter. Leichte Drogen hatten Einkehr bei den Studenten genommen. Legendär ist die Polizeirazzia mit Güterzug am 31. August 1973. Direkt gegenüber vom Scarabee verlief die Neben-Gleislinie nach Grünberg. Beteiligt waren 200 Uniformierte, darunter auch die US-Militärpolizei. Es war bis heute die größte und spektakulärste Razzia der Stadt Gießen. Das Scarabee nannte sich zwar Studentenkeller, aber ein Studentenausweis war nicht nötig. Damals war Gießen eine große amerikanische Garnisonsstadt und die spendablen GI´s waren bei den klammen Studenten im Scarabee sehr beliebt. Für die Razzia hatte man den letzten Tag im Monat bewusst gewählt, denn der war bei den GI´s „Pay Day“. Dann war das Scarabee proppenvoll und die keinen Platz fanden, tummelten sich vor der Eingangstür bis zum Essig-gässchen. Die Razzia hat dem Scarabee sehr geschadet und seiner inzwischen großen Konkurrenz, dem Haarlem einen Kick gegeben.

Ich hatte mein Abitur und Zeit bis zur Einberufung der Bundeswehr nach Schwarzenborn. Der junge Chef der Sattlermeisterei Grölz im Wiesecker Weg war dabei, das Haarlem zu eröffnen. Das Lokal befand sich im Keller der Schanzenstr. 9, eher neben einer ehemaligen Tankstelle versteckt mit einem nicht gerade einladenden Eingang zum Grundstück. An einen Erfolg dieses Lokals konnte ich nicht glauben. Herr Grölz war in Zeitdruck und brauchte dringend Hilfskräfte. So konnte ich mir leicht gutes Geld verdienen und Teilhaben an der Entstehung des schließlich erfolgreichsten Studentenkellers in Gießen. War man Single und suchte einen Partner, gab es keinen besseren Ort als das Haarlem. Meine langjährige Freundin Ulla, meine geschieden Frau Ina und meine Frau Gabriele habe ich alle im Haarlem kennengelernt. Aber auch als Paar ging man gerne ins Haarlem. Auch hier begann der eigentliche Lokalbetrieb erst um 22.00 Uhr. Dann war die Luft noch ganz angenehm. Danach wurde es für mich als Nichtraucher unerträglich. Der Zigaretten-Qualm war so dicht, dass man sein Gegenüber kaum sah. Während die kleine Flache Bier im Scarabee üblich war, waren im Haarlem die Liter-Flasche Apfelwein und der Apfelkorn angesagt. Es fand sich immer einen  Spender, der die Flasche kreisen ließ.  Das Haarlem gibt es seit 2021 nicht mehr. Dort steht heute ein B&B-Hotel.

Zwischendurch, ich war noch Schüler der WO, gab es das Lascaux. Es befand sich im Keller einer Ruine in der Bahnhofstraße. Die Wände waren dem Original in Frankreich nachempfunden und auch entsprechend bemalt. Gut im Gedächtnis blieb mir dieser Studentenkeller wegen meines Chemielehrers „Onkel“ Müller, der nur von der Höhle sprach. Das Lascaux gab es nur wenige Jahre, dann wurde die Ruine wieder aufgebaut.

Wirtschaftsoberschule (WO)
In der Wiesecker Schule hatte ich mich auf die Absolvierung einer Lehre als "Technischer Zeichner" eingestellt. Nun verlängerte sich meine Schulzeit erneut. Ich hatte wieder am Nachmittag frei und viele Ferien. Die Bekanntschaft mit den beiden klugen, tüchtigen Mädchen Gabriele Brück und Karen Mann hatten meine Einstellung zur Schule und Bildung immerhin verändert.

Die neue Erkenntnis umzusetzen, war aber nicht ganz einfach, denn in meiner Klasse der WO saßen mit mir viele, die diese Entwicklung noch vor sich hatten. Die WO war für uns eine zweite Chance, doch noch zum Abitur zu kommen. Die hohe Hürde war die 11. Stufe. Wer die schaffte, war in einem sicheren Hafen. Unseren Klassenlehrer, Josef Swoboda, hatten wir in allen kaufmännischen Fächern. Lediglich in dem Fach Kaufmännisches Rechnen wurden wir von Frau Preibisch unterrichtet. Der „Swob“ war sehr genau und wirkte streng. Seine Strenge war wahrscheinlich nur äußerlich, denn er gab bei einer mangelhaften Note in der Klassenarbeit immer eine zweite Chance durch eine mündliche Prüfung an der Tafel. Bei Erfolg war die schlechte Note ausgeglichen. Als ehemaliger Buchhalter in Böhmen achtete er auf strenge Einhaltung der Buchführungsregeln einschließlich der Buchhalternase. Mit den Namen seiner Schüler nahm er es nicht so genau. Balser konnte er sich nicht merken. Bei ihm hieß ich Basler und aus Holaschke machte er Holascheck.

Mit Herrn Swoboda unternahmen wir in jedem Schuljahr eine Klassenfahrt. Die erste führte nach Österreich an den Achensee (Maurach) und die zweite nach Allensbach an den Bodensee. An unserer Abschlussfahrt nach Hamburg konnte ich leider wegen Krankheit nicht teilnehmen. Die Vorbereitung auf das gefährliche Pflaster Hamburg war bereits die Wucht und mündete in dem Satz: „Horchens Herrschaften, gehen´s nicht in die Buffs!“. Gefürchtet war unser Mathematiklehrer Walda. Ich erinnere mich noch genau an seinen Auftritt in der ersten Stunde. Er baute sich vor der Klasse auf, sagte kein Wort und schüttelte nur den Kopf. „Ein Drittel werden die Versetzung nicht schaffen“, kam schneidend aus ihm heraus. War ich erneut an der Herderschule gelandet? Nein, dies war nur seine Methode, unseren Fleiß anzustacheln. Beim Mathe-Abitur hatte er uns sogar richtig gut auf die Prüfungsfragen vorbereitet. Udo Jäckel, der sich zum Mathe-Ass entwickelte, war sein Lieblingsschüler und seine Zuneigung strahlte positiv auf die gesamte Klasse.

In Englisch hatten wir Herrn Ruthsatz. Englisch mochte ich allein schon wegen der beliebten amerikanischen Schlager. Mein Lieblingssender war der AFN Frankfurt. Sein Ehrgeiz war es, mich in seinem Fach auf eine zwei zu bringen. Schenken wollte er mir die Note nicht. Meine Lieblingsfächer waren Geschichte und Sozialkunde. Unser Lehrer (auch in Deutsch) war der junge Hans-Peter Krieg. Henning kannte Herrn Krieg bereits aus dessen Zeit als Referendar am LLG. Herr Krieg war Junggeselle und wohnte noch bei seiner Mutter im Ostpreußenviertel. Er war es gewohnt, dass das Hoftor aufstand, wenn er zu seiner Mutter zum Mittagessen fuhr. Einmal hatte sie vergessen, das Tor zu öffnen.

Unser Spanischlehrer, Herr Dr. Schulz, war ein sehr sportlicher Typ. Er war Leichtathletiktrainer beim VfB 1900. Leider übte Herr Dr. Schulz nur wenig oder genauer gesagt gar keinen Druck auf uns aus und er geriet über unsere schlechten Noten im 1. Halbjahr regelrecht in Panik. Dr. Schulz führte uns vor, wie man sich spanische Vokabeln bzw. kleine Sätze einpaukt. Dabei marschierte er schnellen Schrittes auf die Wand zu in Richtung Eingangstür, sprang mit einem Fuß dagegen, drehte sich in der Luft und marschierte in die entgegengesetzte Richtung. Diese spektakuläre Prozedur vollzog er erneut an der gegenüberliegenden Wand. Wir waren fasziniert, aber nicht unbedingt überzeugt. Gerettet hat uns ein ehemaliger Schüler von Dr. Schulz, bei dem wir auf dessen Empfehlung Nachhilfeunterricht nahmen. Plötzlich schrieben wir in Spanisch gute Noten. Im Laufe der drei Jahre wurde sein Unterricht immer erfolgreicher und unser Interesse an Spanisch immer größer. Alle mochten Ihn. Für mich als Autofan bleibt Dr. Schulz allein schon wegen seines NSU Ro 80 unvergessen.

Besonders auffällig war der Chemielehrer Robert Müller, genannt Holzbein Müller oder Onkel. Der hatte einen eigenen, trockenen Humor. Ihn brachte nichts aus der Ruhe und er nahm seine Schüler gerne einmal auf die Schippe, ohne bösartig zu werden. Sein Markenzeichen war seine oberhessische Mundart, die er ganz langsam und gedehnt sprach, seine Sprüche und die Anrede Onkel. Ulli Ferbers Interesse an seinem Chemieunterricht war eher mäßig und so schaute er gerne zum Fenster hinaus. „Der Ferber macht widder die Lokomotiiivführer-Prüfung, er guckt zwei Stunne ausem Fenster oooohne was zu denke“. Ich konnte ihn und er konnte mich gut leiden und trotz bescheidener Leistungen hatte ich in Chemie eine 3. „Na Onkel Balser, warst´de widder in de Höööhle“? fragte er mich, bevor ich zum Abfragen des Stoffes der letzten Stunde an der Reihe war. Mit Höhle meinte er das damals unter Schülern und Studenten beliebte Kellerlokal „Lascaux“. „Na, ja kommst des nächste ma dra“. Dann war ich sehr gut vorbereitet. Ganze Schülergenerationen der WO erkennen sich gegenseitig an dessen Sprüchen und Tonfall.

Fräulein Kuranski – auf die Anrede Fräulein legte sie großen Wert - hatte ich in Erdkunde. Sie saß gerne kess auf dem Lehrertisch und schaute mit ihren wasserklaren Augen in die Runde. Sie hatte eine exzellente Rhetorik und beeindruckte durch ihr Fachwissen. Ihr Ton konnte aber sehr scharf und bissig werden. Mit ihr sich anzulegen, war zwecklos. Ich war auf ihrem 80. Geburtstag im Dach Café eingeladen. Dort hielt sie in freier Rede eine Ansprache, die jedem Bundestagsabgeordneten zur Ehre gereicht hätte. Mit 90 Jahren kam sie noch im eigenen Auto zum Ehemaligentreffen. Auf meine Frage, ob sie nicht ihren Führerschein freiwillig abgeben wolle, sagte sie regelrecht empört „Wo denken Sie hin, wie anders soll ich denn einkaufen?“ Ich erzählte ihr, dass ihr Unterricht über die Windnamen in Europa und meine Kenntnisse darüber, mir bei der Namengebung der neuen VW-Modelle sehr geholfen hätten. Dass der Name Scirocco auch ihr Name wäre. An diesen Unterricht konnte sie sich nicht mehr erinnern.

An der WO wurden wir sogar in Stenografie (Herr Haustein) und Maschinenschreiben unterrichtet. Ich weiß, dass einige Mitschüler später an der Uni von ihren Fertigkeiten profitierten. Ein ehemaliger WO-Schüler machte daraus sogar ein Geschäft. Er schrieb die Vorlesungen in Steno mit, übertrug den Text mit der Schreibmaschine in Reinschrift und verkaufte die Vorlesungen. Leider hatte ich Steno durch mangelnde Anwendung bald vergessen und von Maschinenschreiben war ich aufgrund meiner Handverletzung befreit.

Praktika
An der WO war ein kaufmännisches Praktikum von drei Wochen Pflicht. Dies absolvierte ich in der kaufmännischen Verwaltung der Werkzeugmaschinenfabrik Heyligenstaedt. Ich erlebte mit dem Einsatz von Lochkarten die ersten Anfänge der EDV. Die sortierten Lochkartenstapel wurden in genormten Holzkästen aufbewahrt und zu meiner Belustigung vom Bürotrottel umgekippt. Ein Praktikant hatte kein Anrecht auf eine Bezahlung. Bei meinem zweiten freiwilligen Praktikumsplatz in der kaufmännischen Nebenstelle der Firma Mannesmann, hatte ich Glück. Mannesmann bezahlte mich für die leichte Arbeit richtig gut. Das Geld wollte ich mir nicht entgehen lassen und bat um ein weiteres Praktikum. Die Geschäftsleitung war damit einverstanden. Die Stelle hatte ich auf Vermittlung eines ehemaligen Klassenkameraden an der Herderschule bekommen, dessen Vater Leiter der Filiale war.

 

Bei Souls in Welwyn Garden City
Auf Anregung meines Englischlehrers Ruthsatz verbrachte ich meine gesamten sechs Wochen Sommerferien 1964 bei Enis englischen Freunden in Welwyn Garden City nördlich von London. Geoffrey B. Soul war Bankdirektor, seine Frau Ivy versorgte Haus und Garten. Die Kinder waren bereits aus dem Haus, für mich gab es also viel Platz. Welwyn Garden City ist eine Schlafstadt von London, ohne Hochhäuser oder gar Industrie. Mit der S-Bahn fuhr man in wenigen Minuten in die Londoner City. Mein wichtigster Begleiter war ein schwarzer Stockschirm. Vielleicht hat es deswegen in den sechs Wochen meines Aufenthaltes in London kein einziges Mal geregnet. Bis auf die Wochenenden fuhr ich regelmäßig mit der S-Bahn in die Londoner City. Die Strecke kannte ich im Schlaf und die Londo-ner City wie meine Westentasche. Geoffrey und Ivy kümmerten sich am Wo-chenende rührend um mich, ohne mich einzuengen. Mit seinem viertürigen „Maxi“ unternahm Geoffrey mit mir am Wochenende einige Ausflüge bzw. fuhr mit Ivy und mir zum Picknick. Am Sonntag gab es zu Mittag Rinderbraten. Der Hausherr schnitt am Tisch den Braten in Portionen.

Im Hydepark traf ich ein Mädchen, das ich glaubte, im Schwimmbad Ringallee in Gießen gesehen zu haben. Sie war mir durch ihr amerikanisches Aussehen aufgefallen. Ich sprach sie an, es stimmte. Sie staunte nicht schlecht und schien sich zu freuen, in London nicht mehr allein zu sein. Sie war in Gießen amerikanische Austauschschülerin gewesen und bereits auf dem Rückweg in die USA. Am nächsten Tag besuchte ich einen Leichtathletikwettbewerb im White City Stadium. Auf der Treppe zur U-Bahn kam mir mein Klassenkamerad Hartmut Schöpfer entgegen. Was für ein Zufall. Ich wusste gar nicht, dass auch er in London war. Inzwischen war die Freundin meiner Amerikanerin in London gelandet. Gemeinsam wollten sie vor dem Rückflug einige Tage in London verbringen. Ich nahm Hartmut zu meiner Verabredung mit. Mir kam die Idee, unseren Englisc-lehrer Ruthsatz mit einer Ansichtskarte aus London zu überraschen. Die beiden Amerikanerinnen diktierten und ich schrieb.

In der ersten Stunde nach den Ferien betrat Herr Ruthsatz, meine Ansichtskarte in der Luft schwenkend, den Klassenraum. „Der Gerald Balser hat mir aus England in bestem Englisch eine Karte geschrieben. Die wollen wir jetzt gemeinsam übersetzen“. Die Übersetzung gelang bis auf ein Wort. Niemand kannte es und keiner wusste, was es auf Deutsch hieß. Nun schauten alle auf mich. Verdammt, ich wusste es auch nicht, schließlich hatten die Mädchen den Text diktiert. Dann kam die Erlösung. Herr Ruthsatz verzichtete auf eine Antwort. Ich wüsste es ja, ich hätte die Karte schließlich geschrieben.

In der U-Bahn in London saß unweit von mir ein junger Mann, der meinem Klassenkameraden Eberhard Schwarz täuschend ähnlich sah. Er sah ebenfalls mehrere Male zu mir herüber. Einen solchen zweiten Zufall gibt es nicht, dachte ich, und stieg nach Erreichen meiner Station aus. Auf dem Weg zur Ausgangstür rief der Doppelgänger plötzlich „Mensch Gerald, Du bist es doch“. Da stand ich auch schon auf dem Bahnsteig. Nicht zu glauben. Der junge Mann, dem ich vom Bahnsteig ins Abteil zuwinkte, war tatsächlich mein Klassenkamerad Blacky.

 

 

Abi an der WO
Am 6. März 1965 haben wir in der Gaststätte der Burg Gleiberg, zusammen mit unseren beiden Parallelklasse OIa und OIG (Wirtschaftsgymnasium), unser Abitur in Form eines Abi-Balles gefeiert. Nur wenige Jahre nach unserem Abitur wurde aus der WO und der „Städtischen Handelslehranstalt“ die Friedrich-Feld-Schule (FFS). Wir alle hatten unsere WO als sehr menschliche Schule erlebt und haben sie in guter Erinnerung behalten. 20 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges hatte ich mein Abitur bestanden. Auf mich wartete die Bundeswehr und danach ein Studium. Ich würde auf eigenen Füßen stehen. Erst jetzt waren für mich Kindheit und Nachkriegszeit gefühlt zu Ende.

Seit Jahren treffen wir uns regelmäßig zu froher Runde im „Alt Gießen“. In der Zeit als ich Stellvertreter bzw. Schulleiter der FFS war und einen Schulschlüssel besaß, gehörte die Besichtigung des Schulgebäudes zum festen Programm. Höhepunkt war die Suche nach unserem Klassenraum und unseren Sitzplätzen. In meiner Funktion hatte ich Zugriff auf die alten Klassenbücher und beim gemeinsamen Durchstöbern konnten wir uns über so manchen Eintrag ins Klassenbuch amüsieren.

Im Juni 2015 haben wir im Rahmen des Abiballs der Friedrich-Feld-Schule unser 50jähriges Abitur gefeiert. Auf der Homepage des Ehemaligenvereins der FFS wurden wir besonders gewürdigt.

Erstmals in der Geschichte der Friedrich-Feld-Schule war in der Programmfolge der diesjährigen Abiturientenfeier auch die Ehrung der goldenen Abiturienten eingeplant. Das erwies sich laut Schulleiterin Annette Greilich nicht nur deshalb als schwierig, weil es der erste Versuch dieser Art war. Sondern auch wegen des Umstandes, dass es jene 21 Schüler aus privaten wie beruflichen Gründen in alle Himmelsrichtungen verschlagen hat. Vier sind mittlerweile zudem verstorben. Aber immerhin vier nahmen nun laut Pressemitteilung eine Urkunde ihrer Schule zum Abiturjubiläum entgegen. Dies waren Gerald Balser, der von 2006 bis zum Eintritt in den Ruhestand 2011 selbst Schulleiter war, sowie Eberhard Schwarz, Udo Jäckel und Gerhard Keil.
Gießener Allgemeine vom 07.07.2015

 




BUNDESWEHR

 

 

Grundausbildung in Schwarzenborn
Am 1. April 1965 hatte ich mich um 8 Uhr auf dem Hauptbahnhof Gießen einzufinden. Das war kein Aprilscherz, sondern mein Einberufungsbescheid der Bundeswehr zur Ableistung der 18-monatigen Wehrdienstes. Mit dem Zug ging es am frühen Morgen nach Ziegenhain und danach mit dem Bus nach Schwarzenborn. Den Begriff Wehrdienstverweigerer kannte ich nicht. Ich kannte jedoch sehr wohl den Spruch „Schwarzenborn schuf Gott im Zorn“ und ahnte nichts Gutes.

Eigentlich war der Sohn eines im 2. Weltkrieg Gefallenen vom Wehrdienst befreit, aber leider nur der einzige Sohn. Da wir zu zweit waren, mussten wir beide zum Militär. Bei meiner Einberufung hatte mein Bruder Henning seinen Wehrdienst bei der Luftwaffe bereits absolviert. Er war den Verlockungen erlegen und hatte sich für zwei Jahre freiwillig gemeldet. Das hatte den Vorteil, sich die Waffengattung selbst aussuchen zu können, man bekam ein gutes Gehalt und keinen ärmlichen Wehrsold und am Ende der Dienstzeit gab es eine ordentliche Abfindung. Dass das Ganze einen Haken hatte, musste Henning zu Beginn seines Jurastudiums in Marburg schmerzlich erfahren, denn die Abfindung wurde ihm von seinem Stipendium (Erziehungsbeihilfe für Kriegshalbweise) abgezogen. Der Staat zahlt nicht doppelt. Henning bekam einige Semester keine Unterstützung. Nach diesen Erfahrungen von Henning kam für mich eine freiwillige, zweijährige Dienstzeit nicht infrage.

Colt-Otto
Was ich damals zunächst nicht wusste: Das Truppenlager Schwarzenborn war keine Kaserne, sondern eine Ansammlung von Baracken, die als vorübergehende Unterkunft für die Soldaten diente, die auf dem Truppenübungsgelände Manöver abhielten. Um die Auslastung der Baracken zu verbessern, wurde Schwarzenborn Standort einer Ausbildungskompanie. Wir waren die ersten Rekruten. Was ich damals auch nicht wusste bzw. nicht ahnte, fast alle Offiziere und Unteroffiziere unserer Ausbildungskompanie 2/5 waren nicht ganz freiwillig hier. Das einsame Knüllgebirge war als Standort für Berufssoldaten eine Katastrophe. Kein Mensch würde dort freiwillig leben wollen. Offiziere und Unteroffiziere empfanden eine Stationierung in Schwarzenborn als Strafe und Strafversetzte war Normalität. Die Ausbilder hatten Narrenfreiheit. Noch schlimmer konnte es für sie nicht kommen.

Beim ersten Kleiderappell lernte ich, dass bei der Bundeswehr Sommer und Winter befohlen werden. Ab dem 1. April ist der oberste Knopf im Hemd zu öffnen, ganz egal wie kalt es ist. Die neuen Rekru-ten wurden nach der Größe in drei Züge eingeteilt. Ich kam in den mittleren Zug. Mein Zugführer, ein Feldwebel genannt Colt-Otto, war strafversetzt. Kaum hatten wir das Barackengelände verlassen, machte es ihm besonders viel Spaß, seinen Colt zu zücken und ABC-Alarm zu geben. Das bedeutete, dass ab sofort alles unter der ABC-Schutzmaske ablaufen musste. Selbst im April bei wenig warmen Temperaturen sammelte sich der Schweiß sehr schnell unter der Maske am Kinn und schwappte hin und her. Wer seinen eigenen Schweiß nicht trinken wollte, musste die Maske leicht anheben und den Schweiß ablassen. Schlecht erging es jedem (auch mir), der dabei von Otto erwischt wurde. Dann brüllte er zunächst einmal „Sie sind jetzt tot!“ Danach gab es von ihm eine spezielle Reanimierung.

Oh, Entschuldigung
In den ersten vier Wochen war das Verlassen des Barackengeländes nur in Uniform möglich. Da wir angeblich noch nicht militärisch korrekt grüßen konnten, durften wir nicht raus. Wir waren nahe am Lagerkoller. Der wirkliche Grund war, die Unteroffiziere brauchten Personal für die Feuerwache etc., wozu sie selbst keine Lust hatten.

Von Schwarzenborn nach Gießen mit öffentlichen Verkehrsmitteln war eine Weltreise. Auf meiner Bude (wir waren zu sechst) lag ein Kamerad aus Frankfurt (angeblich ein Zuhälter). Der fuhr ein großes, teures Auto und er bot sich an, mich und drei weitere Kameraden aus Frankfurt am Wochenende mitzunehmen. Das klappte wunderbar. An der Raststätte Reiskirchen setzte er mich ab und dort nahm er mich am Sonntag auch wieder mit zurück. Einmal hat er mich vergessen und am Rasthof stehen lassen.

Am Montag in aller Frühe machte ich mich auf den Weg nach Schwarzenborn. Gegen Mittag angekommen, meldete ich mich beim Spieß zurück. Ich wollte gerade anfangen zu erklären, dass es nicht meine Schuld war, dass mich meine Kameraden vergessen hätten. Der ließ mich erst gar nicht ausreden und verdonnerte mich  für zwei Wochenenden Feuerwache.

Das wenigstens habe ich bei der Bundeswehr gelernt. Man muss sich nicht unbedingt entschuldigen. „Oh Entschuldigung“ ist leicht gesagt und letztlich nicht viel wert. Man muss vor allem bereit sein, die Konsequenzen seiner Taten zu tragen. Danach ist alles vergessen.

Fast alle meine Kameraden waren Raucher. Für eine Zigarettenpause waren sie zu allem bereit. Ich als Nichtraucher hatte keine Probleme. Auch die verheiraten Kameraden standen unter Druck. Besonders spannend ging es am Samstagmittag zu, wenn alle froh waren, den Schreckensort verlassen zu dürfen. Davor gab es eine große Hürde und die hieß Stubendurchgang. Zwei Unteroffiziere - manchmal sogar der Kompaniechef höchstpersönlich - gingen von Stube zu Stube. Ich erinnere mich, dass einer sogar in weißen Handschuhen auftauchte. Um beim Stubendurchgang am Wochenende nicht aufzufallen, war besondere Reinlichkeit und Ordnung angesagt. Die meisten hatten damit keine Probleme, ich dagegen fiel leider öfter auf. Dann hatte ich die Möglichkeit meine Fehler zu korrigieren und am Ende des Stubendurchgangs wurde mein Spind ein zweites Mal inspiziert. Das musste klappen, wenn nicht, war das Wochenende in Gießen gestrichen. Ich musste mir etwas einfallen lassen. An der Rückwand der Spindtür heftete ich ein Bild meines Vaters und von Henning in Offiziersuniform. Damit wollte ich bei der Stubendurchsicht von meinen kleinen Unkorrektheiten ablenken. Ich vermute, wurde dies meinem Kompaniechef berichtet und der hat dies wohl als Interesse an einer Offiziersausbildung fehlinterpretiert. Ich landete nicht in einer Kaserne nahe Gießen, sondern im fernen Koblenz, in der Gneisenau-Kaserne auf der anderen Rheinseite in Horchheim, oberhalb von Niederlahnstein und dem Truppenübungsplatz Schmidtenhöhe. Für mich wegen der Entfernung ein Wermutstropfen, aber im Vergleich zu Schwarzenborn war die Touristenstadt Koblenz mit dem Deutschen Eck, dem Weindorf und der Feste Ehrenbreitstein ganz attraktiv.

Pilotprojekt Ausbildungskompanie für Reserveoffiziere im Panzerbataillon 144
Meine Kompanie war die 2. des Panzerbataillons 144. Die Kompanie war ein Novum bei der Bundeswehr. Es war eine reine Ausbildungskompanie von Abiturienten (ca. 40 Soldaten), die sich mindestens auf zwei Jahre verpflichtet hatten. Darunter war der Sohn des Bundestagsab-geordneten Rommerskirchen von der CDU, Klaus Rommerskirchen, der nach seiner aktiven Zeit in der Bundeswehr Redakteur im ZDF wurde.  Mit von Boxberg war auch der Adel vertreten. Wir alle waren Reserveoffiziersanwärter (ROA) und damit berechtigt, im Offizierskasino zu speisen. Mein Kompaniechef Major Vollmar war ein etwas klein geratener, aber blitzgescheiter und schon leicht schütterer Saarländer.

Der dreimonatige Fahnenjunkerausbildung konnte bei diesem Konzept vornherein im Anschluss an die sechsmonatige Waffenausbildung eingebaut werden und fand daher im Haus statt. Normalerweise hätten wir die Kompanie nach Beendigung der Waffenausbildung zum Offizierslehrgang verlassen müssen. Die nächsten harten neun Monate würden wir miteinander verbringen. Ich hatte mich anfangs gewundert, dass ich als Wehrpflichter in dieser Elite-Truppe gelandet war, lernt aber sehr schnell die Vorteile dieser besonderen Ausbildung kennen und schätzen. Wir nannten uns Reserveoffiziersanwär-ter (ROA) und trugen als Erkennungszeichen an den Schulterklappen schmale Silberlitzen. Wir wurden nicht allmorgendlich mit der Trillerpfeife geweckt und gingen auch nicht geschlossen in die Kantine zum Frühstück-Fassen. Ich stellte mir den Wecker und ging zum Frühstücken ins Offizierskasino mit Bedienung. Diese Privilegien waren mir die Anstrengungen wert.

Am ersten Tag wurden wir in die Panzer gesteckt, alle Schotten wurden dicht gemacht und ab ging es über die Panzerstraße zum nahen Standortübungsplatz Schmidtenhöhe. Das war nichts für Leute mit Platzangst. Im Gelände hörte die gemütliche Fahrt auf. Der Panzer wurde zum Schiff auf stürmischer See. Als Ergebnis mussten am Abend die Panzer von innen gesäubert werden, allesamt. Die Ausbilder hatten sich vorerst einmal Respekt verschafft.

In einer Kompanie, in der alle gerade einmal ihr Grundausbildung hinter sich hatten, fehlten die Panzerfahrer. Alle mit dem Führerschein Klasse 3 wurden verdonnert, Panzer-fahrer zu werden. Dies war gar nicht so schlecht, denn zuvor musste der Lkw-Führerschein gemacht werden und der war privat richtig teuer. Leider hatte ich damals noch keinen Führerschein, den konnte ich mir nicht leisten, und wurde Richt- und Ladeschütze. Meine Aufgabe war es, das vom Panzer-Kommandanten benannte Ziel durch das Zielfernrohr anzupeilen und die Granate abzuschießen. Der Ladeschütze musste die Kanone so schnell wie möglich mit einer Granate beladen. Eine nicht ungefährliche Aufgabe, denn die Kanone erzeugte beim Abschuss einen gewaltigen Rückstoß und da wäre es schlecht gewesen, wenn man sich noch hinter der Kanone befunden hätte.  Wir übten mit unseren Panzern sehr oft im Gelände, denn die Panzerstraße unserer Kaserne führte direkt zum nahen, ausgedehnten Standortübungsplatz Schmidtenhöhe. Die Panzer wurden aus den Abstellhäusern gefahren und bei laufendem Motor hintereinander aufgestellt. Dann gab der Kompaniechef Signal und alle Panzer fuhren gleichzeitig an. Dadurch wurde der Ziehharmonikaeffekt vermieden. Im Gelände wurde die Kanone los gezurrt und in Gefechtsbereit-schaft geschwenkt.

Geschossen wurde nur mit Kartuschen, also Platzpatronen. Am Ende einer Übung kletterte ich aus dem Turm auf den Panzer, um das nach hinten geschwenkte Kanonenrohr festzuzurren. Das ging fix, denn es musste lediglich eine Schelle umgelegt und zugeschraubt werden. Der Panzerfahrer durfte erst nach dem Kommando seines Kameraden losfahren. Ich hatte mich gerade nach unten gebeugt, da gab es ei-nen Ruck und ich kippte mit dem Kopf nach unten vom Panzer. Im Fallen machte ich ungewollt einen Salto und stand wie ein Turner mit beiden Beinen auf der Panzerstraße. Die Vorschriften bei der Bundeswehr waren nicht umsonst so streng, es passierte einfach zu viel. Weil wenige Tage zuvor ein Ka-merad den anderen im Wachlokal beim Handtieren mit dem Gewehr versehentlich erschossen hatte, wurde mir und meinen Kameraden zur Bewachung eines Munitionslagers keine Patronen für das Ge-wehr ausgegeben. Nachts am Zaun allein auf Streife mit leerem Magazin überlegte man sich schon, wie man sich im Ernstfall verhalten sollte.

Baumholder
Die Ausbildung musste gelingen, für Ende Januar 1966 war ein zweiwöchiges Manöver in Baumholder im Hunsrück geplant. Leider zeigte sich Baumholder von seiner unangenehmen Seite. Eis, Schnee und Nebel lösten sich ab, und der Schlick auf den Panzertrecks erreichte fantastische Rekordhöhe von einem Fingerbreit über den Fußknöchel. In Baumholder sollte die Besichtigung in der Panzergefechtsausbildung stattfinden. Schön war dies allerdings nur für die Besichtigenden. Bei den Besichtigten blieb kaum ein Fetzen am Körper trocken.

In einem Bericht auf der Homepage des Freundeskreises des Panzerbataillons 144 kann man folgendes lesen:

Was der Bericht nicht erwähnt, ist die Durchhalterede unseres Bataillonskommandeurs. Der war nach Baumholder geeilt, weil wegen des inzwischen so hohen Krankenstandes die geplante Rückfahrt nach Koblenz über Land gefährdet war. Man braucht pro Panzer mindestens zwei Soldaten, den Fahrer und einen Kommandanten, der oben aus der Lucke schaute. Dies war eigentlich voraussehbar, denn wir lagen mit unseren Schlafsäcken auf den durchnässten, blanken Boden. Viel zu spät hatte man uns Stroh ins Lager gebracht. Für uns zum Vorbild kam der Kommandeur kernig, im offenen Jeep ins Lager und appellierte an unseren Mannesstolz. Von diesem Abenteuer in Baumholder könnten wir noch unseren Enkeln erzählen und wir wären dabei gewesen, tönte er kernig. Sein Fahrer erzählte mir im Vertrauen, dass der Oberstleutnant erst kurz vor Erreichen des Lagers das Verdeck hatte öffnen lassen.

Dies war aber nicht die einzige Panne. Sturmwarnung war vorausgesagt, dann wird es im Fichten-Wald besonders gefährlich, denn die haben flache Wurzeln und fallen dadurch leicht um. Unsere Offiziere waren kernig und furchtlos, wir durften unser Biwak nicht verlassen. Bei der Bundewehr werden im Biwak die Zelte in einem offenen Viereck, wie an einer Schnur, gerade angeordnet. In der besagten Nacht kippte eine hohe Fichte im schweren Sturm genau entlang der linken Zeltreihe. Es hätte viele Tote geben können. Die längeren Äste schlugen nur mit den Spitzen auf die Zelte. Außer einem gehörigen Schrecken war zum Glück nichts passiert. Beim Morgenappell versuchte man die Situation zu verharmlosen. Die betroffenen Kameraden der linken Reihe wurden vom Kompaniechef und Spieß mit Nadelzweigen ausgezeichnet. Man hätte bei diesen schlechten Wetterbedingungen in den vorhandenen Kasernen Quartier machen müssen, aber hätte der anspruchsvollen Ausbildung zuwider gestanden. Nicht nur der Bundeswehr fehlt es an Pragmatismus.

Die geplante Rückfahrt über Land konnte tatsächlich durchgeführt werden. Von Baumholder nach Koblenz-Horchheim sind es immerhin 120 km. Eine lange Strecke für einen Panzer. Wir waren ungefähr sieben Stunden unterwegs und sind sogar alle angekommen. Ich hatte allerdings einen kleinen Vorfall. Da ich den Panzer nicht fahren durfte, machte ich den Ausguck im Turm. Wir waren alle übermüdet und ausgepowert, ich bin während der Fahrt im Stehen eingeschlafen. Mein Kompaniechef, der permanent die Kolonne abfuhr, hatte bemerkt, dass bei meinem Panzer die Abzugshaube fehlte. Die ist auf der Kanone geschraubt und hatte sich während der Fahrt gelockert. Nun durfte ich im VW-Munga die Strecke langsam zurückfahren und tatsächlich, nur wenige Meter dahinter, lag das gute Stück am Straßenrand.

Bergen-Hohne
Zum Scharfschießen fuhren wir in die Lohheide nach Bergen-Hohne ins Manövergelände der Englän-der. Dieser Standort hatte einen guten Ruf. Leider waren wir wieder in den mitgebrachten Zelten un-tergebracht. Man gönnte uns nicht die vorhandene komfortable Kaserne. Aber mit dem Wetter hatten wir diesmal mehr Glück als in Baumholder. Es war sonnig und warm und im Biwak ließ es sich ganz gut leben. Baumholder hatte ich unbeschadet überstanden, in Bergen-Hohne bekam ich eine Grippe. Per Sanka wurde ich ins Lager zu den Tommies gebracht. In den sauberen Krankenbaracken gefiel es mir wesentlich besser als in unseren kleinen Zelten. Die Verpflegung und Betreuung durch die netten englischen Krankenschwestern waren ausgezeichnet. Leider verschwand das Fieber zu schnell und ich musste zurück ins Biwak.

NATO-Alarm
Meine Zeit bei der Bundeswehr war die Zeit des kalten Krieges. Die Welt schien mehrere Male, am Rande des Abgrundes zu stehen. Wir wurden für den Ernstfall ausgebildet, übten häufig im Gelände der Schmidtenhöhe und lagen in Bereitschaft. Ständig kursierte das Gerücht NATO-Alarm. Gab es tatsächlich Alarm, wussten wir oft nicht, ob dies der Ernstfall war oder nur ein Übungsalarm. Wir wurden allerding jedes Mal bei laufendem Motor in Gefechtsbereitschaft gesetzt. Soldaten, die zu dem Zeitpunkt des Alarms in den einschlägigen Kneipen saßen, sammelten die Feldjäger ein. Wenn man Glück hatte, war der Alarm nach Erreichen der Kaserne bereits vorbei.

Besuch vom Militärbischof
Unsere Kompanie zählte im Bataillon und eventuell auch am gesamten Standort zur Elite und wenn es etwas vorzuführen gab, mussten wir ran. Der evangelische Bundeswehrbischof hatte sich angesagt. Wir mussten uns in Ausgehuniform aufstellen und warteten, das Kasernenhof im Blick. Ich traute meinen Augen nicht. Hinein fuhr ein 600er Mercedes mit Standarten rechts und links. Beflissen öffnete der Fahrer die Tür. Der Bataillonskommandeur stand mit zwei weiteren hohen Offizieren bereit zur Begrüßung. Gemeinsam ging man unsere Reihen ab. Der Bischof blieb ab und zu stehen, sprach ein Paar nette Worte und verschwand sehr bald mit den Offizieren ins gegenüber liegende Offizierscasino. Wahrscheinlich wartete dort bereits der Cognac. So also sah die Betreuung der Truppe durch die Kirche aus. Nach dieser Begegnung stand für mich endgültig fest, dass ich aus diesem Verein sehr bald austreten würde.

Die Sportvorführung
Ein amerikanischer Vier-Sterne-General hatte sich angekündigt. Wir sollten in der Turnhalle eine Sportübung vorführen, den freien Sprung über einen hohen Bock. Auf der anderen Seite standen zum Auffangen zwei Kameraden bereit. Dafür wurde zwei Wochen vorher fleißig geübt. Für keinen war dies ein Problem bis auf einen. Ich weiß nur noch, er stammte aus Düren. Er sah sportlich aus, ihm fehlte aber der Mut. Sein zackiger Anlauf war noch wunderbar, aber kurz vor dem Bock bremste er wie ein scheues Pferd und hing auf dem Bock. Das kann mal passieren, also erneut Anlauf und wieder die Hufe nach vorn. Es war eigentlich für jeden klar, der springt nie.

Hier machten die Verantwortlichen einen Riesenfehler. Sie hätten ihn für die Vorführung aus dem Verkehr ziehen müssen. Man war sich aber anscheinend sicher, dass sich der Kamerad angesichts des hohen Besuches nicht blamieren würde. Der große Tag war gekommen. Die Offiziere betraten die Turnhalle: Unsere Offiziere im Ausgehrock und Lametta. Dagegen hob sich der amerikanische General im schmucklosen Kampfanzug, aber blankgeputzten Stiefeln, für meinen Geschmack sehr positiv ab. Die Vorführung wurde gestartet. Einer nach dem anderen sprang in eleganter Haltung über den Bock. Wir hatten schon Wetten abgeschlossen, ob unser Angsthase nun tatsächlich sprang. Wie gewohnt lief er zackig an und – unser Kommandeur traute seinen Augen nicht – bremste ab und hing wieder auf dem Bock. Als unser Kamerad beim dritten Mal den Absprung immer noch nicht schaffte, platzte dem Kommandeur der Kragen und machte den wunderbaren Vorschlag: „Nehmen Sie ihr Herz in die Hand, werfen es über den Bock und springen hinterher.“ Darauf sagte einer von uns nur halblaut, er solle lieber seine Eier rüber werfen. In diesem Moment war es gerade mucksmäuschenstill. Den Spruch konnte man in der hintersten Ecke hören. Wir konnten uns das Lachen nur mit Mühe verkneifen.

Unsere Kompanie war der ganze Stolz von Oberst Adamowitsch. Er war bei allen Übungen anwesend, auch wenn nur kurz, hatte er immer eine Meinung. Trotz gewisser Schwierigkeiten gab er sehr gerne Lebensweisheiten zum Besten, z. B. belehrte er uns Soldaten, viele Köche wären des Hasen Tod.

Koblenz, die größte Garnison Deutschlands
An den Wochenenden fuhr ich fast immer nach Gießen. Für den Außenstehenden unverständlich. Bei Schwarzenborn mit einer einzigen Kneipe in Oberaula leuchtet es sofort ein, aber warum die Flucht aus Koblenz. Die Stadt mit der schönen Altstadt, dem Weindorf, dem Deutschen Eck und Ehrenbreitstein ist sogar für Touristen, insbesondere aus Holland, interessant. Damals war Koblenz mit Abstand die größte Garnison Deutschlands mit Tausenden von jungen Soldaten, alle im gleichen Alter und mit der glei-chen Frisur. Die Töchter der Koblenzer Bürger erkannten einen Soldaten schon aus weiter Ferne. Die Jugend von Koblenz war eine geschlossene Gesellschaft und blockte ab. Das Weindorf, wo die holländischen Touristen auf den Putz hauten, war die einzige Chance, mit nicht Bundeswehrangehörigen in Kontakt zu kommen. Die übertriebene Wein-Fröhlichkeit ging mir aber schnell auf den Wecker.

Einmal im Monat hatte man als Wehrpflichtiger das Anrecht auf eine kostenlose Heimfahrt mit der Bahn. Die Verbindung nach Gießen war gar nicht so schlecht, trotzdem machte ich mir den Spaß, in Uniform nach Hause zu trampen. Zumeist war ich mit dem Auto eher am Ziel als mit der Bahn. Ein Herr, der eigentlich nur eine Spazierfahrt machen wollte, hat mich sogar von Koblenz bis vor die Haustür in Gießen gefahren.

An Fastnacht galten in Koblenz andere Regeln. Den rheinischen Karneval und die für einen Oberhessen merkwürdigen Bräuche der Weiberfastnacht in einem kleinen Mosel-Vorort wollte ich jedoch miterleben. Die Frauen scheinen an diesem Tag einen Freifahrtschein zu haben. Auf der Straße liefen viele, als alte Frauen verkleidete Gestalten herum, machten sich an die Männer ran und schnitten denen die Schlipse ab. Jedenfalls reifte in mir die Erkenntnis, dass man an diesem Treiben nur dann richtig Freude hatte, wenn man hineingeboren war.

Fahnenjunkerausbildung
Mit zur Fahnenjunkerausbildung gehörte es, die Kameraden zu unterrichten. Gefürchtet war das kom-plizierte amerikanische MG unseres amerikanischen Panzers M 48. Für diesen Unterricht der Ab-schlussprüfung hatte ich mir vorausschauend minutiöse Unterlagen erstellt. Und tatsächlich ausgerechnet zu diesem Thema musste ich unterrichten. Und es kam noch schlimmer. Ich hatte gerade mit mei-nem Unterricht angefangen, ging die Tür auf und unser Bataillonskommandeur kam mit unserem Kompanieführer herein. Meine Gruppe wurde sichtlich nervös, ich immer ruhiger, denn ich hatte alle notwendigen Unterlagen auf meinem Tisch. Nach jeder Fragestellung hatte ich genügend Zeit, mir die Antwort und die nächste Frage anzuschauen. Anerkennend nickend, verließen die beiden Offiziere nach einigen Minuten sichtlich zufrieden den Raum. Meinem Ausbilder stand der Schweiß noch auf der Stirn. Am gleichen Abend gab es eine „Manöverbesprechung“ und ich wurde in den höchsten Tönen von meinem Kompaniechef gelobt. Ein Lob, das er von seinem Chef an mich weitergab. Klaus Rommerskirchen, der Sohn eines CDU-Bundestagsabgeordneten, brachte zusammen mit einigen literarisch interessierten Kameraden eine Lehrgangszeitung heraus. Darin wurden die wichtigsten Ereignisse unserer gemeinsamen Zeit erwähnt und jeder mit einem Satz charakterisiert. Klaus Rommerskirchen blieb nicht bei der Bundeswehr und wurde nach dem Studium Berichterstatter beim ZDF. Die Krönung des Lehrgangs war der Abschlussball im Offizierskasino. Mein Unteroffizier fragte mich, mit wem ich denn käme. „Ich komme solo“. „Ist die Italienerin?“ hakte er nach. Ich dachte, ich könnte mich ohne Dame vor dem Ball drücken.

Sein oder nicht sein?
Wenige Tage später wurde ich zum Bataillonskommandeur beordert. Ich erwartete eine persönliche Belobigung, doch es kam völlig anders. Der Oberstleutnant hatte vorher schon mit den beiden anderen Wehrpflichtigen gesprochen und sie aufgefordert, den Dienst auf zwei Jahre zu verlängern. Die beiden Kameraden hielten dem Druck nicht Stand und willigten ein. Ich war dazu nicht bereit. Ich erklärte ihm meine Gründe. Mein Bruder Henning hatte seine schöne Bundeswehr-Abfindung mit dem Erziehungsgeld verrechnen und sein Studium einige Monate selbst finanzieren müssen. Eine Verlängerung um ein halbes Jahr mache für mich daher keinen Sinn. Außerdem verlöre ich ein weiteres Semester. Adamowitsch drohte mir, mich nicht zum Fahnenjunker, sondern „nur“ zum Unteroffizier zu befördern. Ich hatte eigentlich mit meiner Entlassung als Fähnrich gerechnet. Die Aussichten waren angesichts der großen Strapazen der vergangenen zwölf Monate bitter. Ich war am Schwanken, lehnte aber letztlich ab. Mein Kommandeur hielt meine Entscheidung für eine Unverschämtheit. Eigentlich würde umgekehrt ein Schuh daraus. Ich hatte mich um die Ausbildung in Koblenz nicht beworben. Ich wurde dort hingeschickt, ohne mich zu fragen. Die Abiturient-Kompanie war für die Bundeswehr ein Novum, eine Einmaligkeit  war nicht bekannt, dass es in dieser Kompanie drei Wehrpflichtige gab? Was für ein Ansinnen. Eine Nacherstattung für die entgangenen ersten 12 Monate hätte ich natürlich nicht bekommen.

Ausbilder in der Grundausbildung in Koblenz
Nach Beendigung des Fahnenjunkerlehrgangs wurde ich als Ausbilder in die Ausbildungskompanie 7/5 versetzt, die ebenfalls in der Gneisenau-Kaserne untergebracht war. Als erstes wollte man mir meine silbernen Litzen abnehmen. Dem kam ich nicht nach. Man beließ es dabei. Aber aus dem Gefreiten ROA wurde urplötzlich ein Gefreiter RUA. Anstatt der Litzen auf den Schulterklappen trug ich über dem Gefreiten-Abzeichen am Ärmel einen Querbalken. Da bislang die neuen Daten nicht im Wehrpass eingetragen waren, konnte mir ganz leicht ein Unteroffizierslehrgang quittiert werden. Eine vorsätzliche Fälschung. Eigentlich wäre es an der Zeit gewesen, sich zu beschweren, aber so weit war man damals noch nicht. ich fügte mich in mein Schicksal. Ich versuchte das Beste daraus zu machen. Nun ging ich eben nicht mehr in das Offizierskasino, sondern in das nahe liegende Unteroffizierscasino. Im Grunde gab es keinen großen Unterschied zu vorher. Ich teilte die Stube mit einem Kameraden. Es ertönte für mich keine Trillerpfeife und auch die Unteroffizier wurden im Kasino bedient. Es ging nur nicht so steif zu.

Wenn der Chef mit seinem Stellvertreter, ein Waldeckscher Prinz, auftrat, konnte man sich das Lachen kaum verkneifen. Der Leutnant war ein Riese und alles andere als schmächtig. Von der Statur her für einen Panzersoldaten nicht gerade prädestiniert. Neben seinem Stellvertreter wirkte der Hauptmann wie ein Winzling.

Nicht Fahnenjunker, sondern Unteroffizier d. R.
Am 18. März 1966 bekam ich meine Ernennung zum Reserve-unteroffizier mit der Unterschrift des Bataillonskommandeurs. Ich wusste gar nicht, dass ein Bataillonskommandeur die Ernennungsurkunde eines einfachen Unteroffiziers unterschreibt. Aus meinen Unterlagen geht nicht hervor, dass ich an einem Fahnenjunkerlehrgang teilgenommen hatte. Auf der Urkunde wird nicht der ROA-, sondern ein RUA-Lehrgang erwähnt, an dem ich nicht teilgenommen hatte. Das war eine glatte Fälschung. War dies seine Rache? Das Offizierskasino war mir nun verwehrt. Das Unteroffizierskasino war ein Gebäude weiter. Auch hier wurde man beim Essen bedient. Es ging aber nicht mehr so steif zu, was mir ganz recht war. 

Von meinem Stubenkameraden (wir teilten uns eine Stube), der die Gepflogenheiten kannte, wurde ich vorgewarnt. Für die neuen Unteroffiziere gab es ein Ritual. Im Rahmen eines geselligen Abends wurde ein spezielles Mahl serviert. Es bestand aus allen jenen Zutaten, die für garantierte Übelkeit sorgten. Wir waren zu dritt und sollten gemeinsam mit dem Essen beginnen. Ich hatte den Lehrgang zum Fahnenjunker und nicht zum Unteroffizier absolviert und nur noch ein halbes Jahr Bundeswehr vor mir. Warum sollte ich mich zum Affen machen lassen? Die beiden Kameraden leisteten keinen Widerstand und aßen ihren Teller brav auf. Es dauerte nur wenige Minuten, dann rannten sie aus dem Raum. Meine neuen Kameraden hatten mit den beiden anderen ihren Spaß gehabt und verzichteten auf meinen Auftritt. 

In der Ausbildungskompanie marschierte der Gruppenführer mit seinen Soldaten, allerdings ohne Gepäck und Waffen, dies zumindest theoretisch. Praktisch sah es ganz anders aus. Am Ende des Marsches kam ich immer, bepackt wie ein Muli, in die Kaserne zurück. Ich hatte den Ehrgeiz, keinen meiner Kameraden zurückzulassen. Mit meinen Soldaten pflegte ich einen menschlichen Umgang. Die Fehler meiner Ausbilder versuchte ich zu vermeiden. Zwischen den Zügen und Gruppen der Kompanie herrschte Wettbewerb. Daran beteiligte ich mich nicht. Ich musste mit meiner Gruppe nicht unbedingt der Erste und der Beste sein. Ich wurde es aber häufig dennoch, weil meine Soldaten für mich gewinnen wollten.

Bei einem Skiurlaub in Ischgl in einer Pizzeria bemerkte ich an einem Nachbartisch einen Herrn, der mir sehr bekannt vorkam. Ich ging im Kopf alle Möglichkeiten durch, kam aber zu keinem Ergebnis. Der Herr hatte inzwischen auch schon einige Male zu mir herübergeschaut. Meine Neugier war zu groß und ich ging an seinen Tisch. Er hatte mich sofort erkannt und wusste auch woher, von der Bundeswehr. Er konnte sich noch sehr genau an mich erinnern. Ich sei sein Ausbilder gewesen und die Rekruten hätten meine Art, mit ihnen umzugehen, sehr geschätzt. Er bedankte sich am Tisch ausdrücklich bei mir. Ihm sei seine Grundausbildung, im Gegensatz zu den meisten seiner Kameraden, in guter Erinnerung geblieben. Nach der Bundeswehr habe er in Frankfurt Jura studiert und sich als Rechtsanwalt und Notar in Butzbach niedergelassen. Dummerweise habe ich vergessen, ihn nach seinen Namen zu fragen.

Die 36-Stunden-Übung
Zum Abschluss der Grundaus-bildung meines ersten Rekruten-jahrgangs hielt meine Kompanie bei Neuwied am Rhein eine 36-Stunden-Übung ab, und zwar ausgerechnet über den Sonntag. Mit meinem Stubenkameraden konnte ich mich unbemerkt in einem Jeep von der Truppe absetzen. Es war Hochsommer und die Hitze machte durstig. An der Wied entdeckten wir eine bewirtschaftete Mühle. Wir trugen Kampfanzug und waren nicht gerade besonders sauber. Die vielen Ausflügler betrachteten uns misstrauisch, als wenn die Russen einmarschiert wären. Ich dachte an das chinesische Soldatenlied, das Onkel Hannes gerne zitierte: „Ich will mich unter Bäumen schlafen legen und kein Soldat mehr sein.“ So jedenfalls war ich nach der dritten Flasche Bier gestimmt. Die Bedienung brachte an die Nachbarti-sche schöne, große Becher Eis. Wir wollten eigentlich aufbrechen, es war inzwischen spät geworden, da machte mein Kamerad den idiotischen Vorschlag, uns auch einen Eisbecher zu bestellen. Ich staune noch heute, dass ich diese Mischung schadlos überlebt habe. Am 30.09.1966 ging ich zum letzten Mal aus dem Kasernentor und schaute mich noch lange um.

 

Nach fast genau 55 Jahren kochte die maßlos ungerechte Behandlung durch Oberst Adamowitsch in mir hoch. Ich wollte es wenigstens versucht haben, zu erreichen, dass man sich entweder bei mir entschul-digt oder sogar eine Korrektur vornimmt. Daher schrieb ich folgenden Brief an Frau Dr. Högl, die Wehrbeauftragte des deutschen Bundestages, folgende E-Mail:

Sehr geehrte Frau Dr. Högl,
ich habe lange mit mir gerungen und heute endlich den Mut gefunden, mich an Sie zu wenden. Es ist mir etwas unangenehm, mein Anliegen vorzutragen, denn meine Zeit als Wehrpflichtiger der Bundeswehr geht auf das Jahr 1966 zurück. 

Meine Grundausbildung verbrachte ich vom 01.04.65 bis zum 30.07.65 in Schwarzenborn. Danach wurde ich zur Waffenausbildung ins Panzerbataillon 144 nach Koblenz-Horchheim geschickt. In meiner Ausbildungskompanie waren ausschließlich Abiturienten mit einer Mindestverpflichtung von zwei Jahren, aber in der Mehrheit Berufs-soldaten. Zwei weitere Kameraden und ich waren die einzigen Wehrpflichtigen in dieser Kompanie. Dies erfuhr ich aber erst sehr viel später. Der Grund dafür, warum man mich als Wehrpflichtigen in diese spezielle Kompanie geschickt hatte, wurde mir nie genannt. Das Besondere an dieser Waffenausbildung war, dass der sich anschließende Fahnenjunker-Lehrgang von vorneherein ein Bestandteil des neuen ganzheitlichen Konzepts war. Wir waren alle Offiziersanwärter, von außen deutlich zu erkennen an dem silbernen Band auf der Schulterklappe, und speisten im Offizierskasino. Diese privilegierte Behandlung war mir als Wehrpflichtigen die Anstrengungen der sehr harten Waffen- und Offiziersausbildung wert. Am Ende des Fahnenjunkerlehrgangs stand eine Abschlussprüfung. Ich hatte die Aufgabe, einen Unterricht über das sehr komplizierte MG des amerikanischen Panzers M 48 zu halten. Wohlweislich hatte ich mich mit einem minutiösen Roten Faden auf diesen Eventualfall bestens vorbereitet. Ich hatte gerade begonnen, kam mein Kompaniechef Major Vollmar mit dem Bataillonskommandeur Oberst Adamowitsch zur Tür herein. Meinem Ausbilder schoss der Angstschweiß ins Gesicht. Ich hatte mit der Hospitation kein Problem, war ich doch bestens vorbereitet.

Am Abend bei der Manöverkritik hatte mich mein Kompaniechef sehr gelobt. Mein Unterricht hätte dem Oberst sehr gut gefallen. Ein großer Erfolg, dieses neue Ausbildungskonzept. Kein einziger Kandidat war durchgefallen. Nur wenige Tage später wurde ich zum Bataillonskommandeur gerufen. Ich nahm an, dass mich Oberst Adamowitsch persönlich beglückwünschen wollte und war sehr erstaunt über die Eiseskälte der Begegnung. Er hätte erst kürzlich erfahren, dass ich „nur“ Wehrpflichtiger mit 18-monatiger Dienstzeit sei. Er wollte von mir wissen, wie ich in diese Kompanie gekommen sei. Die Antwort interessierte ihn aber offensichtlich wenig, denn er forderte von mir sofort eine nachträgliche Verpflichtung auf zwei Jahre. Ich war zunächst einmal geschockt und rang um Fas-sung. Ich hatte viele, gute Gründe auf seine Forderung nicht einzugehen, denn vor mir lagen nur noch sechs Monate Dienstzeit. Eine Nachzahlung des entgangenen Soldes war nicht üblich. Die Abfindung für zwei Jahre Bundeswehr war nicht wenig, aber machte in meinem speziellen Fall keinen Sinn. Ich wusste dies von meinem älteren Bruder, der sich für zwei Jahre verpflichtet hatte. Als Söhne unseres in den letzten Kriegstagen gefallenen Vaters hatten wir Anspruch auf eine staatliche, sog. Erziehungsbeihilfe zur Finanzierung eines Studiums. Die Abfindung der Bundeswehr wurde meinem Bruder voll angerechnet und somit erhielt er viele Monate kein „Stipendium“. Diese persönlichen Dinge interessierten den Oberst nicht und er stellte mich vor die Wahl. Entweder Sie verpflichten sich nachträglich auf zwei Jahre, dann werde Sie zum Fahnenjunker befördert und nach zwei Jahren als Leutnant entlassen. Wenn nicht, dann werden Sie Unteroffizier und das wars. Das hatte gesessen. Ich war schon am schwanken. Aber ohne finanziellen Vorteil und dem Verlust eines weiteren, vierten Semesters? Ich nahm meinen Mut zusammen und lehnte ab. Oberst Adamowitsch hielt mich wohl für unverschämt und verwies mich des Rau-mes. Im Nachhinein erfuhr ich, dass meine beiden ebenfalls Wehrpflichtigen Kameraden keinen Widerstand leisteten und sich tatsächlich auf zwei Jahre verpflichteten.

Meine Enttäuschung war groß. Mir wurde etwas vorgeworfen, was man hätte selbst regeln können. Wenn keine wehrpflichtigen Soldaten bei der Offiziersausbildung gewünscht sind, dann darf man sie erst gar nicht aufnehmen. Aber zu der damaligen Zeit wagte man es nicht, sich bei höherer Stelle zu beschweren. Ich fügte mich in mein Schicksal und tröstete mich mit der Unteroffizierskantine. Sechs Monate später begann ich mein Studium der Öko-nomie und das Thema Bundeswehr verlor seine Bedeutung.

Nun werde ich am 25. April 77 Jahre und bin dabei, meine Erinnerungen aufzuschreiben. Es ist erstaunlich, wie präsent die Ereignisse von damals plötzlich werden. Heute empfinde ich diese bodenlose Ungerechtigkeit viel stärker als zu der damaligen Zeit. Allerdings bin ich mir nicht sicher, was ich eigentlich von Ihnen fordern soll. Aber allein, sich einmal Luft verschafft zu haben, wäre mir doch zu wenig. Vielleicht ist es möglich, meine Urkunde zum angeblich bestandenen Unteroffizierslehrgang, an dem ich niemals teilgenommen habe, auszutauschen und auch die Beförderung zum Unteroffizier in eine zum Fahnenjunker umzuwandeln. Dies wird nach Aktenlage gar nicht so einfach sein, denn bei meiner Recherche habe ich feststellen müssen, dass damals alles wasserdicht gemacht wurde. Die tatsächliche Teilnahme am Fahnenjunkerlehrgang wird nirgendwo erwähnt. Allerdings eines kann man nicht auswischen: Die absolute Einmaligkeit, in einer Kompanie ausgebildet worden zu sein, wo alle Soldaten Abiturienten und Offiziersanwärter waren. Dafür gibt es sicherlich genügend Unterlagen. Zwei habe ich diesem Schreiben beigefügt. Das Abschlussfoto (siehe oben) und der Bericht über das Manöver in Baumholder. Der Freundeskreis des Panzerbataillons 144 berichtet voller Stolz auf seiner Homepage über diese besondere Truppe.

Sie mögen vielleicht mein Anliegen als die Eitelkeit eines alten Mannes abtun, aber mir geht es auch um die Aner-kennung eines Unrechts. Mir ist es wichtig, dass man diesen Akt der Willkür zumindest aus heutiger Sicht miss-billigt und sich dafür entschuldigt.

Über eine für mich positive Antwort würde ich mich sehr freuen.

Mit freundlichen Grüßen

Gerald Balser

Zu meinem 77. Geburtstag bekam ich, für mich eigentlich eher unerwartet, eine E-Mail von der Wehrbeauftragten Frau Dr. Högel.

 

Und genau diesen Ratschlag befolgte ich und bekam auch eine Antwort. Die schmeckte mir gar nicht. In einem freundlichen Ton, aber betont juristisch wurde mir Erläutert, dass eine Heilung dieses "Fehlers" aus juristischen Gründen unmöglich sei. Bei einem Laufbahnwechsel, wie ich ihn fordere, ginge es um eine Beförderung und die sei nur im aktiven Dienst möglich. Außerdem gäbe es nach dieser langen Zeit keinerlei Unterlagen mehr. Kein Zeichen des Bedauerns und schon gar keine Entschuldigung, aber das wäre ja auch zu viel verlangt.





 

 

STUDIUM

Grundstudium und Arbeitsgemeinschaft
Ich war noch bei der Bundeswehr, da erzählte mir ein Klassenkamerad, der bereits Wirtschaftswissenschaften an der Uni Gießen studierte, von Kursen für die Vorbereitung zur Erlangung der Scheine in Mathematik und Buchführung. Die beiden Scheine waren eine wichtige Voraussetzung für die Zulassung zum Zwischenexamen. Gießen und Dortmund waren die ersten und einzigen Universitäten mit integrierter Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft und einem Zwischenexamen nach einem Grundstudium von vier Semestern. Das Zwischenexamen war als Prüfstein gedacht dafür, ob der Student für dieses Studium geeignet war. In Gießen fielen regelmäßig fast 50 % durch das Zwischenexamen. Die Hürden in den obligatorischen Klausuren lagen ebenfalls sehr hoch. Auch hier fielen die Studenten reihenweise durch, konnten allerdings so oft antreten, bis der Schein geschafft war. Ich hatte also nichts zu verlieren. Die nächsten Klausur-Termine lagen kurz vor Vorlesungsbeginn im Oktober 1966. Noch als Soldat schrieb ich mich an der Uni ein. Meine Kenntnisse aus dem Buchführungsunterricht der WO reichten aus. Für den Mathe-Schein genügte die Teilnahme an einigen Vorbereitungsterminen. Das Studium hatte noch gar nicht richtig angefangen und ich hatte bereits die beiden wichtigsten Scheine in der Tasche. Jetzt fehlten nur noch der Statistik-, der BGB- und der HGB-Schein.

Ein Anfang nach Maß. Wie bereits Henning bekam ich vom Versorgungsamt Gießen ein Stipendium, Erziehungsbeihilfe genannt. Der Betrag wurde zwar nur für acht Semester und ein Prüfungssemester gezahlt, war aber recht großzügig bemessen. Ich hatte jedenfalls genug Geld, mir in der Walltorstraße 28 ein Einzimmerappartement zu mieten. Als Einzelkämpfer hatte man es schwer, das Studium in der Mindestzeit zu schaffen. Ich tat mich mit drei Kommilitonen zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammen. Mit von der Partie waren mein Klassenkamerad Werner, Karl-Ludwig, genannt Charly, ein Schulfreund aus der Herderschule und aus Osnabrück Hartmut, der später Wirtschaftsprofessor wurde. Große Probleme mit dem juristischen Denken hatten wir alle. Mein Bruder Henning, der Jurist, musste ran. Wir fuhren zur Nachhilfe nach Marburg in die Großseelheimer Straße. Charly fiel dabei als besonders begabt auf, er lernte schnell und schrieb nun in den Jura-Klausuren nur noch gute Noten.

Heinz und Moni, Gunt und Helga
Die Brüder Heinz und Gunt Krampe kannte ich bereits, als sie in meiner Nachbarschaft in der Landgrafenstraße wohnten. Heinz ist mein Jahrgang und wir besuchten beide die Herderschule und später die heutige FFS, er das Wirtschaftsgymnasium und ich die Wirtschaftsoberschule. Der zwei Jahre jüngere Gunt gehörte zu den wenigen meiner Freunde, die an der Herderschule tatsächlich ihr Abitur bestanden. Die beiden Brüder wohnten inzwischen bei den Eltern im neuen Reihenhaus in der Rehschneise. 

Im Schwimmbad Ringallee schwärmte im Sommer 1967 ein Klassenkamerad von Gunt von seinem großartigen Urlaub in Calella an der Costa Brava: „Wetter gut, für Studenten er-schwinglich und hübsche Mädchen, super“. Eine Woche später stiegen wir in aller Früh in den Citroen 2CV der Beiden und los ging die Fahrt. In Frankreich gab es noch keine Autobahnen. Wir fuhren Route National bis an die spanische Grenze. Heinz und Gunt wechselten sich als Fahrer ab. Ich hatte noch keinen Führerschein. Heinz lag schlafend auf der Rückbank, als mir auffiel, dass Gunt die Augen geschlossen hielt und weckte ihn schnell auf. Was für ein Glück, dass ich nicht auch geschlafen hatte. Noch vor Sonnenaufgang erreichten wir den Campingplatz von Calella, stellten unser Zelt notdürftig auf und schliefen sofort ein. Die heiße Sonne weckte uns in der Früh. Kein Schatten weit und breit. Hinter uns verliefen die Eisenbahngleise. Was für ein Sch... Campingplatz. Kühlung suchten wir im Wasser. Nun waren wir gespannt, was uns am Abend in Calella er-wartete. Die Altstadt war ein einziges Gewimmel. Jung und Alt drängten sich durch die engen Gassen. In der Mehrzahl waren es Franzosen. Die Französinnen gingen meist zu dritt los, was uns sehr entgegen kam. Gunt sprach in seinem guten Schulfranzösisch eine Gruppe Mädchen an. Die riefen gleich nach der Polizei. Was soll denn das? Vorsichtshalber entfernten wir uns von den Männerfeindinnen. 

In den Gassen roch es überall nach Gegrilltem. Wenigstens gutes Essen. Auf der Straße hat es mit dem Ansprechen nicht funktioniert, vielleicht funktioniert es in der Disco. Der Eintrittspreis war Wucher. Was will man machen? Im Halbdunkel entdeckte ich eine dunkle Spanierin mit großen Ohrringen. Ich hatte an der WO immerhin drei Jahre Spanisch und legte mir ein Sätzchen zurecht. Kopfschütteln. Auf Englisch. Wieder Kopfschütteln. Dann sagte sie mir im breiten Bayerisch, ich könne mit ihr Deutsch sprechen. Für den nächsten Morgen verabredeten wir uns am Strand. Zweimal ging ich den auf und ab und konnte die feurige Bayerin nicht finden. Endlich winkte mir jemand aus der Ferne zu. Als ich näher kam traute ich meinen Augen nicht. Das Mädchen war käseweiß. Sie hatte sich offensichtlich für die Disco braun angemalt. Bei Licht betrachtet, fand ich sie, in ihrem reichlich knapp geratenen Bikini, auch gar nicht mehr hübsch. Dieses Kapitel war für mich beendet. Heinz und Gunt ging es auch nicht viel besser. Wir waren gefrustet. Erwartungshaltung und Wirklichkeit klafften zu weit auseinander. Wir beratschlagten. Wir waren erst knapp eine Woche in Calella. Sollten wir uns für die zweite Woche ein neues Urlaubsziel suchen? Uns war die Lust gründlich vergangen und beschlossen, wieder nach Hause zu fahren. 

Ein Jahr später fuhren Heinz und ich nach Westerland auf Sylt. Die Anregung kam von einer Bekannten, die mir von Kampen vorschwärmte. Ich bekäme keine Probleme, in die Prominentenlokale reingelassen zu werden, garantierte sie. Auf Sylt sei sie sehr bekannt und ich brauchte nur ihren Namen zu nennen. Ich hatte mir bei NSU-Ullmann einen gebrauchten, froschgrünen NSU Prinz 4 gekauft. Auf der Autobahn wollte ich Heinz beeindrucken, was die gerade einmal 600 Kubikzentimeter leisteten und fuhr Vollgas. Hinter Kassel machte der Motor schlapp. Ich musste sofort rechts ranfahren und den Motor abkühlen lassen. Nach einer halben Stunde Bangen ging es weiter. 

Eine der damals angesagten Lokale auf Sylt war die Kupferkanne in Kampen. Sigrun hat-te nicht übertrieben. Tatsächlich wirkte ihr Name wie ein „Sesam-öffne-Dich“. Die Kupferkanne war die Stammkneipe von einem Bekannten aus Gießen, den ich aus der Tanzstunde bei Bäulke kannte. Sein Vater bewohnte in Kampen ein großes, schönes reetgedecktes Haus. An der Bar in der Kupferkanne neben mir saß der Boxer und Europameister im Mittelgewicht Gustav Scholz. Meinen Whiskey an der Bar trank ich, genau wie „Bubi“, aus der eigenen dort deponierten Flasche. Die gehörte allerdings nicht mir, sondern meinem Bekannten. Die Buhne 16 kannte ich aus der Klatschpresse. Dort mussten wir unbedingt hin. Und tatsächlich waren alle nackt. Heinz und ich ließen schamhaft unsere Badehosen an und bauten uns eine Sandburg. Darin nahmen wir volle Deckung und beobachteten interessiert unsere nähere Umgebung. Es dauert schon einige Zeit, bis wir uns wenigstens im Wasser getrauten, die Hosen auszuziehen. 

In der Nachbarschaft in der Ostanlage beim Goldfischteich wohnte Helma. Sie wirkte sehr intellektuell, war wie Heinz an Literatur sehr interessiert und auch sehr belesen, aber in ihrem Verhal-ten nicht ganz einfach. Für Heinz war sie eine Herausforderung. Allerdings wusste man nie, sind sie noch oder doch nicht mehr liiert. Ihr kleiner Bruder hieß bei mir nur das Groschengrab, weil er gerne die jungen Männer im Umkreis seiner Schwester um Kleingeld anbettelte. Die komplizierte Freundschaft zu Helma hörte auf, als Moni und ihre Freundin Ela auftauchten. Moni war eine dunkle Schönheit mit langem, offenem Haar. Auf die hatte es Gunt abgesehen. Heinz blieb die Freundin. Das ging so lange gut, bis Gunt im Schwimmbad Ringallee Helga, eine kesse Bikinischönheit mit kurzen dunklen Haaren und strahlenden Augen, kennen lernte. Helgas Markenzeichen war der rot-weiß-karierte Bikini. Heinz nutzte die Gunst der Stunde und tröstete die Moni. Aus den Jugendfreundschaften wurden später Ehen. 

Ich kann mich noch gut an unser Picknick im Jahr 1969 auf dem Krampe-Grundstück im Westerwald erinnern. Mit dem Citroen 2CV und meinem froschgrünen NSU Prinz, fuhren wir in die Walachei. Gunt hatte eine Gas-Pistole dabei und machte Schießübungen. Mit der Emanzipation war es noch nicht sehr weit. Heinz und ich bauten das große Familienzelt auf, Gunt übernahm das Grillen und die Damen besorgten an dem kleinen Bach den Abwasch. 

Heinz und Gunt studierten Jura. Heinz ging, nachdem er zusammen mit seiner Frau Moni die Apotheke am Theater gegründet hatte, nach dem zweiten juristischen Staatsexamen zur Frankfurter Allianz. Besser gesagt eine Tochter der Frankfurter Allianz, der Frankfurter Vers. AG.  51% der Anteile gehörten der Allianz und 49% der Münchner Rück. Nach erfolgreich absolvierten Stationen als Abteilungsleiter und in der Geschäftsleitung wurde er schließlich in den Vorstand der Frankfurter Vers. AG berufen und war auch gleichzeitig Direktor der Allianz Vers. AG. Er war zuständig für das Privatkundengeschäft und hatte rund 1.000 Mitar-beiter. Gunt wurde Syndikus des AvD.

Ted
Enis Bridgedame Oma Reisinger hatte Besuch von einem jungen Mann, der in London bei ihrer Tochter an einem Crashkurs in Deutsch teilgenommen hatte. Es war "Ted" Edward Roberts, der im Frühjahr 1968 seine Stelle als Geschäftsführer Deutschland bei Eli Lilly in Gießen angetreten hatte. Frau Reisinger lud mich dazu ein, da sie fürchtete, der Besuch bei ihr könnte Ted zu langweilig werden. Dies war der Beginn einer Freundschaft, die bis heute anhält. In seiner Wohnung Am Hasenköppel tranken wir gemeinsam Whiskey. Ted ist Waliser und das Glas Whiskey war nach Feierabend Ritual und Entspannung zugleich. 

Ted wurde in meinem Freundeskreis herzlich aufgenommen und verbrachte so manches Wochenende mit uns, auch im Scarabee. Als Dienstwagen fuhr er damals einen Opel Admiral mit Sicherheitsgurt. Für uns Snobs war seine Markenwahl nicht nachvollziehbar. Als unmännlich empfanden wir es, dass er nach dem Einsteigen als erstes den Sicherheitsgurt anlegte. Wir Ahnungslosen amüsierten uns darüber ein wenig. Ted kannte außer seinen Angestellten niemanden in Gießen und war ganz froh, bei uns Anschluss gefunden zu haben. Zwei Studentinnen aus dem Scarabee prahlten mit ihren Kochkünsten. Die wollten wir prüfen und luden sie zum Kochen ein. Ted erwies sich als großzügig, spendierte das Geld für die Einkäufe der Zutaten und stellte seine Küche und Wohnung zur Verfügung. Eines der Mädchen, sie hieß Brigitte, war bildhübsch und jeder legte sich ins Zeug. Sie war leider nur am Kochen interessiert. 

Im Jahre 1964 öffnete das Haarlem in der Schanzenstraße. Nur eine kurze Zeit gab es das Lascaux in der Bahnhofstraße, das wie sein berühmtes Vorbild ausgemalte Wände hatte. Es befand sich im Keller eines der noch wenigen Trümmergrundstücke in Gießen und musste beim Wiederaufbau des Hauses wieder schließen. Mit der Zeit löste das Haarlem in der Beliebtheit das Scarabee ab. Die nach Haschisch riechenden Rauchschwaden und eine spektakuläre Polizei-Razzia heraus dem Zug vom direkt vorbeiführenden Bahndamm hatten das Scarabee in Verruf gebracht. Das Scarabee existiert noch heute, das Haarlem wurde Ende des Jahr 2018 geschlossen.

Claudia und Claudius
Er hieß eigentlich Hans-Karl und wäre ein schlanker, jugendlich wirkender Mann, sogar recht groß, hätte ihn nicht die Bechterew Krankheit permanent in eine leicht gebückte Haltung gezwungen. Am wohlsten fühlte er sich in seiner Lederkluft auf dem Motorrad. Ich spreche von Claudius, der späten, platonischen Liebe Enis, seiner Claudia. Ein wenig erinnert mich die Beziehung an Harold und Maude aus dem gleichnamigen Film. Für Außenstehende war, vor allem zur damaligen Zeit, diese Beziehung nur sehr schwer nachvollziehbar. Claudius war im Alter von Enis Söhnen und an Frauen nicht interessiert. Geistig und musisch waren Claudius und Claudia auf einer Wellenlänge. Sie spielten vierhändig Klavier und sprachen abwechselnd Französisch und Englisch. Für Eni war es eine glückliche Beziehung, ohne eine gegenseitige Inbesitznahme. Claudius hatte in der Mar-burger Straße ein Zweifamilienhaus geerbt. Für sich allein war es zu groß. Er machte daraus ein Hotel garni. Davon konnte er sich mit Müh und Not ernähren. Ein Zubrot waren die Garagen im Hinterhof. Im ausgebauten Keller hatte er eine junge Frau als Dauergast, die dort ihr Geld verdiente und Eni mittendrin. Bei einem Besuch bekam ich den Mund nicht mehr zu. Eni saß hinter dem Haus in der Sonne und las gemeinsam mit der jungen Frau und einem weiteren Gast Goethes Faust. Sie wollte ihnen ein wenig Bildung beibringen. Wenn Onkel Hannes bei Eni in Gießen zu Besuch war, quartierte er sich selbstverständlich in das Hotel garni bei Claudius ein. Ich besuchte ihn dort gerne zu einem gemeinsamen Frühstück. Fröhliche Stimmung herrschte im Haus, wenn der Mo-torrad-Club von Claudius in Gießen ein Treffen hatte. Darunter waren sehr gebildete Männer und Eni brillierte als Gastgeberin. Claudius hatte nicht nur ein Motorrad, sondern auch ein schickes, sportliches Auto. Gemeinsam fuhren Claudia und Claudius zum Baden an den Wißmarer See oder in das Freibad nach Wetzlar mit dem schönen Blick auf den Dom und die Lahn. Auch im Wasser fühlte sich Claudius wohl. Die Beiden fielen den anderen Badegästen auf. Eni war selbst im hohen Alter immer eine Dame.

In der Wetzlarer Zeitung hatte ich einen Artikel entdeckt, den ich in seiner Einleitung auszugsweise wiedergeben möchte:

Kürzlich erfuhr ich vom Ableben der neunzigjährigen Frau Marie Balser in Darmstadt. Ich kenne keine Frau, die ein so interessantes, reichgesegnetes und bis zum Schluss er-fülltes Leben geführt hat wie diese Witwe eines deutschen Generalkonsuls, der von 1909 bis 1948 in China, Schweden, Finnland, Sowjetunion, Mandschurei und Japan für sein Land erfolgreich gewirkt hat. Meine Frau und ich lernten Frau Balser bei einem befreundeten Hotelier in Gießen kennen. Dieser brachte die alte Dame des Öfteren in seinem PKW zum Baden in Wetzlar grüne Lunge, dem Freibad Domblick. An einem heißen Sommertag vor sieben Jahren, im Juli 1975, baten mich zwei Badefrauen im Freibad doch herauszufinden, wer wohl die charmante, alte Dame sei, die sich jetzt im Wasser tummeln würde. Sie war wegen ihres geschmackvollen Kleides, ihres bunten Hutes und ihres gepflegten Make-ups aufgefallen. Wir wussten damals selbst sehr wenig von ihr. Sie erzählte uns, dass sie ihr Leben lang gerne geschwommen habe und dass sie die grüne Baumkulisse rings um das Wasserbecken im Freibad Domblick so schätze. Übrigens eine Tatsache, die die Wetzlarer Ehrenbürgerin Frau Dr. Kühn-Leitz von ausländischen Gästen mehrfach bestätigt erhalten hatte. Da die Sommertage warm blieben, erschien die alte Dame auch in den nächsten Tagen wieder. Bei den Gesprächen mit ihr stellten wir fest, dass sie intelligent, gesprächsfreudig und weitgereist war. Erst Jahre später erfuhren wir von ihrem Gießener Bekannten, dass sie bei ihren Badebesuchen in Wetzlar im Juli 1975 bereits 85 Jahre alt war, und dass sie 1958 ein Buch mit dem Titel „Ost- und westliches Gelände“ geschrieben hatte. Erst jetzt – nach ihrem Tode – hatten wir Gelegenheit, ihr fast 200 Seiten langes Buch zu lesen und vieles über ihren Lebenslauf zu erfahren. Der Inhalt des Buches dürfte nicht nur die Badefrauen und Mitschwimmer vor sieben Jahren, sondern auch viele Bürger interessieren.“

Eni wohnte inzwischen nicht mehr in der Wolfstraße. Die Wohnung wurde ihr nach meinem Auszug für sich allein zu groß. Sie zog in das ruhige Ostpreußenviertel, in die Memeler Straße. Ihren Nachbarn, einen jungen Mann mit einem Vollbart, stellte sie mir als Herrn Hühne vor, er hieße nicht nur so, er wäre auch ein Hüne. In der Memeler Straße feierten wir im Mai 1965 Enis 75. Geburtstag. Es war für lange Jahre das letzte große Familientreffen aller drei Stämme Balser. Erst zu Enis 90. Geburtstag in Darmstadt trafen wir uns wieder. Bei einem Besuch bei Eni in der Memeler Straße, es war im Jahre 1977, bat mich Eni, sie zur Toilette zu bringen. Ich musste sie tragen, denn sie schien mir gelähmt zu sein. Ich rief sofort ihre Hausärztin an und die bestätigte meine Vermu-tung. Eni wurde in die Balserische Stiftung gebracht und verbrachte dort viele Wochen, bis Onkel Karli für sie in Darmstadt ein Pflegeheim gefunden hatte. Eni war eine char-mante, aber keine einfache Persönlichkeit. Sie konnte richtig unangenehm werden. Das bekamen auch die Pflegekräfte im Krankenhaus zu spüren. Als erstes bekamen sie zu hö-ren, dass sie nicht deren Oma wäre und sich die Anrede „wir“ verbäte. Wenn Eni rief und es ihr viel zu lang dauerte, wurde nach den armen Frauen auch schon einmal mit dem Joghurtbecher geworfen. Sie brachte sich damit selbst in eine brenzliche Situation, denn sie war kein Krankheits- sondern ein Pflegefall und dafür sind Krankenhäuser nicht zuständig. Meine Mutter konnte die Situation durch den Hinweis auf die Zugehörigkeit zur Stifter-Familie Balser und die persönliche Bekanntschaft mit dem Chefarzt retten. Sie versprach, die Betreuung von Eni selbst zu übernehmen. Ich habe meine Mutter jeden Morgen zu Eni ins Krankenhaus gefahren und sie jeden Abend auch wieder abgeholt. Eni hatte selbst gemerkt, was sie angerichtet hatte und war meiner Mutter für die verein-barte Lösung sehr dankbar. Sie sprach nur noch von ihrem Engel. An eine Rückkehr Enis in ihre Wohnung in die Memeler Straße war nicht zu denken. Meine Mutter und ich lös-ten die Wohnung auf.

Mit Beginn des neuen Jahres konnte Eni in das Pflegeheim nach Darmstadt übersiedeln. Für mich war der Abschied nicht einfach. Eni war fortan auf den Rollstuhl angewiesen, sie war aber am Leben. Und daraus machte sie so viel wie nur möglich. Sie schaffte es auch in Darmstadt, sich mit jungen Leuten zu umgeben, die sie in Konzerte und Vorstellungen brachten. Ein Jahr nach ihrem 90. Geburtstag ist sie sanft entschlafen. Onkel Karli wollte ihren Mittagsschlaf nicht stören und machte leise die Zimmertür wieder zu. Nach einer halben Stunde versuchte er es erneut. Sie schien immer noch tief und fest zu schlafen. Einen so sanften Tod in einem so hohen Alter wünscht sich jeder. Meine Gabi ist froh, dass sie Eni noch kurz vorher in Darmstadt kennen lernen durfte.

Hauptstudium: Kein 68er
Auch bei mir waren die Warnungen des Zwischenexamens angekommen. Ich hatte bisher zum Teil aus der Substanz der WO gelebt und mir die Anfangserfolge zu Kopf steigen lassen. Eines stand nun fest, das leichte Studentenleben musste sofort beendet werden. Ich war nicht mehr jeden Abend auf Achse und saß öfter und länger an meinem Schreibtisch. Vorsichtshalber ließ ich mich von meinen Kommilitonen morgens zu den Vorlesungen abholen. Zum ersten Mal in meinem Leben zwang ich mich selbst zu einem geregelten Tagesablauf mit festen Lernphasen. Das Ende unserer Studienzeit war abseh-bar. Unsere Arbeitsgemeinschaft lief auf Hochtouren. Helga Waldschmidt hatte sich in-zwischen zu uns gesellt. Ich bemerkte zu meiner Überraschung, dass es mir Freude bereitete, mich an Diskussionen in Seminaren zu beteiligen. In kurzer Zeit verschaffte ich mir bei Assistenten und Professoren einen guten Ruf. Der Fachbereich Wirtschaftswissenschaften an der Uni Gießen war noch im Aufbau und die Anzahl der Studenten überschaubar. Dies machte einen persönlichen Kontakt der Studenten zu Professoren und Assistenten möglich. In dieser Zeit hatte ich engen Kontakt zu Ted. Er begleitete mich sogar zu einer frohen studentischen Feierabendrunde im „Krokodil“ mit einem unserer Professoren. Ted ist, was ich damals nicht wusste und auch nicht ahnte, immerhin zehn Jahre älter als ich und war bereits Geschäftsführer von Eli Lilly in Gießen. Er war ein jugendlicher Typ und es machte ihm nichts aus, von meinem Professor für einen seiner Studenten gehalten zu werden. Für ihn, dem Wirtschaftspraktiker und studierten Apotheker, war es sicherlich interessant, sich die theoretischen Weisheiten anzuhören und mit der Wirklichkeit zu vergleichen. Ich gehöre hinsichtlich meines Alters zu den berühmten 68ern, zählte mich aber geistig nie dazu. Als Schmidt-Anhänger lehnte ich die extreme Linke und ihre Grundeinstellung „der Zweck heiligt die Mittel“ sowie ihr letztlich eher undemokratisches Verhalten ab.

Haarlem
Das Haarlem wurde zu Beginn des Hauptstudiums mein Stammlokal. Dort war jeden Abend was los und am Wochenende war es brechend voll. Vor 22 Uhr brauchte man allerdings erst gar nicht zu erscheinen. Warum sich das Lokal erst so spät füllte, habe ich nie verstanden. Für mich als Nichtraucher waren die Studentenkeller kaum zu ertragen. Der Zigarettenqualm war so dicht, dass man kaum seinen Nachbar erkannte. Zu Hause hatte ich Schwierigkeiten mit dem Einschlafen, da mir meine Augen beim Schließen fürchterlich brannten. Das Ereignis des Jahres war der Haarlem-Fasching. Das Haarlem nannte sich zwar Studentenkeller, Student musste man aber nicht sein. Gunt Krampe und ich machten uns einen Spaß. Wir postierten uns mit wichtigem Gesicht vor der Damentoilette und fragten die Mädchen nach dem Studentenausweis. Was dann pas-sierte, hatten wir uns vorher nicht vorstellen können. Die Mädels kramten artig ihre Ausweise aus den Handtaschen. Die keinen Ausweis hatten, bettelten nervös um Einlass. Bevor sich unsere Aktion zu sehr herumsprach, haben wir sie schnell abgebrochen. Das Kultgetränk im Haarlem war der Apfelkorn und die große Flasche Apfelwein das Standardgetränk. Häufig gab es einen Spender, der die Flasche im Kreis herumreichte. Im Haarlem wurden viele Freundschaften geschlossen. Auch Ulla, die als Sekretärin beim Straßenneubauamt arbeitete, lernte ich im Jahr 1968 im Haarlem kennen. Ulla war mit ihren 17 Jahren deutlich jünger als wir, wurde aber von den beiden Krampes und ihren Freundinnen herzlich aufgenommen. Ulla war eine auffällige, fast damenhafte Erscheinung. Sie hatte viel Geschmack, ging nur geschminkt aus dem Haus und trug die teure Garderobe Ihrer Lieblingsboutique dem „Strumpfkästchen“.

Studenten-Fasching
Berühmt berüchtigt war in Gießen der Studentenfasching. Besonders beliebt waren der Mediziner- und der Physikerball. Wir feierten immer zu sechst und zogen als Gruppe andere magisch an. Ich kann mich noch gut an den Physikerfasching 1970 erinnern. Zwei Schwedinnen brachen wie der Schnee beim Gewitter über uns herein. Heinz machte an diesem Abend eine unangenehme Erfahrung. Ein junger Mann hatte ein Auge auf seine Moni geworfen und glaubte, sie ihm ausspannen zu können. Da war er aber bei Heinz an die falsche Adresse geraten. Ein Wort gab das andere und plötzlich landete eine Faust bei Heinz Mitten ins Gesicht. Ein Zahn war halb abgebrochen. Das wurde für den Übeltäter nicht billig, aber für uns war der Physikerball beendet. Heinz hatte sich einige Tage vorher bei einer Feier des Gießener Karnevalsvereins in der Kongresshalle mit Ulla und mir einen Spaß erlaubt. Ich war mit Ulla gerade auf der Tanzfläche, als eine Lautspre-cherdurchsage das Prinzenpaar aus Rödgen herzlich begrüßte. Ich hörte, wie sich jemand laut darüber wunderte, dass es selbst in dem kleinen Rödgen ein Prinzenpaar gab.

Veränderungen
Im Jahr 1970 gab es einige Veränderungen. Ulla hatte Ihre Stelle beim Straßenneubauamt aufgegeben und arbeitete als Lehrstuhlsekretärin bei Professor Weber, einem Schweizer. Dort wurde sie von den jungen Assistenten umschwärmt. Mir genau gegen-über in der Walltorstraße 28 wurde ein Appartement frei. Ulla reagierte schnell, zog bei ihren Eltern in Rödgen aus und wurde meine Nachbarin. Meinen NSU Prinz hatte ich nicht mehr. Den musste ich wegen Totalschaden verschrotten. Zur Freude von Ulla stieg ich automobilistisch auf und kaufte mir einen roten VW Käfer Cabriolet mit schwarzem Verdeck. Ein Cabrio passte zu Ulla und wurde von ihr auf besondere Weise eingeweiht. Nach dem Haare waschen fuhr ich im offenen Wagen und Ullas wehenden Haaren auf den Schiffenberg und wieder zurück. Ihre langen Haare waren trocken.

Diplomarbeit
Im 8. Semester meldete ich mich zur Diplomarbeit im Fach Organisation bei Professor Knut Bleicher an. Man konnte wählen. Entweder suchte man sich aus einem Fundus von Themen das für sich geeignete aus, dann waren dafür sechs Monate vorgesehen oder man entschied sich für eine Vierteljahresarbeit und zog sein Thema nach dem Zu-fallsprinzip aus dem Hut. Ich entschied mich für den Hut. Mein Thema hieß: „Die Kapazitätsbemessung von Aufgabenträger für die Aufgabenverteilung“. Abgabetermin war der 15.05.1970. Die größte Schwierigkeit damals war, geeignete Literatur zu finden. Google gab es leider noch nicht. Ein Drittel der Zeit brauchte ich alleine dafür. Die Uni-Bibliothek wurde meine zweite Wohnung. Ich verstehe die Diskussion von heute über die Doktorarbeiten nicht. Die eigenen Beiträge sind der kleinste Anteil einer wissenschaftlichen Arbeit und sind vor allem in der abschließenden Würdigung zu finden. Die Hauptarbeit ist das Suchen und Einsortieren von fremden Beiträgen in das Thema. Man muss richtig zitieren bzw. man darf das Zitieren nicht vergessen, auch wenn der Platzbedarf auf einer Seite für die Zitate größer wird als für den Text. Meine Diplomarbeit wurde noch mit der Schreibmaschine und zwei Durchschlägen geschrieben. Korrekturen waren sehr aufwendig. Ich hatte Glück. Als Sekretärin beherrschte Ulla das „Zehn-Finger-System“. In der Zeit, wenn sie schrieb, konnte ich mich erholen. Schließlich mussten die Exemplare noch professionell gebunden werden. Ohne Ulla wäre ich wahrscheinlich mit der Zeit nicht hingekommen.

Diplomprüfung
Meine Prüfungsfächer waren Absatzwirtschaft bei Professor Karl Alewell, Organisationslehre bei Professor Knut Bleicher und Volkswirtschaftslehre bei Professorin Helga Luckenbach. Die beste Vorbereitung für den schriftlichen Teil erschien mir, sich die Themen der vergangenen schriftlichen Arbeiten vorzunehmen. Zur Vorbereitung des mündlichen Teils besuchte ich als Zuhörer so viele Prüfungen wie ich nur konnte. Im Fach Organisation fiel mir auf, dass das Prüfungsthema des letzten Semesters bereits im Semes-ter davorgestellt wurde. Ein drittes Mal das gleiche Thema war für mich unvorstellbar. Die Zeit konnte ich mir sparen. Ein beaufsichtigender Assistent, der mich ganz gut kannte, kam angerannt. Ihm war aufgefallen, dass ich plötzlich blass, wie ein Handtuch wurde. Unglaublich, zum dritten Mal das gleiche Thema. Ich schaffte immerhin noch die Note 4 und die musste ich unbedingt in der mündlichen Prüfung ausgleichen. Bei der mündlichen Prüfung traten wir zu viert vor die Kommission. Geprüft wurde nach der Reihe. Wenn einer stecken blieb, wurde die Frage an den nächsten weitergegeben. Herr Bleicher war bekannt für eine sehr gute Rhetorik und eine geschliffene Sprache. Sein Steckenpferd in den vergangenen mündlichen Prüfungen war das Thema Synergieeffekt. Er ritt sein Steckenpferd und fragte meinen Nachbarn nach „synergistischen“ Effekten. Der konnte nicht gleich Antworten und fing an zu stottern. Professor Bleicher schaute zu mir. Ich bat zunächst um Entschuldigung, dass ich ihn korrigieren müsse, er habe sich versprochen und meine natürlich „synergetische“ Effekte. Damit hatte ich meinen Professor sichtlich beeindruckt. Mir stellte er keine Frage mehr. Mit diesem einzigen Satz habe ich die mündliche Prüfung mit der Note 2 bestanden. Die Prüfungen in den beiden anderen Fächern waren bei meinen schriftlichen Noten nur noch Formsache. Das Diplom hatte ich am 2. Juni 1971 mit dem Gesamturteil „befriedigend“ bestanden. Eine Note 3 klingt zunächst einmal nicht gerade berauschend, war aber durch die Einhaltung der Mindeststudiendauer von neun Semestern für Bewerbungen gar nicht schlecht. Üblich waren zu dieser Zeit an Deutschlands Universtäten im Schnitt zwölf Semester und in Betriebswirtschaft war eine „befriedigend“, ähnlich wie bei den Juristen, bereits ein Prädikat.

 


 

 

VOLKSWAGENWERK AG

Vorstellungsgespräche
Mein Studium war im Vergleich zu heute geprägt durch eine unglaublich große Unbeschwertheit. Die Anzahl der Studenten war gering. Man hatte noch persönlichen Kontakt zu seinem Professor und den Assistenten. Die Nachfrage nach akademisch ausgebildeten Arbeitskräften lag deutlich über dem Angebot. Im Mittelpunkt standen für mich das Studium und das Diplom. Dieses wollte ich möglichst mit der Mindestanzahl von Semestern erreichen, denn mein staatliches Stipendium (Erziehungsbeihilfe für Kriegshalbwaisen) wurde nur für die Dauer von acht Semestern plus Prüfungssemester gezahlt. Über das Danach zerbrach man sich nicht den Kopf. Karriereplanung, was ist das? Noten spielten auch nicht die große Rolle. Ein exzellentes Examen war nicht unbedingt die Voraussetzung für den Einstieg ins Berufsleben. Natürlich, schlechte Noten waren noch nie gut. Eine richtige Bewerbung um einen Arbeitsplatz habe ich nicht schreiben müssen. Das Arbeitsamt hatte eine Abteilung speziell für Universitätsabgänger, die für interessierte Firmen eine Anzeigenzeitung herausgab. Dort konnte man sich mit seinem Diplom und den wichtigsten Daten kostenlos anmelden. Wenige Wochen später erhielt ich aus ganz Deutschland eine Flut von sich bei mir bewerbenden Firmen mit einer Einladung zum Vorstellungsgespräch. Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. 

Das erste Angebot erhielt ich von Procter & Gamble, einem amerikanischen Konsumgüterkonzern mit Sitz in Schwalbach am Taunus. Eigentlich ein Traumangebot, denn Procter & Gamble sowie Unilever in Hamburg waren damals für deutsche Wirtschaftsstudenten das „Nonplusultra“. Das Vorstellungsgespräch bei P&C sollte für mich zum Schlüsselerlebnis werden. Wie gesagt, Gedanken über die berufliche Zukunft hatte man sich – oder vielleicht zumindest ich mir – nicht gemacht. So lieh ich mir einen Anzug und stieg in froher Erwartung in meinen Renault R4. Ein Auto hatte ich schon immer. Der erste Schock erwartete mich auf dem Parkplatz. Dort sah es aus wie bei einem BMW- bzw. Mercedes-Händler. Meine Selbstsicherheit war schon leicht reduziert. Das Firmengebäude war für Anfang der 70er der Hammer. Außen verkleidet mit rostbraunem, poliertem Granit, der sich übergangslos nach innen ausdehnte. Die Fenster verspiegelt und in der gleichen Farbe gehalten. Am Empfang residierte ein würdiger, stattlicher Herr mit weißem Schnauzer, der aussah wie der Vorstandsvorsitzende persönlich. Die Eingangshalle war riesig und auffallend waren die vielen Rolltreppen bzw. gläsernen Aufzüge, die von jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in teurer Businesskleidung frequentiert wur-den. Ich kam mir vor wie der arme Eifelbauer im Kölner Dom. Konkret gesagt, mein Selbstbewusstsein lag am Boden. Im Nachhinein wurde mir klar, dass dieser Firmenauftritt kein Zufall war, sondern klare Strategie gegenüber allen Besuchern egal ob Kunde, Lieferer, Gläubiger oder Bewerber. Zu dieser Strategie gehörte es auch, mich erst einmal warten zu lassen. Gleich zu Anfang des Bewerbungsgespräches machte ich den ersten Fehler. Man fragte mich, ob ich einen Kaffee trinken wolle. Leider stimmte ich zu und bekam eine randvoll gefüllte, brühend heiße Tasse. Das bemerkte ich erst so richtig beim Anfassen. Mir war sofort klar, ohne Verschütten geht bei meiner inzwischen stark ange-wachsenen Aufregung gar nichts. Als dann viele – für mich damals merkwürdige – Fragen auf mich niederprasselten, wie z. B. welche Position in drei Jahren ich mir bei P&G vorstellen könnte und ich nicht so richtig wusste, was ich darauf antworten konnte, war mir klar, die nehmen dich nicht. 

Auf dem Weg nach Hause hätte ich mich wegen meiner Dummheit selbst in den Hintern treten können. Aber, dieser Fehler, unvorbereitet in ein Gespräch oder Sitzung zu gehen, ist mir in meinem Leben nie mehr passiert. Wie vermutet, gut eine Woche nach meinem Gespräch in Schwalbach bekam ich eine freundliche Absage. Meinen Schülern habe ich später gerne diese Erfahrungen mitgeteilt und ihnen den Tipp gegeben, sich zum Einüben erst einmal dort zu bewerben, wo man gar nicht unbedingt hin will.

Hamburg und Sylt
Danach avancierte ich zum Vorstellungsprofi. Als Vorbereitung zu wichtigen Vorstel-lungsgesprächen besuchte ich zunächst Firmen in der näheren Umgebung und danach, gut trainiert, reiste ich auf Kosten der einladenden Firmen durch ganz Deutschland. In Hamburg legte ich mir die drei Firmen Kühne, Esso und Unilever in eine Woche, dadurch musste ich nur einmal anreisen. Die Firmen rechneten aber jeweils großzügig die Kosten pauschal für Bahnfahrt und Übernachtung ab und wenn man bei seinen Ausgaben sparte, hatte man ein richtiges Geschäft gemacht. In Hamburg hatte ich am Ende der Woche die Taschen voller Geld und da schönes Sommerwetter war, es war Anfang August 1971, verbrachte ich anschließend ein wunderbares Wochenende mit Ulla auf Sylt. So mancher Kommilitone glaubte, bei diesen traumhaften Bedingungen, Vorstellungsgespräche zum Fulltime-Job machen zu können. 

Das Vorstellungsgespräch bei Unilever wurde sehr professionell geführt. Bereits damals bediente man sich der Me-thode „Assessment Center“, d. h. es wurde nicht nur jeweils eine Person, sondern es wurden mehre bis zu 10 Bewerber gleichzeitig eingeladen. Dadurch entstand eine Kon-kurrenzsituation und die Firma konnte die Bewerber unmittelbar vergleichen. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, dass Mitten in einer Diskussion die Tür aufging und – wie mir schien – das Fernsehen mit zwei großen Filmkameras hereinkam. Was man sagte, war eigentlich gar nicht so wichtig, sondern wie man sich in Anwesenheit von Kameras verhielt. Das Bewerbungsgespräch dauerte zwei Tage inkl. einer Einladung zum Abendes-sen in einem sehr feinen und teuren Restaurant. Dies war keine Freundlichkeit. Man wollte die Tischmanieren der zukünftigen Mitarbeiter testen. Am zweiten Tag waren nur noch drei Bewerber übrig. Beim abschließenden Einstellungsgespräch gab es für mich eine Enttäuschung. Ich hatte mich bei Unilever auf ein Traineeprogramm beworben. Diese Ausbildung war in der deutschen Wirtschaft hoch angesehen und eröffnete bei erfolgreicher Absolvierung alle Möglichkeiten. Leider war ich Unilever mit meinen 27 Jahren dafür zu alt und sie boten mir einen Arbeits-Vertrag bei „Langnese-Iglo“ an. Dazu fehlte mir eigentlich der Mut. Irgendwie hatte man nach dem Studium das Gefühl, im Grunde nichts zu können. Da ich zu diesem Zeitpunkt bereits von VW in Wolfsburg ein Angebot als kaufmännischer Trainee in der Tasche hatte, lehnte ich das Angebot zum Erstaunen von Unilever ab. Meinen Arbeitsplatz bei VW trat ich am 01.09.1971 an. Die Volontärausbildung – so hieß damals das Traineeprogramm bei VW – war Teil der Führungskräfteausbildung sowohl für Ingenieure als auch für Kaufleute.

Männerwohnheim
Die Idee der Volontärausbildung stammte aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg in der Ära Nordhoff als gut ausgebildete männliche Arbeitskräfte knapp waren und VW sich seine Führungskräfte selbst ausbilden musste. Leiter dieses Bereichs war der in Wolfsburg sehr bekannte spätere CDU-Bundestagsabgeordnete und Oberbürgermeister Dr. Volker Köhler. Da der Volontärvertrag zeitlich begrenzt war und eine spätere Über-nahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis nicht sicher war, nahm ich mir keine eigene Wohnung, sondern quartierte mich im VW-Männerwohnheim in der Werderstr. 2 ein. Damenbesuch war nicht gerne gesehen und musste an der Pforte angemeldet werden. Das Gebäude existiert heute nicht mehr. 

Die Volontärausbildung hatte den großen Vorteil, dass man nicht direkt ins kalte Wasser des Berufslebens geworfen wurde, sondern die Gelegenheit hatte, ohne große Verantwortung zunächst viele Bereiche und Abteilungen des VW-Konzerns kennen zu lernen bzw. im Werk selbst bekannt zu werden. Die Volontäre und die ehemaligen Volontäre waren – wie ich schnell merkte – bei VW ein interner Zirkel und unterstützten sich gegenseitig. Es wurden, z. B. nach Feierabend, Fit-nesskurse angeboten. Trainer war der Olympiateilnehmer und Bronzemedaillen-Gewinner der Europameisterschaft im Zehnkampf Horst Beyer. Der Höhepunkt des Jahres war ein rauschender Ball. In Freundschaft verbunden war ich mit zwei Volontärskollegen, Ingenieure aus Schleswig-Holstein, mit denen ich gemeinsam im Männerwohnheim wohnte. Beide waren in erster Linie an der hervorragenden Ausbildung bei VW interessiert, die wegen der vielen Kurse, z. B. in Schweißtechnik, gerade für Ingenieure sehr attraktiv und bares Geld wert waren. 

Bernhard und Peter verließen leider VW direkt nach Beendigung der Ausbildung und begannen ein Referendariat im Bereich Berufsschule. Deren Beispiel hat meine spätere Entscheidung, Lehrer zu werden, sicherlich beeinflusst. Peter ging wieder zurück zu seiner Frau Rita und dem Haus in Schönkirchen bei Kiel. Wir trafen uns danach mehrere Male, auch in Gießen und sogar zufällig im Urlaub mit Rita vor dem Spielcasino in Monte Carlo. Inzwischen ist der Kontakt vollkommen abgebrochen. Bernhard blieb in Wolfsburg-Fallersleben und arbeitete an der gewerblichen Berufsschule, zuletzt als Abteilungsleiter und Studiendirektor. Wie Peter war er sehr früh in der Politik aktiv. Peter bei der SPD und Bernhard bei der CDU. In Wolfsburg war Bernhard sogar Ratsmitglied. Seit einigen Jahren ist er Präsidiumsmitglied und Schulpolitischer Sprecher im Sozialverband Deutschland. Auch Bernhard traf ich zufällig im Urlaub. Ich war mit Gabi und Eddis Tochter Ulrike von Vieux Boucau aus zur größten Düne Europas, der Düne Pyla gefahren. Das Wetter war zu gut und daher kaum jemand auf der Düne, als ich von weitem eine Gestalt auf mich zukommen sah, die mir bekannt vorkam. Als wir uns näherkamen, erkannte ich Bernhard mit seiner Frau und wir rann-ten wie in einem Kitschfilm aufeinander zu und fielen uns in die Arme. So weit musste ich fahren, um Bernhard wieder zu sehen. Vor nicht allzu langer Zeit war ich mit dem gesamten Kollegium auf Einladung von VW in der Autostadt. Fahrt und Verpflegung, Eintritt und Imbiss sowie eine Besichtigung der Montagehallen waren kostenlos. In der Kaffeepause traf ich mich mit Bernhard zu einem kurzen, aber gemütlichen Besuch in Altwolfsburg.

Volontärsausbildung als Teil der Führungskräfteausbildung
In meiner ersten Station, dem Bereich Unternehmensplanung, sollte ich in den ange-setzten sechs Wochen die zukünftigen Möglichkeiten von VW in Südamerika im Rahmen des neu gegründeten Andenbundes ausloten. Den Auftrag empfand ich eher als eine Be-schäftigungsmaßnahme. 

Dennoch wurde mein Bericht gedruckt, gebunden und verteilt. Der Andenbund war eine Todgeburt und blieb bis zu seinem schnellen Ende ohne Bedeutung. Die Abteilung hatte im Nachhinein für mich nur einen Vorteil, ich lernte Gabriele, die Sekretärin des Bereichsleiters kennen. Wir trafen uns regelmäßig zum gemeinsamen Mittagessen in der Werkskantine. Gabriele war eine tüchtige, blitzgescheite junge Frau und, wie auch ich, in festen Händen. Ich blieb mit ihr bis zu meinem Ausscheiden von VW freundschaftlich verbunden. Der Vertrieb war schon eher nach meinem Geschmack. Im Bereich Inland arbeitete ich 11 und im Bereich Export 8 Wochen. Ich habe in den beiden Bereichen viele nette Kollegen kennengelernt, was mir später bei meiner Arbeit sehr geholfen hat. Ein besonderes Gaudium war für mich der Neuwagenverkäuferlehrgang im Vertrieb Inland. Ich hatte dabei die seltene Gelegenheit, alle VW-Konkurrenten auf dem VW-Versuchsgelände Ehra-Lessien zu testen, einmal festzustellen, was die Motoren auf den Teststrecken hergaben. Ein Volltreffer war der Zentralbereich Marketing. Die angesetzten 4 Wochen in der Abteilung Zentrale Marketingplanung vergingen wie im Fluge. Eigentlich hatte ich mich schon auf den Vertrieb Inland eingeschossen. Aber wie immer im Leben, das Bessere ist des Guten sein Feind. Die anschließende Arbeit in der Zentralen Marktforschung war mir zu wissenschaftlich, zu trocken. Ich blieb nur zwei Wochen. Dort arbeitete zunächst mein Mitvolontär Peter Giffhorn. Peter machte bei VW eine steile Karriere. 1994 wurde er Vertriebsleiter Deutschland.

Die drei Wochen bei Audi in Ingolstadt habe ich sehr genossen. Dort war für mich alles anders. Das VW-Werk in Wolfsburg ist eine Stadt für sich, hermetisch durch einen Zaun abgeriegelt und mit nächtlichen Hundestreifen gesichert. Auf das Gelände gelangt man nur durch spezielle Pforten nach Zeigen des VW-Ausweises. Ein Verlassen des Geländes während der Arbeitszeit war nur für außertariflich bezahlte Mitarbeiter, also nur für Führungskräfte, möglich. Bei der VW-Tochter Audi war ich mit meinem VW-Ausweis eine Respektsperson und konnte das Gelände betreten und verlassen, wie und wann ich wollte. Mit meinem Werkswagen und Wolfsburger Nummernschild war es mir sogar erlaubt, auf dem Audi-Gelände zu parken. Und das Allerstärkste, in der Werkskantine von Audi wurde frisches Bier gezapft. So sind´s die Bayern, in Wolfsburg undenkbar.

Auf die drei Wochen in der Konzernbuchhaltung von VW hätte ich verzichten können. An Buchhaltung und Controlling hatte ich überhaupt kein Interesse. Außerdem war ich mir in meiner Entscheidung für die Abteilung Zentrale Marketingplanung schon sicher. Prof. Dietger Hahn von der Uni Gießen (Industrial Management und Controlling) hatte enge Verbindungen mit der Konzernbuchhaltung bei VW. So musste ich erst einmal klarstellen, dass ich nicht durch die Protektion von Prof. Hahn zu VW gekommen war.

VW bot seinen Volontären aber nicht nur den Einblick in seine Abteilungen, sondern auch eine Reihe von sehr interessanten Lehrgängen, z. B. Netzplantechnik und Rhetorik. Sehr anstrengend waren die Seminare im Haus Rhode bei Königslutter. In diesem, von einem großen Park umgebenen, im klassizistischen Stil erbauten Herrensitz war das VW-Management-, Bildungs- und Kommunikationszentrum untergebracht. Das Haus wurde hotelähnlich betrieben, hatte eine vorzügliche Küche und komfortable Zimmer. Der Her-rensitz lag sehr einsam und die Abende nach den Seminaren wären richtig öde gewor-den, wenn es nicht zwei prall mit geistigen Getränken gefüllte hohe Kühlschränke gegeben hätte. Bereits vor Mitternacht waren die Schränke zumeist leer. Ich erinnere mich noch sehr genau an ein Rhetorikseminar, bei dem man sich ein Thema aus dem Hut greifen und aus dem Stegreif über das gezogene Thema referieren musste. Mein Thema war „Kann man bei der Vielzahl der Gastarbeiter noch von Made in Germany sprechen?“ Glücklicherweise kannte ich noch aus dem Unterricht in der Wirtschaftsoberschule in Gießen die Entstehungsgeschichte von „Made in Germany“ und so war ein schneller Einstieg ins Thema gesichert. 

Bei den Rhetorikseminaren im Haus Rhode war ich wohl positiv aufgefallen, denn später – ich war bereits in Amt und Würden – wurde ich immer wieder einmal angesprochen, in der VW-Bildungsstätte in Bad Harzburg Wirtschaftslehrgänge für angehende Meister abzuhalten. Dies war zusammen mit meiner Ausbildertätigkeit bei der Bundeswehr eine gute Vorbereitung für meinen späteren Lehrerberuf. Die Tage in Bad Harzburg habe ich als willkommene Abwechslung vom Alltag in Wolfsburg empfunden.

Braunschweig
Die Abende in Wolfsburg waren kaum auszuhalten. Wenn man ausgehen wollte, fuhr man nach Braunschweig. Dort studierte vorübergehend Moni, die Freundin von Heinz, Pharmazie und mein Studienkollege Ernst Arno arbeitete wie ich bei VW in Wolfsburg. Gemeinschaftliche Heimfahrten am Freitag verbilligten die Fahrten und verhinderten das Einschlafen auf der Rückfahrt in meinen Karotten gelben Käfer 1302. Mit Arno war es immer lustig. In Wolfsburg gab es plötzlich Blitzeis. Bevor ich es bemerken konnte, fing mein Käfer an sich zu drehen, kam von der Fahrbahn ab und nahm einen Begrenzungsfahl mit. Als wir ausstiegen sah ich die Bescherung. Der Pfahl hatte in die Vorderhaube eine große Delle geschlagen. Arno meinte, kein Problem. Öffnete die Motorhaube und schlug von innen gegen die Wölbung. Peng, weg war die Delle. Arno blieb nur ein Jahr bei VW, wurde Unternehmensberater und machte sich später in der Schweiz selbständig. Auf seinen stressigen Beruf und seinen Porsche 911 war Arno sehr stolz und ignorierte die Signale des Körpers. Schließlich ist er sehr früh an einem Herzinfarkt gestorben.

Eines Nachts fuhr ich leicht angeheitert aus einer Disco in Braunschweig nach Hause. Die Straße, die in die Innenstadt Wolfsburgs führt, ist vierspurig mit einem Mittelstreifen. Dadurch vergaß ich, dass ich nicht auf der Autobahn fuhr. Hinter mir sah ich Blaulicht und eine Polizeikelle winken. Zwei junge Männer in Zivil stiegen aus. Werde ich jetzt überfallen, dachte ich kurz. Ich hatte noch nie eine Zivilstreife erlebt. Bloß nicht blasen müssen. Meinen Führerschein hatte ich im Männerwohnheim deponiert. „Fahren Sie vor!“ Bis hierhin war noch alles gut gegangen. An der Ampel, am Ende der autobahn-ähnlichen Straße würgte ich vor lauter Aufregung den Motor ab. Mein linkes Bein zitter-te so stark, dass ich die Kupplung nicht richtig durchtreten konnte. Vor dem Männerwohnheim mussten die beiden Polizisten recht lange warten, weil ich in der Aufregung den Führerschein nicht sofort fand. Ich war auf alles gefasst. „Warum nicht gleich“, sagte der eine. „Immer schön dabeihaben“, der andere und verabschiedeten sich, breit grinsend.

Abteilung zentrale Marketingplanung
Im Anschluss an die knapp zehnmonatige Volontärausbildung konnte ich mir meine künftige Abteilung selbst aussuchen, natürlich nur mit Zustimmung des betreffenden Abteilungsleiters. Ich entschied mich für die Abteilung „Zentrale Marketingplanung“ (Leiter Dr. Helmut Lerchner, wechselte 1973 zu Rollei, zuletzt Vorstandsvorsitzender des Automobilzulieferers Elring Klinger AG, seit 2004 im Ruhestand). Die Arbeit dort hatte mir während meiner Volontärausbildung am besten gefallen und die künftigen Möglichkeiten erschienen mir grenzenlos zu sein. Die Abteilung gehörte zum „Zentralbereich Marketing“ (Bereichsleiter Klaus Vacano, ab 1985 Geschäftsführer der VVG, seit 1995 im Ruhestand, inzwischen verstorben). Dieser Bereich war dem Vorstand Vertrieb (Leiter Dr. Carl H. Hahn bis 1973, danach Wechsel zu Continental, ab 1982 bis 1993 Vor-standsvorsitzender von VW) direkt unterstellt.

Meine Tätigkeiten
Die Abteilung Zentrale Marketingplanung war klein und bestand in ihrem operativen Kern eigentlich nur aus drei Personen: dem Abteilungsleiter Dr. Helmut Lerchner bzw. später Dr. Gerd Burmann (bis August 1997 und danach im Ruhestand), dem Referenten Friedrich-Wilhelm Klitzke (später Produktmanager des VW Sharan, seit 2001 im Ruhestand) und meiner Person. Die Abteilung war für die Marke VW und für alle Töchter im In- und Ausland zuständig. Meine Zeit im VW-Marketing deckt sich zufällig fast genau mit der Ära des Vorstandsvorsitzenden Dr. Rudolf Leiding (01.10.1971 – 31.01.1975). Sie war für VW eine Zeit des Umbruchs und für mich die arbeitsreichste und spannendste Phase meines Lebens. Denn lange Zeit schien es, die Marke VW marschiere geradewegs in eine existenzielle Krise.

Die Verkaufszahlen von VW und insbesondere die des Käfers gingen dramatisch zurück. Die alte Konzeption von VW „luftgekühlte Heckmotoren“ war am Ende und die neue Konzeption „wassergekühlte Frontmotoren“ musste schnell umgesetzt werden.

Zu den regelmäßigen Aufgaben gehörten:

 

  • Entwicklung der Marketing-Strategie für die Konzernmarken und für bestehende bzw. noch einzuführende neue Produkte, Leistungen und Produktsonderserien,
  • Erarbeitung von Vorschlägen zu vertriebspolitischen Fragen und für die Positionierung neuer Produkte im Markt und innerhalb des Konzernprogramms,
  • Konzipierung von Zielvorgaben für Maßnahmen im Rahmen der jährlichen Vertriebspläne bzw. Maßnahmen-Ziele für die jährlichen Vertriebspläne,
  • Beschreibung der Grundlagen der mittel- und langfristigen Produktpolitik bzw. langfristigen Marketingpläne,
  • Koordination und Abstimmung mit den Fachabteilungen der VW AG und ihrer Tochter-gesellschaften
  • Namensgebung

 


Als besondere Herausforderung hatte ich – zusammen mit meinem Kollegen Friedrich-Wilhelm Klitzke – die schwierige Aufgabe, Vorschläge für die Namen der neuen VW-Modelle zu entwickeln. Ich bin sehr stolz auf den außerordentlichen Erfolg unserer Na-men VW Scirocco, VW Golf und VW Polo, für die auch heute noch wichtigsten Modelle der Marke VW. Von mir stammte die Idee, den von VW angestrebten neuen Weg nach außen durch einen Wechsel der Modellbezeichnungen zu verdeutlichen: weg von den langweiligen Modellnummern – hin zu griffigen Modellnamen.

Die Namensgebung wurde zunächst im Bereich „Public Relations“ angesiedelt. Ursprünglich sollten die Namen aller neuen Modelle wegen der angestrebten Familienähnlichkeit mit einem „X“ enden. Diese Idee wurde aber im letzten Moment aus rechtlichen Gründen verworfen. Wenn ich mich recht erinnere, hatte sich die Firma Fichtel & Sachs die Rechte bereits gesichert. VW lief die Zeit davon. Die gebeutelten VW-Händler brauchten dringend neue attraktive Fahrzeuge. Zwar arbeitete VW bereits an einem Käfer-Nachfolger dieser modernen Konzeption, aber die Zeit und auch das Geld waren knapp, vor allem für die Entwicklung der oberhalb des Käfers angesiedelten VW-Modelle. In der Not besann man sich des Baukastenprinzips und der guten Vorarbeit der Tochter Audi und bot kurz entschlossen den Audi 80 mit Schrägheck und großer Heckklappe als neu-en VW an. Keine leichte Entscheidung für die stolze Mutter VW. Die PR-Abteilung muss-te sich sehr kurzfristig ohne Kenntnisse der künftigen Möglichkeiten auf einen Namen festlegen. Die Entscheidung fiel auf „VW Passat“. Damit war die Richtung, nämlich Windnamen, für die nachfolgenden neuen Fahrzeuge vorgegeben. Es stellte sich im Nachhinein heraus, der frische Wind bei VW hätte kaum besser symbolisiert werden können als durch die Verwendung des von den Seglern so geschätzten Passat-Windes. Danach wechselte die Aufgabe der Erarbeitung von Namensvorschlägen zum Vertrieb in meine Abteilung „Zentrale Marketingplanung“.

Scirocco
Mein Kollege Klitzke und ich hatten die besondere Schwierigkeit, für gleich zwei neue Fahrzeuge Produktnamen zu finden, denn die Marke VW entwickelte parallel zum Käfer-Nachfolger auf gleicher Basis eine sportliche Variante, von den Technikern Coupé 2+2 bezeichnet. Aus der Sicht des Marketings konnte ich diese holprige, technische Bezeichnung nicht stehen lassen und taufte dieses sportliche Fahrzeug „Sportcoupé“. In der Produktbeschreibung des Marketings verwendete ich im Zusammenhang mit dem äußeren und inneren Erscheinungsbild des neuen Fahrzeuges meine Wortschöpfung „Anmutung“. Die Automobil-Journalisten übernehmen gerne vorformulierte Texte für ihre Berichte und so fand der Begriff „Anmutung“ rasch große Verbreitung – er wird inzwi-schen sogar universell verwendet. Das Sportcoupé hat sich zu einem eigenen Fahrzeugsegment gemausert. Das neue sportliche Fahrzeug sollte zeitlich vor der Limousine vorgestellt werden, um das positive Image des Sportcoupés auf den Käfer-Nachfolger zu übertragen. Schnell stellten Klitzke und ich fest, dass die meisten Windnamen entweder bereits rechtlich geschützt oder nicht geeignet waren. Die Ausbeute unserer Recherche war äußerst mager. Es blieb eigentlich nur ein einziger Name übrig, der in Italien gefürchtete heiße Wüstenwind aus Afrika: Scirocco. Wir hatten Glück. Alle nach der Einführung durchgeführten Verbraucherbefragungen kamen zu ein und demselben Ergebnis: der Name VW Scirocco war ein Volltreffer. Er passte hervorragend zu dem Produkt Automobil und insbesondere zu einem sportlichen Coupé. Danach war mit Windnamen leider Schluss.

Golf
Zu Wind passt Wasser. „Golf“ als verkürzte Bezeichnung des Golfstromes war die ursprüngliche Idee für den Namen des wenig später angebotenen Käfer-Nachfolgers. „Spiegel Online“ irrt mit der Behauptung, ursprünglich hätte der Käfer-Nachfolger Scirocco und seine sportliche Variante Scirocco Coupé heißen sollen. Wir im Marketing waren uns einig, zu einem eigenständigen Fahrzeug gehört auch ein eigenständiger Modellname. Die Werbeagentur „Doyle Dane Bernbach“ brachte die Namensgebung in eine andere Richtung mit der Werbeaktion „Der neue Volkssport: Golf“. Golf als Sportart, daran hatten wir eigentlich nicht gedacht. Aber die Werbeaktion war einfach zu gut, um sie abzuschmettern. Wir fingen an umzudenken. Nun war der Weg frei für Namen von Sportarten. Selbst die größten Optimisten bei VW konnten nicht glauben, dass es möglich wäre, die vom Käfer gewohnten hohen Verkaufszahlen mit nur einem Nachfolger zu erreichen. So standen wir Ende 1973 in einer großen leeren Halle der FE (Forschung und Entwicklung) und begutachteten zwei auf Hochglanz polierte Prototypen: der von Giugiaro gestylte künftige VW Golf und das Konkurrenzprodukt der Tochterfirma, der Audi 50. Der Golf war etwas größer, der Audi 50 dagegen wirkte flotter. Wir waren damals absolut nicht sicher, welches der beiden Fahrzeuge das erfolgreichere sein werde. Da aber zu diesem Zeitpunkt bereits feststand, dass beide Fahrzeuge in Wolfsburg vom Band laufen würden, überlegten wir, ob nicht beide unter der Marke VW als Nachfolger für den Käfer antreten sollten. Audi war verständlicherweise von dieser Idee nicht begeistert. Die Entscheidung wurde zunächst vertagt und man beschloss, erst einmal den Erfolg vom neuen VW Golf abzuwarten.

Polo
Klaus Vacano fand auf mein Anraten schließlich einen Kompromiss. Ermutigt durch den Verkaufserfolg VW Passat, schlug er vor, das Baukastenprinzip erneut zu nutzen und den Audi 50, diesmal sogar gänzlich unverändert, als zukünftigen VW nicht anstatt, sondern zusätzlich anzubieten. Dieser kühne Vorschlag traf beim Bereich Entwicklung auf großen Widerstand. Die VW-Techniker, die es gewohnt waren, jedes Auto komplett neu zu entwickeln, konnten es sich nicht vorstellen, dass die VW-Kunden dieses „Duplikat“ annehmen. Denn tatsächlich sollten lediglich im Kühlergrill die vier Audi-Ringe durch den VW-Lollipop ausgetauscht werden. Wie bekannt, wurde dann ein halbes Jahr nach Einführung des Audi 50 aus diesem der erste VW Polo. Von meinem Bereichsleiter Klaus Vacano war ich sehr beeindruckt. Er war ein Mann mit einer außergewöhnlich schnellen und hervorragenden Auffassungsgabe. Vor Besprechungen über Themen meine Abteilung betreffend hatte ich ihn schriftlich zu „briefen“. Das funktionierte zeitlich nicht immer. So kam es vor, dass ich ihn erst auf dem Weg zur Besprechung informieren konnte. Er trug dann die Vorschläge und Argumente so überzeugend und geschliffen formuliert vor, als wären es seine eigenen.

Vor der offiziellen Vorstellung des neuen Kleinwagens hatte der Vertrieb seine Händler-organisation weltweit aufgefordert, sich an der Namensgebung zu beteiligen. Ein von dem Generalimporteur in Italien vorgeschlagener Name „Pony“ lag sehr gut im Rennen. Die letzte Entscheidung über den künftigen Namen eines neuen Fahrzeuges lag bei einem Gremium aus Vorstand und Aufsichtsrat, das im Penthaus des VW-Hochhauses tagte. Über solch bevorstehende Termine wurde meine Abteilung allerdings nicht informiert und so traf es mich bei der Entscheidung zum VW Polo aus heiterem Himmel. Ich musste schnellstmöglich mit dem Fahrstuhl in den letzten Stock des Hochhauses fahren und meine kommentierten Namensvorschläge bei der Sekretärin des Vorstandsvorsitzenden Dr. Leiding abgeben. In meiner Stellungnahme gegenüber dem Gremium riet ich von dem Namen Pony ab. Der Name passte zwar vordergründig zu einem kleinen Auto, aber nicht zu dem zu erwartenden hohen Preis des Kleinwagens. Entscheidend für die Höhe des Preises eines Autos ist nicht in erster Linie die Größe, sondern die eingebaute Technik. Das Gremium folgte meiner Argumentation, akzeptierte die Verwendung von Sportnamen für kompakte Fahrzeuge und entschied sich für meinen Namensvorschlag „VW Polo“. Da dieser diesmal nicht im Team, sondern von mir allein erarbeitet wurde, kann ich behaupten, der Namensgeber des VW Polo zu sein.

Spanische Inquisition
Der Leiter des Vertriebs Dr. Carl H. Hahn hatte 1972 eine Gastprofessur an der TU Braunschweig im Bereich Automobilwesen. An seiner Vorlesung durfte ich mehrere Male teilnehmen und auch die eine oder andere Vorlesung über Automobilmarketing mithelfen zu konzipieren. Dies war für mich eine große Ehre und die Zusammenführung von Theorie und Praxis machte mir viel Spaß. Leider hat mir diese Aufgabe überraschenderweise aber auch Ärger eingebracht. Ich erinnere mich an eine nahezu groteske Situation an der Wache Sandkamp. Dr. Hahn benötigte das Manuskript für eine Vorlesung. Während des regulären Dienstes so nebenbei war dies nicht zu schaffen. Zuhause erwartete mich niemand, also blieb ich im Werk und feilte in aller Ruhe an meinen Formulierun-gen. Als ich gegen 23 Uhr die Wache Sandkamp passieren wollte, bat mich der Wachmann freundlich herein ins Wachhäuschen. Ich ging davon aus, dass er – wie üb-lich – meine Aktentasche durchsuchen wolle. Daran hatte er aber kein Interesse, sondern fragte mich, woher ich zu so später Stunde komme. Meine Antwort schien ihn aber gar nicht zu interessieren. Er belehrte mich umgehend, dass ich als tariflich gebun-dener Mitarbeiter das VW-Gelände spätestens um 22 Uhr zu verlassen hätte. Er müsse mich leider melden. Eine Woche später bekam ich vom VW-Betriebsrat eine Einladung zur Anhörung. Diese Veranstaltung erinnerte jedoch eher an die spanische Inquisition. Widerstand war zwecklos und ich versprach reumütig Besserung. Damit war die Sache erledigt. Hier offenbarte sich die Macht der Gewerkschaften bei VW und daran hat sich grundsätzlich bis heute nicht viel geändert. Für meinen Abteilungsleiter Dr. Burmann war ich ein Held und er gab mir den Rat, mich bei der Deutschen Angestellten Gewerk-schaft (DAG) zu organisieren. Später war es ausgerechnet die DAG in Gießen, bei der ich nebenberuflich in der Erwachsenenbildung tätig wurde. Dr. Burmann war ein wunderbarer Chef. Ich verstand mich mit ihm blendend. Diskussionen verliefen bei ihm immer ergebnisoffen und er machte mir Mut, eigene Ansichten zu äußern. Ich hielt viel von ihm und ich bin mir sicher, er hielt auch viel von mir. Herrn Prof. Dr. Carl H. Hahn habe ich nach fast 45 Jahren bei meinem Besuch des Messestandes von Audi auf der IAA 2015 in Frankfurt wiedergetroffen und darüber im SM berichtet.

Allein in Wolfsburg
Die äußerst arbeitsreiche, dabei aber sehr interessante Arbeit bei VW hat mich nie über Gebühr angestrengt, sondern mir immer sehr viel Spaß bereitet. Was mit der Zeit für mich unangenehm wurde, war die Einsamkeit in Wolfsburg. Man muss sich das damalige Wolfsburg so vorstellen. An der Zonengrenze aus dem Nichts aufgebaut, nördlich die Lüneburger Heide, südlich der Harz. Hinsichtlich des Straßenbildes war Wolfsburg eine nahezu menschenleere Arbeiterstadt ohne ein richtiges Zentrum, Frankfurter Westend ohne Frankfurt, mit Rushhour lediglich zu den Schichtwechseln im Werk. Autobahnähnliche Hauptstraßen führten direkt zum VW-Werk. Man nannte dies „autogerechte Stadt“. Heute hätte ich mit dieser Situation weniger Probleme, aber für einen jungen „Single“, der in einer Universitätsstadt mit Kneipenkultur aufgewachsen ist, waren die „einarmigen Banditen“ in den Eckkneipen von Wolfsburg kein Ersatz. Freundschaften mit Arbeitskollegen waren sehr schwierig aufzubauen, zumal die Kollegen fast immer bereits verheiratet waren und Familie hatten. Generell wurde in Wolfsburg damals sehr früh geheiratet, allerdings auch wieder schnell geschieden. Das Junggesellenleben in Wolfsburg war trübe, dafür waren die Löhne und Gehälter bei VW fürstlich.

Symptomatisch dafür, welche Auswüchse das Alleinsein in Wolfsburg erreichen konnte, war mein 29. Geburtstag. Den hatte ich glatt vergessen. Daran erinnert hatten mich meine Kollegen. Ich kam vom Frühstück und sah von weitem ein Geschenk auf meinem Schreibtisch stehen. Nach kurzer Überlegung fiel es mir ein, ich hatte Geburtstag. In der Abteilung war es üblich, an seinem Geburtstag für die Kollegen ein Frühstück auszugeben. Ich drehte mich auf dem Absatz um und schnell zurück in die Kantine.

Kleiststr. 59
Inzwischen wohnte ich nicht mehr im Männerwohnheim, sondern hatte seit Ende 1972 eine sehr preiswerte Werkswohnung (zwei Zimmer, Küche und Bad für 120 DM im Monat) im Erdgeschoss in der Kleiststraße 59 unweit vom VW-Werk. Ich konnte zu Fuß zur Arbeit gehen. Die Idee, Ulla Anfang 1973 nach Wolfsburg zu holen, ohne für sie bereits einen Arbeitsplatz zu haben, erwies sich als unüberlegt. Sie war in Wolfsburg den ganzen Tag allein, ohne eine Menschenseele zu kennen. Das Experiment Ulla in Wolfsburg scheiterte und sie ging zurück nach Gießen. Die akademische Umgebung ihrer Arbeitsstelle bei Professor Weber hatte ihren Ehrgeiz angeregt. Sie wollte das Abitur am Abendgymnasium nachholen. Ihre Freizeit schrumpfte und meine Wochenendheimfahrten gestalteten sich problematisch. Für mich hatte sie nur wenig Zeit. Es sei denn, ich half ihr bei ihren schulischen Vorbereitungen. Ulla kam mit der Doppeltbelastung Arbeit und Abendschule nicht zurecht und wechselte ins Hessenkolleg nach Wetzlar. An unserem Problem änderte sich aber wenig. Ich fragte mich, warum ich die vielen Kilometer von Wolfsburg nach Gießen auf mich nehmen sollte. Die Beziehung ging auseinander.

Baabek
In Gießen wohnte ich wieder bei meiner Mutter in der Walltorstraße. Über ihr war ein persischer Arzt mit Frau und zwei kleinen Buben eingezogen. Der kleine Baabek hatte es meiner Mutter angetan. Er war ein Sonnenschein. Meine Mutter hatte Baabek versprochen, dass ich die Schallplatte mit der „Indianer-Musik“ aus Wolfsburg mitbrächte. Sie meinte damit die Schallplatte von Carlos Otero und dem Lied vom Wind Schirokko. Meine Mutter hatte Baabek erzählt, dass ich den Namen für das VW-Sportcoupé erfunden hätte. Er war gespannt und ich hatte die Schallplatte vergessen. Baabek zeigte enttäuscht drohend sein kleines Fäustchen. In diesem Moment betrat ich das Zimmer. Er hatte es nicht so gemeint. Sichtlich beschämt stammelte er nur „och, och, och“. 

Der älteste Sohn Farzin eiferte seinem Vater nach und wurde ein zielstrebiger Student der Medizin. Bei der Vorlesung, anlässlich seiner Habilitation in Frankfurt, hatte er meine Mutter und mich eingeladen und zu seiner Einführung als Chefarzt in Darmstadt ebenfalls. Leider war ich bei seiner Hochzeit bereits im Urlaub.  Der jüngste Sohn Jascha wurde Muttis neuer Liebling. Auch er hatte dieses charmante, warmherzige Wesen. Jaschas Interesse an der Medizin war zunächst nicht sehr ausgeprägt. Er hatte eher kreative, künstlerische Neigungen und wurde Architekt. Aber er wäre nicht der Sohn seines Vaters, wenn er dabeigeblieben wäre. Inzwischen hat er sein Medizinstudium erfolgreich beendet und arbeitet als niedergelassener Arzt in Frankfurt. Firouz kaufte sich in Bad Nauheim unter-halb des Johannesbergs eine wunderschöne Villa mit einem markanten Eckturm und Zwiebeldach aus der Gründerzeit. Meine Mutter meinte, das Haus aus Enis Beschreibungen zu kennen. Eni hatte in ihrer Kindheit oft ihren Onkel Ludwig Conrad Theobald in seiner Villa Nizza in Bad Nauheim besucht. Onkel Louis war der Eigentümer des Hotels Kaiserhof in der Bahnhofsallee. Bei den Renovierungsarbeiten fand man auf einem Bal-ken die Eintragung: Villa Nizza, gebaut 1896 von Ludwig Conrad Theobald. Meine Mutter hatte, wie früher Eni bei ihrem Onkel Louis, ihr eigenes Zimmer mit Bad und Toilette. Dort, zusammen mit den Kindern, war sie glücklich.

Gehaltserhöhung
Mit dem Standort Wolfsburg hatte ich innerlich abgeschlossen. Ich wollte wieder zurück in die heimische Region und begann Bewerbungen zu schreiben. Um mich bei den betreffenden Firmen vorstellen zu können, war es nötig, mir einzelne Urlaubstage zu nehmen. Meinem Abteilungsleiter fiel dies auf und er bot mir eine kräftige Gehaltserhöhung an, wenn ich bei VW bliebe. Dies war sehr außergewöhnlich, denn inzwischen ging es mit den Verkaufszahlen bei VW deutlich bergab und der Vorstand hatte inzwischen einen Lohn- und Gehaltsstopp verhängt. Ein Angebot hatte ich von der Firma „Deutsche Anlagen-Leasing“ in Mainz, aber das Angebot von VW war sehr verlockend. So blieb ich zunächst in Wolfsburg.

IAA Frankfurt
Meine Begeisterung für die IAA Frankfurt stammt auch aus dieser Zeit. Im September 1973 wurde ich für zwei Wochen als Standpersonal nach Frankfurt abgeordnet. Endlich wieder einmal in Hessen, bei guter Verpflegung und komfortabler Übernachtung im Steigenberger Hotel, mit fürstlich bezahlten Überstunden und kompletter Einkleidung von Kopf bis zu Fuß auf Kosten von VW. Mein erster Anzug, nein, es war eigentlich eine Kombination aus heller Stoffhose und dunkelgrünem Jackett. Um meine Freude zu verstehen, muss man folgende Begebenheit kennen. Eines Morgens fragte mich mein Abteilungsleiter, ob mir irgendetwas auffiele. Ich drehte mich um und konnte aber trotz intensiver Beobachtung meiner Umgebung nichts Auffälliges finden. Ich sollte doch mal mich mit den anderen Kollegen vergleichen. Da dämmerte es mir. Als Relikt aus alten Studentenzeiten trug ich kein Jackett, immer Pullover. Meine Entgegnung, dass wir im verriegelten VW-Werk kein Publikumsverkehr hätten, konterte er mit der Bemerkung, ein Pullover wäre nicht Stil des Hauses. Da kam mir die Kompletteinkleidung zur IAA natürlich sehr gelegen. Meine Tätigkeit auf der IAA hatte noch andere Vorteile. Meine Heimfahrt war diesmal dienstlich und meine Unterkunft auch. Am Wochenende wohnte ich in Frankfurt komfortabel im Steigenberger Hotel. Die erheblichen Überstunden bekam ich gut bezahlt.

Wochentags hatte ich mit der Situation in Wolfsburg weniger Probleme, denn ich war mit einem langen Arbeitstag ausreichend beschäftigt. Problematisch waren allerdings die langweiligen Wochenenden. Die häufigen Heimfahrten nach Gießen waren auf Dauer keine Lösung. Vor allem im Winter war die Fahrt sehr anstrengend, auch wenn die Au-tobahnen damals im Vergleich zu heute frei waren. Im Jahr 1974 hatte ich die Gelegenheit von einem Bereichsleiter einen nur sechs Monate alten VW-Porsche 914 als Werkswagen sehr preiswert zu kaufen. Der Sportwagen fiel mit seiner einmaligen Sonderfarbe Kupfermetallic auf. Die Kasseler Berge wurden zwar mit dem schnittigen Sportwagen deutlich flacher als mit meinem VW K 70, aber das Problem „Sekundenschlaf“ während der Rückfahrt nach Wolfsburg am Sonntagabend blieb bestehen. Es half kein weit aufgedrehtes Seitenfenster und auch kein Mitsingen bei lauter Radiomusik.

Südfrankreich brachte die Wende
Im Sommer 1974 fuhren meine neue Freundin und ich mit Heinz und Moni nach Südfrankreich. Der Urlaub wurde äußerst ereignisreich. Wir hatten uns kurzfristig entschlossen und natürlich keine Unterkunft gebucht. Während der Hauptsaison ist dies ein großer Fehler. Die Côte d’Azur war natürlich ausgebucht. Für die erste Nacht blieb uns lediglich das stinkteure Hotel du Golfe. Am nächsten Morgen machten wir uns auf die Suche und hatten Glück. „Les Mas de Brugassieres“ in Plan de la Tour hatte gerade erst eröffnet und wir waren die ersten Gäste. Daher konnte sich der Hotelier auch noch an uns erinnern, als mein Bruder zwei Jahre später auch dort wohnte. Die eine oder andere kleine Baustelle existierte zwar noch, aber die Zimmer mit Terrasse waren kaum zu toppen und es gab einen Swimmingpool sowie einen Tennisplatz. Plan de la Tour lag in den Bergen einige Kilometer von Saint-Tropez entfernt, dennoch zog es uns zum Szenetreff an den Strand von Pampelonne.

Heinz kam auf die Idee, sich ein Motorboot zu leihen und von Saint-Tropez aus mit dem Boot lässig an den Strand zu schippern. In Frankreich war das Mieten von Booten problemlos, man brauchte weder einen Schein noch Erfahrung. Unbekümmert genossen wir die schnelle Fahrt nach Pampelonne. Dort angekommen, warfen wir Anker und die beiden Damen räkelten sich zum Sonnenbaden auf dem Deck. Bereits nach wenigen Minuten wurde es mir wegen der leichten Dünung schlecht. Nur mit Handtuch ausgestattet schwammen Ina und ich an Land und legten uns in den Sand. Heinz wurde es zu langweilig, er wolle mit Moni nur eine Runde drehen. Die Stunden verrannen. Wo blieben Moni und Heinz? Irgendwann waren Ina und ich die letzten am Strand und wir überlegten, ob es unschicklich wäre, nur Im Badedress und Handtuch bekleidet in die Unterkunft zu trampen. Endlich tauchte hinter uns auf dem Parkplatz Moni auf. Wir waren sehr erleichtert.

Was war passiert? Heinz war mit dem Boot in den Schwimmerbereich gekommen und prompt von der Polizei erwischt worden. Nun musste er erst einmal aufs Polizeirevier und kräftig Strafe zahlen. Danach machte er sich wieder auf den Weg nach Pampelonne. Das war ein Fehler, denn der Tank war fast leer. Er musste umkehren, zurück in den Hafen, zum Tanken. Den erreichte er leider nicht, vorher gingen Benzin und Motor aus. Ein Profi hätte mit dem Paddel und nicht mit den Händen gewinkt. So dauert es lange, bis endlich einer erkannte, dass er abgeschleppt werden wollte. Inzwischen war es sehr spät geworden, bis zum Strand war es zu weit, also kehrte er um. Im Hafen angekom-men, knallte Heinz, inzwischen genervt, das Boot gegen die Kaimauer. Schnell den Schlüssel abgeben und nix wie weg hier, war sein Gedanke. Mit dem Auto auf dem Landweg ging es dann nach Pampelonne. Nach dem gemeinsamen Urlaub mit Heinz und Moni in Saint-Tropez stand für mich fest, ich werde mich nach einer neuen Stelle in Raum Gießen/Frankfurt umsehen. Mir war klar, bei aller Zufriedenheit mit der Arbeit im VW-Werk, Wolfsburg hatte für mich keine Zukunft. Ich fing an, wieder die Stellenanzei-gen in der FAZ zu lesen.

Angebot von Lilly
Ich bewarb mich auf dem Arbeitsmarkt doppelgleisig, sowohl bei dem mir sehr vertrau-ten Pharmaunternehmen Lilly in Bad Homburg als auch beim RP Darmstadt für den Be-rufsschuldienst. Mit der Lehrtätigkeit war ich in verschiedenen Phasen meines Lebens in Berührung gekommen und hatte daran nur positive Erinnerungen. Für mich war der Lehrerberuf eine echte Alternative. Mein Monats-Gehalt bei VW von 3.572,19 DM brut-to bzw. 2.037,34 DM netto war für die damalige Zeit wirklich nicht schlecht, aber Lilli zahlte 1974 für einen Produktmanager noch deutlich mehr. Als Anfangsgehalt bot man mir 60.000 DM im Jahr. Das erste Vorstellungsgespräch fand in Bad Homburg statt und mein gutes Gefühl täuschte mich nicht. Wenige Wochen später kam es zu einem zwei-ten Gespräch in Gießen im Hotel Köhler. Die Herren von Lilly waren recht beeindruckt von meinen ausgezeichneten Kenntnissen über ihr Unternehmen sowie von ihren Produkten und hielten mich wohl für glänzend vorbereitet. Was sie nicht wussten, war meine Freundschaft zu „Ted“ Edward Roberts, dem ehemaligen Geschäftsführer Deutschland in Gießen und zu dieser Zeit Vizepräsident in der Firmenzentrale in Indiana-polis/USA. Am Ende des Gesprächs präsentierte man mir einen bereits vollständig ausgefertigten Arbeitsvertrag. Es fehlte nur noch meine Unterschrift. Weil ich mir bei sehr wichtigen Entscheidungen zum Prinzip gemacht hatte, wenigstens einen Tag darüber zu schlafen, bat ich darum, mir ein wenig Zeit zu lassen. Es wäre reine Formsache. Ich würde am nächsten Morgen den von mir unterschriebenen Arbeitsvertrag nach Bad Homburg schicken. Das hörten die beiden Herren von Lilly gar nicht gerne, stimmten aber letztlich zu.

Angebot vom RP Darmstadt
War es ein Wink des Schicksals? Am nächsten Morgen fand ich im Briefkasten ein Schreiben des RP Darmstadt und die Zusage für das Referendariat an Beruflichen Schulen. Man hatte mir mein Diplom als erstes Staatsexamen anerkannt und somit ein aufwendiges Zweitstudium erspart, denn Berufsschullehrer waren knapp. Damit war meine Entscheidung gefallen. Bei Eli Lilly gab es einen organisatorischen Haken. Der Produktmanager war zwar für den Erfolg seines Produktes verantwortlich, aber gegenüber denen, die das Produkt „verkauften“ den Pharmareferenten nicht weisungsgebunden. Organisatorisch ein Unding. Als ich Jahre später Ted in Indianapolis besuchte, fragte er mich, warum ich damals einen Rückzieher gemacht hätte. Zunächst war ich sehr ver-wundert, dass er von meiner Bewerbung bei Eli Lilly in Bad Homburg wusste. Als Vizepräsident wäre er für Europa und Asien zuständig gewesen und hätte den Vorgang auf seinem Schreibtisch gehabt. Meine Befürchtungen wären unbegründet gewesen. Mit Eli Lilly ging es in Deutschland stetig und ständig bergauf. In solch einer Situation hätte ich kein Risiko tragen müssen. Meine Entscheidung für den Lehrerberuf habe ich dennoch nie bereut. Die Freundschaft zu Ted und seiner Frau Hanelore besteht bis heute, nun bald 50 Jahre. Er wohnt, eigentlich nicht so weit weg von Gießen, in einem eher be-scheidenen Einfamilienhaus in Rödermark. An Ted bewunderte ich stets sein für ihn typisches Understatement. Wie in den USA üblich, wurde Ted von Eli Lilly bereits mit 55 Jahren in den Ruhestand geschickt. Nun hätte er sich eigentlich in seine alte Heimat Wa-les zurückziehen können. Ein Headhunter warb ihn zur Freude seiner aus Dreieich stammenden Ehefrau für „Merck Darmstadt“ als Geschäftsführer der Sparte Pharma. In zehn Jahren hat er aus Merck ein international aufgestelltes Unternehmen gemacht, wie ich bei einer Werksbesichtigung des Arbeitskreises Schule und Wirtschaft erfuhr. Jetzt ist er endgültig im Ruhestand, aber auch nicht so ganz. Als gefragter internationaler Manager berät er Firmen weltweit und sitzt häufig im Flieger. Leider sehen wir uns zu selten, wir telefonieren.

Aufhebungsvertrag
Meine erneuten Bemühungen um eine Arbeitsstelle blieben in meiner Abteilung auch diesmal nicht unentdeckt. Dr. Burmann sprach mich direkt an und fragte, was er für mich tun könne. Dabei gab er fast entschuldigend zu bedenken, dass eine erneute Gehaltserhöhung bei der augenblicklichen wirtschaftlichen Lage von VW unmöglich durch-zusetzen sei. Da noch nichts in trockenen Tüchern war, konnte ich ihn, ohne schlechtes Gewissen zu haben, zunächst beruhigen. Dass ihm mein Weggang von seiner Abteilung und von VW tatsächlich sehr leidtat, beweist seine Widmung in seinem Abschiedsge-schenk, einem Bildband über die Volkswagenstadt Wolfsburg, „Verdammt noch ´mal, jetzt ist er weg!!“. Damals ahnte noch niemand, dass wir 20 Jahre später wieder beruf-lich in engen Kontakt treten würden. Noch vor der Einführung des VW Polo verließ ich am 24. Januar 1975 auf eigenen Wunsch die Volkswagenwerk AG und wechselte in den Berufsschuldienst. VW hatte Überkapazitäten und bot als äußerst sozial eingestelltes Un-ternehmen, um werksseitige Kündigungen zu vermeiden, jedem, der von sich aus kündigte, eine großzügige Abfindung an.

Die Kündigung und der Wechsel als gering bezahltem Referendar in den hessischen Schuldienst wurden mir von VW relativ leicht gemacht. Trotz meiner gerade mal drei-einhalb Jahre als VW-Mitarbeiter erhielt ich im Zuge eines sog. Aufhebungsvertrages als „Abschiedsgeschenk“ einen steuerfreien Betrag von 9.500 DM und einen VW Golf zum Schnäppchenpreis. Meinen VW-Porsche hatte ich zuvor verkauft. Mit diesem Geld war ich in der Lage, die Durststrecke von zwölf Monaten Referendariat zu überbrücken. Wieder zurück in Wolfsburg, gab ich meine Kündigung für Ende des Monats Januar ab. Wenige Tage danach gab es bei meiner Rückkehr vom Mittagessen eine große Aufregung. Klaus Vacano, mein Bereichsleiter, hatte versucht mich zu erreichen. Ich solle sofort zurückrufen. Dies muss man verstehen. VW war und ist ein riesiges Unternehmen mit ca. 50.000 Beschäftigten allein in Wolfsburg und ein Bereichsleiter, direkt unter dem Vorstand angesiedelt, war ein kleiner Gott. Herr Vacano machte mir Vorwürfe. Berufsschule, ob ich verrückt geworden sei. Er sprach sogar von Undankbarkeit. Er hätte mit mir etwas vorgehabt. Das müsste ich doch gemerkt haben. Er habe mich gefördert, zu allen wichtigen Gesprächen auf höchster Ebene mitgenommen. Und jetzt dies, ohne eine Absprache. Das hatte gesessen und ich fing schon an zu wackeln. Für meine spätere Tätigkeit als Führungskraft im Schulbereich war dieses Telefongespräch ein Schlüsselerlebnis. Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, wen ich für förderungswürdig hielt und habe die betreffenden Kollegen gezielt vorbereitet. Den Satz, das müssen sie doch ge-merkt haben, wollte ich mir ersparen.

Korrespondenz mit VW
Mit meiner Entscheidung, VW zu verlassen und in den Berufsschuldienst zu wechseln, hatte ich für viele Jahre auch gedanklich die Brücken zur VW AG abgebrochen. Erst sehr viel später, gut 20 Jahre nach meinem Ausscheiden, entflammte die alte Liebe zu VW neu auf, zumal ich den Eindruck hatte, dass bei VW die traditionelle Schwerfälligkeit und Zögerlichkeit erneut um sich gegriffen hatte. Mein Kopf war voller Ideen und ich gab mir einen Ruck. Im April 1996 schrieb ich einen Brief an meine ehemalige Abteilung „Zentrale Marketingplanung“ ohne zu wissen, ob diese in der mir bekannten Form überhaupt noch existierte. Nun wusste ich aus eigener Erfahrung, dass bei einem so bekannten Unternehmen wie es die VW AG ist, so mancher sich gerne wichtig macht. Viele Briefe werden deshalb erst gar nicht beantwortet und die meisten landen im Papierkorb. Damit so etwas nicht passiert, stellte ich mich als ehemaliger Mitarbeiter dieser Abteilung vor. 

Ich hatte in der „Auto Bild“ gelesen, dass VW den Verkauf eines Kleinstwagens unterhalb des VW Polos plante und noch keinen Namen habe. Mein Vorschlag war, für dieses kleine Fahrzeug an den Erfolgen der Namen aus dem Bereich Sportarten anzuknüpfen und ich schlug den Namen „VW Soccer“ mit folgender Begründung vor: „Der Name kann mühelos und korrekt in den Sprachen der Hauptmärkte ausgesprochen werden. Die amerikanische Bezeichnung für die Sportart Fußball ist international be-kannt und auch in Deutschland bei jüngeren Menschen „in“. Dass ein solcher Name zu dem Produkt Auto passe, bewiesen die Erfolge der Namen VW Golf und VW Polo. Sicherlich passe der kurz gesprochene Name „Soccer“ zu einem kleinen, jugendlichen Auto und nicht zu einer großen Limousine. Die Möglichkeiten bezüglich der Aktivitäten in Werbung und PR wären bei dieser populären Sportart unbegrenzt“. Im Mai 1996 bekam ich Antwort aus Wolfsburg. Zu meiner Überraschung war der Absender mein ehemaliger Abteilungsleiter Dr. Gerd Burmann. Er teilte mir zunächst mit, dass die Namen für neue Modelle nicht mehr – wie zu meiner Zeit – „im Hause“, sondern von darauf spezialisierten Firmen erarbeitet würden. Dennoch habe er veranlasst, meinen Vorschlag zu prüfen. 

Noch vor Eintreffen der Antwort schlug ich in einem weiteren Schreiben einen zweiten Namen vor. Die Golf-Stufenheckversion, der VW Vento, sollte einen Nachfolger bekommen. Der VW Vento und sein Vorgänger VW Jetta, hatten bisher keinen Erfolg. Beide wurden als Rucksackgolf verspottet. Das Stufenheckmodell mit dem „angeklebten Kofferraum“ wirkte von Anfang an unharmonisch, ja fast schon hässlich. Gott sei Dank hatte das Modell immer einen eigenen Namen und die Übertragung des negativen Images auf den Golf konnte somit verhindert werden. Beim geplanten Vento-Nachfolger lagen die Dinge anders. Statt eines lediglich modifizierten Hecks sollte das neue Modell offensichtlich eine eigenständige Karosserie bekommen. Ich schrieb, VW müsse die Chance nutzen und der Öffentlichkeit endlich beweisen, dass Wolfsburg in der Lage sei, formschöne Stufenheck-Fahrzeuge zu bauen. Der Vento-Nachfolger könne der ganzen Marke ein moderneres Image verschaffen. Ein sehr großer und für VW sehr wichtiger Automobilmarkt war Nordamerika. Zur Überraschung der deutschen Öffentlichkeit ließ sich der auf vielen Märkten erfolgreiche VW Golf in den USA kaum verkaufen. Er war den Amerikanern zu klein und zu teuer. Umso erstaunlicher waren dort die bescheidenen Erfolge des VW Jetta, wie der Vento in den USA immer noch hieß. 

Ich schlug vor, dem Vento-Nachfolger einen Namen zu geben, der einerseits am riesigen amerikanischen Markt orientiert, andererseits aber auch international verwendbar wäre. Winde und Sportarten wären als Namensgeber für den Vento-Nachfolger ausgereizt. Der Name müsse Sport mit Freizeit und Urlaub verbinden und schlug „VW Sedona“ vor. Ich begründete meinen Vorschlag wie folgt: „Sedona ist ein Urlaubsort in Arizona/USA, in einer wunderschönen Landschaft mit mildem Klima und einer traumhaften Westernkulisse zwischen Phoenix und Flagstaff gelegen und den deutschen Südwest-USA-Touristen wohl bekannt. Typisch sind die schroffen, roten Sandsteinfelsen – Red Rock ein mögliches Sondermodell. Stadt und Landschaft sind attraktiv für Filmregisseure aus Hollywood, Touristen aus aller Welt, Künstler, und junge bzw. sich noch jung fühlende Menschen. Zum Teil recht teure Hotels und stattliche Villen vermitteln den Eindruck von Exklusivität und Eleganz inmitten herrlicher Natur. Der vorgeschlagene Name „Sedona“ ist nicht abgegriffen, leicht aussprechbar bzw. leicht zu merken und passt zu einer Limousi-ne der Mittelklasse. Darüber hinaus hat er eine gewisse Schreibähnlichkeit zu Sedan, der amerikanischen Bezeichnung für Limousine. Die Kulisse von Sedona bietet für Werbung und PR ein ideales Feld. Der Urlaubsort und seine Landschaft wecken Sehnsucht nach Freizeit und Autofahren in einer schönen Landschaft „Wünsche nach VW Sedona“. 

VW hatte leider andere Vorstellungen, wollte wieder an die erfolgreichen Windnamen anknüpfen und entschied sich für den kroatischen kalten Fallwind, der aus den Bergen kommend auf die Adria bläst: „VW Bora“. In meinem Antwortschreiben an Dr. Burmann gestattete ich mir noch einen dritten Vorschlag. Bei einer USA-Reise hatte ich mir anstatt der üblichen Limousine einen „Ford Thunderbird“ gemietet und war begeistert. Das Fahrzeug erwies sich als ideales Reisecoupé für zwei Personen mit viel Gepäck. Die limousinenhaften äußeren Abmessungen vermittelten die beruhigende Sicherheit eines großen Fahrzeuges. In Europa hätten die Kunden zwar eine große Auswahl an Coupés, diese seien aber meist betont sportlich und zielten auf eine junge Käuferschicht. Ein Reisecoupé sollte für die reiferen Jahrgänge, die zwar mit einem Coupé ebenfalls ihren sportlichen Anspruch ausdrücken wollten, aber doch mehr Wert auf Eleganz und Komfort legten, eine echte Alternative zur Limousine sein. Diese Zielgruppe sei in ihrer Anzahl sicherlich nicht klein und verfüge über genügend Kaufkraft. Das Reisecoupé sei in Europa eine Marktlücke. 

Diese Lücke sollte und könnte VW füllen. Das Baukastensystem mache es möglich. Als Basis könnte der neue Passat dienen. Das Fahrzeug habe eine exzellente Technik, biete guten Komfort und die Abmessungen erreichten fast den Standard der oberen Mittelklasse. Die Dimensionen amerikanischer Fahrzeuge seien aus europäischer Sicht überzogen. Aber auch ein europäisches Reisecoupé müsse die Abmessungen der Mittelklasse haben, wenn das Konzept aufgehen solle. Das Reisecoupé dürfe aber in seiner Anmutung nicht wie eine Limousine wirken und als eigenständiges Fahrzeug nicht in direkte Verbindung zum Passat gebracht werden. Da die Kunden grundsätzlich bereit seien, für ein eigenständiges Coupé einen höheren Betrag auszugeben, allerdings nicht einen höheren Preis zu akzeptieren, solle das Basismodell serienmäßig deutlich höherwertig ausgestattet sein als die Limousine. Die Ausstattung solle auf die Zielgruppe der reiferen Jahrgänge abgestimmt sein. Das Reisecoupé sollte folglich weniger sportliches Zubehör, sondern eher eine dem Komfort und der Sicherheit dienende Ausstattung se-rienmäßig haben. Ein komplett ausgestattetes Auto brächte dem Hersteller und der Vertriebsorganisation enorme Rationalisierungsvorteile, die VW in Form eines günstigen Preises an die Kunden weitergeben sollte. 

Außerdem sollte VW die Gelegenheit nutzen, die verwirrenden Ausstattungsvarianten CL, GL, usw. durch Themen definierte Ausstattungspakete, z. B. Komfort und Sport, zu ersetzen und möglichst zum gleichen Preis anbieten. Prestige für den Kunden brächten in dieser Fahrzeugklasse allerdings eher die Art, Größe und Leistung der Motoren. Daher sollte beim Modellnamen ein Hinweis auf den Motor nicht fehlen. In einem weiteren Schreiben äußerte ich die Idee, VW könne Mut beweisen und als erster Hersteller Dieselmotoren in einem Coupé anbieten. Der gute Ruf der Marke VW bzw. des VW-Konzerns wäre nicht zuletzt begründet in seinem hervorragenden Angebot an Dieselmotoren, insbesondere dem TDI. Hinsichtlich der Konzeption eines Reisecoupés und der Zielgruppe „reifere Jahrgänge“ wäre ein solcher Schritt konsequent. Ein großes Presse-Echo – damit auch kostenlose Werbung – dürfte die Entscheidung, als erster Automobilhersteller Dieselmotoren in einem Coupé anzubieten, mit Sicherheit bewirken. 

Ein im Styling eigenständiges Reisecoupé benötige einen eigenen, auf seine Konzeption abgestimmten Namen, z. B. VW Biscaya. Mit diesem Namen könnte der eingeschlagene Weg „Wind und Wasser“ fortgesetzt werden. Der Golf von Biskaya sei das Mekka der Surfer in Europa und mit den Urlaubsorten Biarritz/Frankreich und San Sebastian/Spanien auch für die Zielgruppe der reiferen Jahrgänge attraktiv. Der Name wäre international verwendbar. Die Aussprache des Namens in den Sprachen der Hauptmärkte sei problemlos. Nur die spanische Schreibweise Viscaya wäre geringfügig anders. Der Klang des Namens passe in seiner Weichheit zu einem eleganten, komfortablen und in gewisser Weise auch zu einem exklusiven größeren Fahrzeug, also zu einem Reisecoupé. Der Golf von Biskaya sei kein Urlaubsgebiet mit Massentourismus und somit sei der Name auch nicht abgegriffen. 

Sollte sich das Konzept des Reisecoupés auf dem europäischen Markt als erfolgreich erweisen, könnte ein Reisecabriolet nachgeschoben werden. Der Name Biscaya und der Zusatz Cabriolet passten wunderbar zusammen. Nun hatte ich meinen ehemaligen Abteilungsleiter mit meinen Vor-schlägen erst einmal eingedeckt. 

Dass er mir diese für ihn überraschende Mehrarbeit nicht übelnahm, zeigte der Wechsel in der Anrede vom „sehr geehrten“ zum „lieben Herr Balser“. Dr. Burmann hatte, wie er mir schriftlich versicherte, alle meine Vorschläge aufgegriffen und meinen Vorschlag „Bau eines Reisecoupés“ sogar in der Produktstrategiekommission unter der Leitung von Dr. Ferdinand Piëch zur Diskussion gestellt. Er selbst könne einem Coupé, wie von mir beschrieben, durchaus viel abgewinnen und glaube, dass hier für die Marke Volkswagen durchaus eine Lücke bestehe. Leider wurde zunächst keine meiner Ideen umgesetzt, aber auch nicht gleich in den Papierkorb geworfen. Alle Namensvorschläge wurden vorsichtshalber von VW rechtlich geschützt. Meine Idee bezüglich eines Reisecoupés war wegen der notwendigen umfassenden Änderungen im Blech zunächst wieder einmal an den Finanzen gescheitert. Jedenfalls, schrieb Dr. Burmann, wäre es ihm gelungen, das Projekt anzuschieben, ohne dass wir heute schon wüssten, was endgültig daraus würde. „Warten wir es ab, vielleicht gewinnt auch diese Idee Gestalt“. 

In den folgenden Jahren wurden einige meiner Vorschläge und Ideen von VW umsetzt. Die von mir kritisierten Bezeichnungen CL, GL, usw. verschwanden. Die geforderten eleganten und sportlichen Ausstattungspakete wurden erstmals als „Comfortline“ und „Sportline“ zum gleichen Preis beim VW Golf zusammen mit den von mir vorgeschlagenen zusätzlichen Angaben zum Motor, z. B. „Golf 1,8 FSI Sportline“, umgesetzt.

Mit dem Angebot eines Reisecoupés – allerdings viertürig – im Jahre 2008 kam VW leider zu spät. Mercedes war bereits 2004 mit dem CLS als erster auf dem Markt. Dieselmotoren sind bei Coupés inzwischen Standard. Leider war VW auch hier nicht der erste Anbieter. Meiner Forderung, dieses Coupé nicht zu nahe am VW Passat zu positionieren und es als eigenständiges Modell auch mit einem eigenständigen Modellnamen auszustatten, hat VW leider mit dem Namen „VW Passat CC“ nicht entsprochen. Dieser Fehler wurde aber bald mit der Bezeichnung „VW CC“ korrigiert, zunächst in den USA und danach (ab 2012) in Europa. Inzwischen soll VW erkannt haben, dass die rein technische Bezeichnung „CC“ diesem außergewöhnlichen Fahrzeug nicht gerecht wird, und wird nach einem neuen Namen suchen. Man kann gespannt sein. Auch das Angebot eines Passat-Cabriolets scheint noch nicht vom Tisch zu sein. Das Thema spukt seit Jahren immer wieder in den Automobilzeitschriften.

Im Sonntag-Morgenmagazin Mittelhessen berichtete ich wie folgt:
Der VW Caddy Soccer kommt aus Gießen
Wiederholt berichteten wir über den Mittelhessen Gerald Balser, der nach dem Studi-um der Wirtschaftswissenschaften an der Uni Gießen vier Jahre bei der Volkswagen AG in Wolfsburg in der Abteilung Zentrale Marketingplanung tätig war und in dieser Zeit die Namen der für die Marke VW noch heute so wichtigen Modelle VW Scirocco, VW Golf und VW Polo erarbeitet hat. Auch nach seinem Weggang von VW und dem Wechsel in den hessischen Berufsschuldienst (zuletzt Schulleiter der Friedrich-Feld-Schule Gießen) blieb er mit seinem ehemaligen Abteilungsleiter und dem Hause VW durch zahlreiche Vorschläge bezüglich Namensgebung und Produktstrategie verbunden. Sei-ne Vorschläge wurden auf höchster Konzernebene in sog. PSK-Sitzungen (Produktstrategiekommission) diskutiert und z. T. auch umgesetzt. So hatte er bereits im Jahre 1996 die Herstellung eines Coupés (und bei Erfolg zusätzlichen Cabriolets) auf Basis des VW Passat und das erstmalige Angebot von Dieselmotoren bei solch sportlichen Fahr-zeugen vorgeschlagen. Wie bekannt wurde diese Idee erst sehr viel später mit dem VW Passat CC umgesetzt. Das Cabriolet steht noch aus.

Die Lebensweisheit “was lange währt, wird endlich gut“ gilt auch für die jüngste Akti-on von VW den „VW Caddy Soccer“. Ebenfalls im Jahre 1996 hatte Gerald Balser für den neuen EA 420 (Entwicklungsauftrag), den ersten Kleinstwagen von VW unterhalb des VW Polo, den Namen VW Soccer vorgeschlagen. Er begründete seinen Vorschlag wie folgt: „Der Name kann mühelos und korrekt in den Sprachen der Hauptmärkte ausgesprochen werden. Die amerikanische Bezeichnung für die Sportart Fußball ist in-ternational bekannt und bei jüngeren Menschen „in“ (nicht nur in Deutschland). Dass ein solcher Name zu dem Produkt Auto passt, beweisen die Erfolge der Namen Golf und Polo. Sicherlich passt der kurze Name „Soccer“ zu einem kleinen, jugendlichen Au-to und weniger zu einer großen Limousine. Die Möglichkeiten bezüglich der Aktivitäten in Werbung und PR sind bei dieser populären Sportart unbegrenzt“.

VW ließ den Namen prüfen, entschied sich aber letztlich für VW Lupo. Balsers Initiative war aber offensichtlich nicht umsonst. Der Vorschlag landete nicht im Papierkorb, ganz im Gegenteil. VW hat sich den Produktnamen für eine zukünftige Verwendung vorsorglich schützen lassen und ihn nun endlich als Namenszusatz für sein neuestes Sondermodell „VW Caddy Soccer“ verwendet. Ganz so einmalig ist dieser Erfolg für Gerald Balser nicht, denn bereits 2008 wurde ein weiterer Vorschlag „Red Rock“ als Sonderfarbe für den VW Cross Touran bzw. 2010 in den USA als Sondermodell für den VW New Beetle verwendet. Den Namen Sedona hat sich VW leider nicht schützen lassen bzw. VW war nicht schnell genug, denn 1998 erschien ein Van von KIA auf dem Markt, der in den USA, Kanada und Großbritannien Sedona heißt. Im Jahre 1997 ging 

Dr. Burmann altersbedingt leider in den Ruhestand. Damit war der direkte Draht zu VW gekappt. Einen Nachfolger konnte mir Dr. Burmann nicht nennen, dennoch versuchte ich, die Korrespondenz mit VW aufrecht zu erhalten. Dies gestaltete sich problemlos, war aber nicht mehr so effektiv. Auf der IAA 1999 in Frankfurt am Main stellte VW ein Konzeptfahrzeug groß heraus, den Concept D, ein flott gestyltes Fahrzeug mit modernem Schrägheck, das so oder zumindest in ähnlicher Form in einem neuen Werk in Dresden gebaut werden sollte. Das Ambiente des Innenraums entsprach den Erwartungen an Eleganz und Komfort der Käuferschaft der Oberklasse. Der Stand der Technik war mit dem der maßgeblichen Konkurrenten – Mercedes S-Klasse und BMW 7er – absolut vergleichbar. Im Laufe der Zeit bekam VW allerdings kalte Füße und wechselte zum für das in der Oberklasse vermeintlich unabdingbare konventionelle Stufenheck. Ich schrieb an VW, dass zu diesem nun recht konventionellen Auto eher ein konventioneller Name passe. VW sollte wieder an die erfolgreiche Systematik Sportarten anknüpfen. Ich schlug den Namen „VW Yachting“ vor.

Diese "feine“ Sportart verbinde Exklusivität mit Dynamik und Eleganz. Sie vereine die VW-typischen Attribute Wasser und Wind. Mit dem Wortstamm Yacht assoziiere der Name ein teures und edles Schiff. Der „VW Yachting“ wäre das Flaggschiff der VW-Flotte. Der Name könne mühelos und korrekt in den Sprachen der Hauptmärkte ausgesprochen werden. Dass ein solcher Name zu dem Produkt Auto passe, bewiesen die Er-folge der Namen Golf und Polo. Der Name Yachting passe sicherlich zu einer großen, teuren Limousine und weniger zu Kompaktfahrzeugen oder Coupés. Mir war bekannt, dass der Name Yachting bereits von dem italienischen Hersteller teurer, sportlich-eleganter Bekleidung „Paul & Shark“ als Markenname maritimer Sportswear benutzt wird. Dies sei rechtlich jedoch unbedenklich. Wie ich aus meiner damaligen Tätigkeit wis-se, erstrecke sich ein möglicher Schutz nicht auf Fahrzeuge und ähnliche Produkte.

Mein Schreiben an die alte VW-Adresse wurde an die zuständige Abteilung „Markenmanagement, -strategie der Marke VW“ und ihrem Leiter Andreas Roeren weitergereicht. Er teilte mir mit, dass er den Namensvorschlag im Hause habe prüfen lassen, VW sich leider für einen anderen Namen entschieden hätte. Sofern ich über keinen wirksamen rechtlichen Schutz für meinen Namensvorschlag verfügte, behielte sich VW eine zukünf-tige Benutzung ausdrücklich vor. Im Jahre 2001 platzte die Bombe. Das Flaggschiff von VW hieß „VW Phaeton“. Ein außergewöhnlicher Name für ein leider nur konventionelles Fahrzeug. Meiner Meinung nach hatte VW mit dem Phaeton eine Chance verpasst. Es war allgemein bekannt, die Luft in der Oberklasse ist sehr dünn. Folgerichtig plante VW bewusst mit niedrigen Absatzzahlen. Bei dieser verordneten Bescheidenheit hätte VW mutig bleiben und an dem ursprünglichen Entwurf mit Schrägheck festhalten sollen. VW wäre mit der Produktion des „Concept D“ der erste Hersteller in der Oberklasse mit Schrägheck gewesen, hätte sich gegenüber seinen Konkurrenten im Design profilieren können. Der Name „VW Phaeton“ war von Anfang an umstritten. Lediglich humanis-tisch gebildeten Kunden war bekannt, dass „Phaëton“ der Götterwagen von Helios war.  Der hatte allerdings einen „Totalschaden“. Sein Götterwagen zerschmolz, als er der Sonne zu nahekam. Die Häme in den Medien war heftig, besonders in den USA. Die Geschäftsführung dort hätte gerne für ihren Markt einen eigenen Namen gehabt. Eine von VW nachgeschobene zweite Erklärung, dass in den Anfängen der Automobilgeschichte der Phaeton eine der Kutsche nachempfundene Bauform gewesen sei, konnte das Gelächter auch nicht stoppen. Aber so ist das mit VW. Dieses riesige Unternehmen ist in der Lage, jeden Namen durchzusetzen. Die Kunden haben sich inzwischen an den holprigen Namen gewöhnt.

Die Verkaufszahlen vom „VW Golf“ waren seit geraumer Zeit enttäuschend und die als Geschenk zum 30. Geburtstag des VW Golf gedachte kostenlose Zugabe einer Klimaanlage wurde in der Presse häufig als notwendige Verkaufsförderung abgewertet. Ich vermutete, dass das nachlassende Interesse am Golf nicht allein an der schlechten Autokonjunktur in Westeuropa und auch nicht an der stärker werdenden Konkurrenz liegt. Es wurde grundsätzlich immer schwieriger, mit einem einzigen Modell die unterschiedlichsten Bedürfnisse und Interessen breiter Käuferschichten zu befriedigen. Ein Indiz da-für war der starke Trend zu sog. Nischenmodellen, wie z. B. Van, SUV, Crossover und sogar zu den Klassikern Coupé bzw. Cabriolet. In einem Brief im Jahre 2004 riet ich dem damaligen Vorstandsvorsitzenden, Dr. Bernd Pischetsrieder, nicht den destruktiven Kalkulationen des Finanzwesens zu folgen. VW müsse aufhören, sich ausschließlich auf Vo-lumenmodelle zu konzentrieren, sondern die Möglichkeiten des vorhandenen Baukas-tensystems zu nutzen und verstärkt in Nischenmodelle investieren, also breite Produkt-familien aufzubauen. Dazu passte die Forderung in den einschlägigen Medien, einen Nachfolger für den einst so erfolgreichen VW Scirocco zu bauen. Ich schlug vor, den so hervorragenden Namen nicht brach liegen zu lassen und wenn schon nicht einem Nach-folger, dann doch wenigstens ein ähnlich sportliches Coupé auf den Markt zu bringen.

Darüber hinaus müsse man sich fragen, ob die bisher so erfolgreiche Kompaktbauweise für den in seinen Abmessungen deutlich gewachsenen Golf V immer noch so attraktiv sei. Die Kunden ordneten den Golf wegen seiner Kompaktbauweise und seiner Kleinwa-genvergangenheit leider nicht unbedingt der unteren Mittelklasse zu und empfänden dadurch seinen Preis als zu hoch. Dabei sei den Kunden nicht bewusst, dass der nachgewachsene Polo inzwischen den ursprünglichen Platz des Golfs eingenommen habe. Die Defizite des Golfs müsse die geplante neue Stufenheckvariante, der Bora-Nachfolger, endlich ausgleichen. Dazu sei dieses Fahrzeug bislang aber nicht in der Lage gewesen. Strategisch wären für das geplante Stufenheckmodell zwei unterschiedliche Wege möglich. Entweder man holte den Bora-Nachfolger näher an den Golf heran – die Berührungsängste der Vergangenheit wären nicht mehr begründet – um die Zugehörigkeit des VW Golf zur unteren Mittelklasse zu verdeutlichen. Oder man vergrößerte die Abmessungen des Stufenheckmodells und rückte somit dieses Fahrzeug vom Golf weiter weg. Dies hätte den Vorteil, dass die viel zu große Lücke zum VW Passat endlich geringer würde und damit gleichzeitig ein deutlich höherer Basispreis eher zu begründen wäre, ohne dabei den VW Golf abzuwerten.

In meinem Schreiben an Dr. Pischetsrieder hatte ich außerdem an „30 Jahre Modellna-men bei VW“ erinnert und ihm die Entstehungsgeschichte der Modellnamen bei VW er-zählt. Seine Büroleiterin Karin Sonnenmoser dankte mir für meine interessanten Ausführungen. Sie versicherte mir, dass es ihnen allen sehr viel Spaß gemacht hätte, meinen Bericht über die Geschichte der Entstehung der noch immer wichtigsten Modelle innerhalb der Marke VW zu lesen. Vor allem sei es interessant gewesen, noch einmal die Geburtsstunde des Polos rekapitulieren zu lassen. Sie bedankte sich dafür im Namen von Herrn Dr. Pischetsrieder sehr herzlich. 

Die Aspekte der Positionierung der neuen Modelle in Relation zum Golf V würden sie im Hause zu gegebener Zeit diskutieren. Was ich da-mals nicht wusste, VW hatte sich bereits dazu entschlossen, nicht nur den Namen Sci-rocco wieder zu verwenden, sondern auch einen Nachfolger zu bauen. Meiner strategischen Argumentation wurde weitestgehend gefolgt. Die Stufenheckvariante des Golfs wurde durch eine Vergrößerung der Abmessungen höher positioniert. Die Wiederverwendung des ursprünglichen Namens „VW Jetta“ war eine Anerkennung der Erfolge dieses Stufenheckmodells auf dem amerikanischen Markt. In den Automobilzeitschriften wurde im Jahre 2007 wiederholt berichtet, dass die Marke VW ein echtes, also zweitüriges Coupé auf Basis des Passats zusätzlich zum „Passat CC“ auf den Markt bringen wolle.

In meinen Schreiben an die Abteilung „Markenmanagement, -strategie Marke VW“ verwies ich auf meine bisher noch nicht verwendeten Namenvorschläge „VW Biscaya“ und "VW Yachting“. Mit dem neuen Abteilungsleiter Dirk Noerenberg und seiner Nachfolgerin Dr. Claudia Bünte entwickelte sich ein reger Schrift- bzw. Telefonverkehr. Aus den Gesprächen konnte ich heraushören, egal wie gut und passend mein Namenvorschlag ist, VW würde niemals seine wahren Absichten äußern. Außerdem erfuhr ich, dass gute Modellnamen immer knapper werden. VW hat sich vorausschauend über hundert Namen rechtlich gesichert, natürlich auch meine Namen. Dabei wurde mir klar, dass für einen Außenstehenden, wie mich, es inzwischen unmöglich ist, einen Modellnamen durchzusetzen. Wenn die ersten Gerüchte über den Bau eines neuen Modells in den Medien erscheinen, steht der Name bereits fest. Allerdings, eine anderweitige Verwendung meiner vorgeschlagenen Namen wird ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Das VW-Marketing hält die Namen neuer Modelle ganz bewusst bis zum Schluss geheim bzw. lanciert, noch nach einem geeigneten Namen zu suchen, um die Spannung und die öffentliche Diskussion bis zur offiziellen Vorstellung aufrecht zu erhalten. Vor diesem Hintergrund ist auch mein jüngster Vorschlag, den auf Basis des Polos geplanten Kompakt-SUV „VW Rugby“ zu nennen, sicherlich chancenlos. Er wird auch diesmal wieder viel zu spät sein. Da nützen auch die besten Argumente nichts:

Der Name ist kurz und passt somit gut zu einem kleineren Fahrzeug, männlich, sportlich, kraftvoll und passt als Sportart hervorragend zu einem Crossover, in gewisser Weise exklusiv, da nicht jeder für die Sportart körperlich in der Lage ist, nicht abgedroschen, da keine Massensportart, findet nicht in der Halle, sondern im Freien statt und es besteht somit eine Assoziation mit Gelände, trendy, denn Rugby-Trikots sind modische Freizeit-Hemden/-Sweater für Männer und Frauen, in nahezu allen Ländern bekannt, unverwechselbar und leicht zu merken, auf allen Märkten verwendbar, da problemlos zu schreiben und auszusprechen.

Aber, wie immer, VW hat sich auch diesen Namen rechtlich schützen lassen und behält sich eine spätere Verwendung ausdrücklich vor. Anfang Januar 2019 berichtet die im-mer sehr gut informierte Auto Bild:

"2022 könnte VW den Einstieg in ein für den Konzern ganz neues Fahrzeugsegment wagen: das der "Rugged-SUVs". Rugged steht im Englischen für robust, stabil, wild – Vorbilder sind der Land Rover Defender, Jeep Wrangler oder das Mercedes G-Modell. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass VW seinen Rugged-SUV ausschließlich elektrisch anbieten will".

So schlecht scheinen meine Namenvorschläge offensichtlich nicht zu sein.

Anlässlich des 40. Geburtstages meines Patenkindes „VW Polo“ schrieb ich im Januar 2015 einen Brief an den Vorstandsvorsitzenden der VW-Group Prof. Dr. Martin Winterkorn und fügte als Anlage das Kapitel „VW und Wolfsburg“ aus meinen Erinnerungen bei. Bereits nach einer Woche bekam ich aus Wolfsburg Antwort, einen Brief von dem Leiter der Historischen Kommunikation Dr. Manfred Grieger. Er bedankte sich für meinen Bericht und teilte mir mit, dass dieser in das Archiv der VW AG aufgenommen wurde. Durch die Aufnahme meiner Erinnerungen bestätigt mir VW indirekt, der Namensgeber der heute immer noch sehr erfolgreichen Modelle Scirocco, Golf und Polo zu sein.

 

                                                



 

 

SCHULDIENST

Am 10.12.1974 erhielt ich in Wolfsburg ein Schreiben aus dem „Referat für Bürgerhilfe“ des Hessischen Ministerpräsidenten mit der guten Nachricht, dass sich in Bezug auf meinen Wunsch, in den Berufsschuldienst des Landes Hessen übernommen zu werden, eine günstige Entwicklung anbahne. Damit war fast sicher, dass das Land Hessen auf ein verkürztes Zweitstudium zum Diplom-Handelslehrer verzichten und mein Diplom als 1. Staatsexamen anerkennen wird. Ich solle mich mit Herrn Regierungsdirektor Friedrich von der Schulabteilung in Darmstadt in Verbindung setzen. Im Januar 1975 war es dann so weit. Ich bekam vom RP Darmstadt den Bescheid zur Zulassung zum Vorbereitungsdienst für das Lehramt an beruflichen Schulen.

Referendariat an der FFS und am Studienseminar
Die Max-Eyth-Schule in Alsfeld war meine Ausbildungsschule, im Studienseminar für be-rufliche Schulen in Gießen fand die fachtheoretische Ausbildung statt. Dienstantritt war der 01.02.1975. Die Schule in Alsfeld war der Wermutstropfen. Schon wieder die A5, zwei Mal in der Woche, insgesamt wöchentlich ca. 180 km. Dabei hatte ich mit dem Schulleiter meiner ehemaligen Schule (der Friedrich-Feld-Schule) verabredet, bei ihm in Gießen meine praktische Ausbildung zu absolvieren. Die Entscheidung ließ sich kurzfristig nicht mehr revidieren, aber nach nur einem Schulhalbjahr war ich wieder weg aus Alsfeld und zurück in Gießen. Ein Glücksgriff war mein Mentor. Wie auch ich, war er kein „gelernter“ Lehrer, ein Jurist ohne 2. Staatsexamen, ungefähr in meinem Alter, Reserve-Offizier der Bundeswehr, Lehrer mit Leib und Seele und wegen seiner sympathischen, jugendlichen Ausstrahlung bei Schülern sehr beliebt. Bei uns „stimmte die Chemie“ von Anfang an. Kaum an der Schule, bat mich Arthur, eine Unterrichtsstunde in Anwesenheit des Schulleiters und weiteren Gästen zu halten. Es ging wohl um seine Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit. Ich traute mir den Unterricht aufgrund meiner Unterrichtserfah-rungen bei VW und Bundeswehr zu. Der Schulleiter war beeindruckt, denn Arthur hatte mich offensichtlich in kürzester Zeit gut ausgebildet. Die Prüfung hat er glänzend bestanden. Den Erfolg haben wir in seinem Haus in Homberg/Ohm gebührend gefeiert.

Das Studienseminar für berufliche Schulen in der Katharinengasse 21 in Gießen war politisiert. Hier herrschte der Geist der 68er. Eine Kleiderordnung wie bei VW gab es nicht. Im Gegenteil, wer nicht im Freizeitlook erschien, machte sich eher verdächtig. Der Übergang von der Uni Frankfurt zum Seminar in Gießen war nahtlos. Referendare und Aus-bilder duzten sich. Man kannte sich. Wer in die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) eintrat, wurde Genosse seiner Ausbilder. Dazu war ich nicht bereit. Ich hatte den Eindruck, das Seminar betrachtete mich mit meinem Wirtschaftsdiplom und meiner VW-Herkunft „als Mann der Wirtschaft“ und beobachtete mich mit argwöhnischen Augen. Für mich waren diese Zustände zunächst ein Schock. Ich kam mir vor, wie in der „DDR gelandet“ und

fing an daran zu zweifeln, ob meine Entscheidung für den Schuldienst richtig war. An der Friedrich-Feld-Schule (FFS) lagen die Dinge glücklicher Weise deutlich anders. Die FFS war traditionell eine liberale Schule und dies spürte man auch im Kollegium. Die GEW war an der Schule zwar stark vertreten, hatte aber weder in der Schulleitung noch im Personalrat und in der Gesamtkonferenz die Mehrheit. Für eine hessische Schule damals mehr als außergewöhnlich. Schnell wurde mir klar, dass es zwischen meiner Schule und dem Seminar große Differenzen hinsichtlich der Ausbildung gab und man als Referendar leicht zwischen die Mühlsteine geraten konnte. Mein Mentor, Karlheinz Weigel, ebenfalls Diplom-Ökonom, dessen Zeit am Seminar gerade einmal ein Jahr zurück lag, konnte mich auch in dieser Hinsicht sehr gut beraten. Letztlich blieb ich meinem Wunsch nach Unabhängigkeit treu, verzichtete auf gewerkschaftliche Rückendeckung und trat auch nicht der Konkurrenzorganisation dem DLH (Deutscher Lehrerverband Hessen) bei. An meiner Unabhängigkeit hielt ich bis zu meiner Pensionierung fest.

Eichendorffring 127
Der Umzug von Wolfsburg nach Gießen gestaltete sich problemlos. Die wenigen Habseligkeiten passten in einen VW Transporter. Zunächst wohnte ich mit meiner neuen Freundin Ina Walta bei deren Mutter. Ina fackelte nicht lange und besorgte über einen Makler recht schnell in einem Hochhaus im Eichendorffring 127 eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche, Bad und Balkon im 3. Stock. Direkt daneben war das Studentenwohnheim mit einem Studentenbistro. Die Sportanlagen der Uni sowie ein kleines Edeka-Einkaufszentrum lagen auch direkt um die Ecke. Hier fühlte ich mich wohl. Im Juni 1975, ich war noch Referendar an der Max-Eyth-Schule in Alsfeld, wurde geheiratet, etwas überstürzt und für Ina mit ihren knapp 20 Jahren eigentlich zu früh.

Ich habe es mir wohl selbst nicht eingestehen wollen, aber die Ehe verlief nicht gut. Das muss auch Ina so empfunden haben, denn im Frühjahr 1976 packte sie ihre Koffer. Kurze Ehe und keine Kinder, ich reichte Mitte 1976 die Scheidung ein. Unser gemeinsamer Scheidungsanwalt war Ernst Schäfer, mein ehemaliger Nachbar aus der Walltorstr. 28. Die Scheidung erfolgte im Frühjahr 1977 und verlief glücklicher Weise ohne Gezänk. Mir war der Geschmack ans Heiraten zunächst einmal vergangen.

Arbeitslos
Der Termin meines 2. Staatsexamens lag sehr früh und dadurch konnte ich die Ausbildung bereits nach 16 Monaten beenden. In den zwei Monaten zwischen dem Ende des Referendariats und der Wiedereinstellung in den Schuldienst war ich arbeitslos. Dies hatte für mich allerdings keinen Schrecken. Da ich bei VW recht gut verdiente, lag mein Arbeitslosengeld deutlich über meiner Referendarvergütung. Eine Bedingung für den Bezug von Arbeitslosengeld war, dass man arbeitssuchend war bzw. dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stand. Daraus glaubte das Arbeitsamt, mir einen Strick drehen zu können, ich suchte doch gar keine Stelle, ich wolle doch Lehrer werden. Auf eine Einstellung in den öffentlichen Dienst könne ich mich nicht verlassen, ich stünde für eine Vermittlung selbstverständlich zur Verfügung, machte ich dem Herrn vom Arbeitsamt klar. Ich folgte sogar der Einladung zu einem Vorstellungsgespräch bei der Firma „Readymix Lahn-Waschkies“ in Heuchelheim. Der Geschäftsführer, Reinhard Schneider, gab zu Beginn des Gesprächs unumwunden zu, dass er aus den Unterlagen wisse, dass ich Lehrer werden wolle und ich an einer Einstellung sicherlich kein Interesse hätte. Mein Lebenslauf hätte ihn aber sehr interessiert. Die Einladung sei aus einer gewissen Neugier erfolgt. Den Bewerber wolle er sich doch einmal ansehen. Ich hatte meine Pflicht gegenüber dem Arbeitsamt erfüllt.

Erste Stelle Adolf-Reichwein-Schule Limburg
Erneut musste ich schmerzlich erfahren, dass mündliche Zusagen im öffentlichen Dienst absolut unverbindlich sind. Nicht an der FFS, sondern an der Adolf-Reichwein-Schule in Limburg trat ich am 01.08.1976 meinen Dienst als Studienrat z. A. an. Aber auch diesmal hatte ich Glück. Genau wie in Alsfeld, nach einem halben Jahr war ich wieder an der FFS. Eine auffallende Persönlichkeit an der Adolf-Reichwein-Schule war ein sehr junger Abteilungsleiter. Er war mein Jahrgang. Sehr viel später erzählte er mir, er war bereits Schulleiter und ich stellvertretender Schulleiter, dass ich bei ihm einen guten Eindruck hinterlassen hätte und er es sehr bedauerte als ich Limburg verließ. Eine Erfahrung nahm ich allerdings aus Limburg mit. Schulen sind das Spiegelbild der politischen Landschaft. Im katholischen Limburg herrschten an den Schulen diesmal nicht die SPD und die GEW, sondern die CDU und der Bischof. Auch dies hat mir nicht gefallen.


Meine erste Klasse an der FFS
Am 01.02.1977 wechselte ich von der ARS Limburg zur FFS in Gießen. Mir völlig unbekannten Kollegen riefen mich an und fragten, wie mir dies gelungen sei, bereits nach einem halben Jahr versetzt zu werden. Mitten im Schuljahr wurde ich als Klassenlehrer der Klasse 9K6 der „Zweijährigen Kaufmännischen Berufsfachschule“ eingesetzt. Für die Schulleitung kam ich wie gerufen, denn meine Vorgängerin hatte angeblich Probleme mit den Schülern, ich nicht. Mit ihren 14 und 15 Jahren waren die Schüler zwar in einem schwierigen Alter, aber wenn man sie richtig anpackte, waren sie ganz in Ordnung und zum Teil regelrecht anhänglich. 

Unsere Abschlussfahrt im Jahre 1978 hatte ich aus dem Programm der Bundesbahn. Mit dem Sonderzug ging es bequem nach Berchtesgaden. Ich hatte keine Vorstellung von unserer Unterkunft und war begeistert als ich das wunderschöne große im alpenländischen Stil gebaute Haus sah. Es lag etwas außerhalb von Berchtesgaden an einem Hang mit herrlicher Aussicht über das gesamte Tal. Als Lehrer bekam ich das größte und schönste Zimmer. Martina Balser schaute neugierig rein, war sehr angetan und fragte spontan, ob ich sie nicht für meine Tochter ausgeben könnte. Das war nicht ernst gemeint. Berchtesgaden war kein reiner Zufall. Es war das Ziel meiner Abschlussfahrt mit meinem geliebten Klassenlehrer Richard Tölg der Mittelschule in Wieseck gewesen. Nun konnte ich mit meinen Schülern erneut die vielen Sehenswürdigkeiten besuchen. Fast alle Schüler hatte ich zum Abschluss gebracht und alle wurden beruflich erfolgreich. Die Zeit an der FFS haben sie offensichtlich in guter Erinnerung, denn mit fast allen Schülern habe ich noch heute Kontakt und ihre Kinder waren inzwischen auch an unserer Schule. 

Klassenfahrten sind keine Urlaubsfahrten für Lehrer außerhalb der Ferien, auch wenn Außenstehenden dies manchmal so vorkommen sollte. Deutlich wird dies, wenn auf der Klassenfahrt etwas vorfällt, denn der Lehrer trägt grundsätzlich die Verantwortung und ist in dieser Zeit rund um die Uhr im Dienst. Nicht gerade wenige Kollegen lehnen offen oder insgeheim die Durchführung von Klassenfahrten ab, obwohl diese zu den dienstlichen Pflichten eines Klassenlehrers gehören. Der Ärger beginnt häufig bereits bei der Vorbereitung mit der Beachtung der Verordnung und vieler Vorschriften. Es muss unterschieden werden zwischen Tagesfahrten und mehrtägigen Fahrten. Die Fahrten müssen zusammen mit einem detaillierten Programm beantragt und vom Schulleiter genehmigt werden. Kein Schüler darf aus finanziellen Gründen von der Klassenfahrt ausgeschlossen werden, folglich dürfen die Kosten der Fahrt vorgeschriebene Höchstbeträge nicht überschreiten. Die Auswahl bei Fahrten ins Ausland ist auf wenige, zumeist Anrainerländer beschränkt. Die Anzahl der Klassenfahrten ist festgelegt. In den meisten Fällen muss eine weitere Aufsichtsperson, oft des anderen Geschlechts, mitfahren. Schüler und Eltern müssen in die Planung einbezogen werden. Berufliche Schulen benötigen zusätzlich noch einen beruflichen Bezug, daher sprechen wir von Studienfahrten. Dies klingt nun alles nicht mehr so verlockend. Dennoch bin ich immer gerne und häufig mit meinen Klassen auf Fahrt gewesen. Ich bin davon überzeugt, dass keine andere schulische Veranstaltung so viel für den Klassenzusammenhalt und das gegenseitige Kennenlernen bzw. Verstehen beiträgt, auch zum Lehrer. Wenn man sich an Schule erinnert, dann vor allem an die Klassenfahrten.

Haarlem und Heuchelheimer See
Nach meiner Trennung bzw. Scheidung im Sommer 1977 stürzte ich mich in mein Junggesellenleben und tauchte, wie in alten Studentenzeiten, wieder häufig in den Studentenkneipen auf. Meine Stammkneipe wurde das mir vertraute Haarlem. In den verqualmten und auch im Winter hochsommerlich aufgeheizten Räumen traf sich die Jugend Gießens, allerdings nicht vor 22 Uhr. Szenegetränk waren immer noch der Apfelwein in der 1L-Flasche, die in den Grüppchen die Runde machte und der Apfelkorn. Im Gegensatz zum Studium hatte ich jetzt deutlich mehr Geld zur Verfügung und wurde im Haarlem wegen meiner spendablen Art schnell bekannt. 

Plötzlich, beim sich Durchquetschen im Gedränge, hielt mich eine junge Frau am Ärmel fest. „Dich kenne ich, Du bist doch Lehrer an der FFS“. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich nicht ahnen, dass ich meiner späteren Ehefrau Gabriele Fock begegnet war. Gabi ist ehemalige Schülerin der FFS und hatte mich als Referendar bei der Hospitation ihres Unterrichts zum ersten Mal gesehen. Gar nicht studentisch fuhr ich eine bequeme Limousine, einen grünen Peugeot 504, und da bekannt war, dass ich alkoholische Getränke immer nur in Maßen genoss, wurde ich von jungen Damen häufig um eine Heimfahrt nach Kneipenschluss gebeten. Regelmäßige Mitfahrerinnen wurden im Laufe der Zeit Gabi und ihre Freundinnen. Ich bekam so eine Art Beschützerrolle und amüsierte mich über die Unbekümmertheit der jungen Frauen. Nach der Scheidung tat mir dies sehr gut. Unter Studenten angesagt war der Heuchelheimer See. Man traf sich an warmen Tagen am Badestrand und es entstand eine richtige Volleyball-Clique. Durch die gemeinsame Zeit im Haarlem und am Heuchelheimer See kam ich mit Gabi in näheren Kontakt.

Klassenfahrt nach Budapest mit der HH
Ab 1978 war ich für viele Jahre als Klassenlehrer in der „Einjährigen Höheren Handelsschule“, der Schulform meines Kollegen Heinrich, eingesetzt. Ziel der Abschlussfahrt 1980 war Budapest. Mit nur einer Klasse bekam man den Bus nicht voll. Ich verständigte mich mit zwei weiteren Klassen der HH und den Klassenlehrern. Mein stellvertreten-der Schulleiter Gerhard fuhr ohne eigene Klasse mit. Budapest war für Leute aus dem Westen durch den günstigen Umtauschkurs sehr preiswert. Selbst unsere Schüler hatten dort ein privilegiertes Leben. Wir hatten über die Reiseleitung ein Abendessen in einem äußerst prunkvollen Hotel, heißt heute wieder New Yorker, gebucht. Die Schüler konnten mit der barocken Pracht wenig anfangen und wären am liebsten gleich wieder verschwunden. Für uns Kollegen wurde es ein einmaliges Erlebnis, insbesondere als nach dem Essen eine Zigeunerkapelle bekannte Operettenmelodien spielte. Unser Romantiker Gerhard war zu Tränen gerührt. Der alte Kapellmeister blieb nach einem ordentlichen Trinkgeld bis zum Schluss. Am Vorabend unserer Heimfahrt wollten wir Kollegen in ei-nem feinen Hotel hoch über Budapest Abschied feiern. Die Hotelbar befand sich im obersten Stock. Wir saßen an der großen Fensterfront mit einem einmaligen Blick auf das erleuchtete Budapest und tranken edelsten Cognac aus übergroßen Schwenkern. Ein bescheidener und zurückhaltender Kollege, tippte mich in die Seite. „Schau mal da hinten, die junge Frau, die schaut andauernd zu mir herüber. Meinst Du, ich könnte sie zum Tanzen auffordern? „Da geht auch noch mehr“, antwortete ich ihm vielsagend. Er konnte es nicht glauben.

Deutsche Angestellten-Akademie (DAA)
Meine Entscheidung, die freie Wirtschaft zu verlassen und in den Schuldienst einzutreten, war verbunden mit dem Verzicht auf jegliche Karrierepläne. Mein Wunsch war es zu unterrichten, einfach nur Lehrer zu sein. Für eine eventuelle Schulkarriere hätte ich mir auch die falsche Schule ausgesucht, denn die Schulleitung der FFS war mit relativ jungen Kollegen komplett besetzt. Frauen in der Schulleitung gab es nicht. Sehr bald entwickelte sich eine Freundschaft zwischen mir und dem Abteilungsleiter Heinrich sowie dem Stellvertretenden Schulleiter Studiendirektor Gerhard. Gerhard kannte ich bereits von meinen Wochenendheimfahrten von Wolfsburg. Wir lernten uns beim Saunieren im Kurbad Schuster in der Marburger Straße kennen. Ihm habe ich sehr viel zu verdanken. Er ermutigte mich, in den Schuldienst zu wechseln und warb für seine FFS. Ich war noch gar nicht so lange im Amt als mich Gerhard im Jahr 1978 fragte, ob ich Interesse an einer nebenberuflichen Tätigkeit in der Erwachsenenbildung hätte. Die Deutsche Angestellten-Akademie (DAA), eine Bildungseinrichtung der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG), suchte dringend einen jungen Kollegen. Er versicherte mir, die zusätzliche Belastung wäre gering. Ich hätte es schließlich mit berufstätigen, erwachsenen Frauen zu tun, die zu Sekretärinnen ausgebildet würden. Auch er und Heinrich wären dort nebenberuflich tätig. Er könne es sich gut vorstellen, dass ich Spaß an der Erwachsenenbildung hätte. Die Kurse tangierten nicht mit meinem Unterricht an der FFS. Sie fänden entweder wochentags nach 18 Uhr oder vormittags an Samstagen statt. Die Entscheidung habe ich nie bereut. Ich konnte Erfahrungen sammeln, die an öffentlichen Schulen so nicht möglich sind. An der DAA habe ich einige Jahre mit großer Freude un-terrichtet. Erst als ich den Aufbau einer Übungsfirma – auch eine Idee von Gerhard – in Angriff nahm, wurde mir der zusätzliche Unterricht zu viel.

Gabi im Eichendorffring
In letzter Zeit verbrachten Gabi und ich viel Zeit miteinander. Als ich aus meinem Sommer-Urlaub 1980 aus Südfrankreich wieder in der „Zwibbel“ auftauchte, gestand sie mir zu meiner Überraschung, dass ich ihr gefehlt hätte. Ich hatte angenommen, dass ich für Gabi „leider“ nur ein guter Freund war und hatte mir andere Gedanken verboten. Jetzt ging alles sehr rasch. Gabi kündigte ihre Wohnung und zog zu mir in den Eichendorffring. Gabi und ich kannten uns bereits seit vier Jahren. Wenn auch der Kontakt immer wieder einmal abbrach, hatten wir uns nie aus den Augen verloren. Wir waren einander sehr vertraut. Bei Gabi hatte ich das Gefühl angekommen zu sein. Meine Bedenken aus der gescheiterten ersten Ehe waren wie weggeblasen. Meine Mutter war, als ich ihr Gabi vorstellte, zunächst nicht gerade begeistert „wieder so ein junges Ding“, schloss Gabi aber sehr bald in ihr Herz. Zwei Stockwerke über uns wohnte Ulla, die mit der Gabi morgens im Bus zur Arbeit fuhr. Es entstand zwischen den beiden Frauen eine Freund-schaft, die bis heute mit gleicher Intensität besteht. Mehrere Male im Jahr, immer am Freitagabend, ist Sekt schlürfen angesagt. Ich darf Gabi dann gegen Mitternacht wieder abholen. Dies tue ich nicht ungern, denn Ullas Ehemann Roman lässt es sich nicht nehmen, mir ein Glas seines vorzüglichen spanischen Brandys zu spedieren. Bei einer Karibikkreuzfahrt war er auf den Geschmack von Rum gekommen.  Ich kann ihn gut verstehen. Der karibische Rum ist etwas ganz Besonderes.

Familie Fock
Gabis Mutter Hildegard Fock wohnt in einem Bungalow auf einem großen Grundstück in Gießen-Allendorf. Gabis Vater Erich Fock, Eigentümer einer großen Installationsfirma in Großen Linden, hat es gebaut. Als ich Gabi kennenlernte, war es ein Dreimädelhaus, denn Gabi hat noch die beiden jüngeren Schwestern Martina und Sandra. Wie ich sehr schnell feststellte, war ich in ein Bienennest gefallen, es wimmelte an weiblicher Verwandtschaft, denn auch Gabis Mutter hatte zwei jüngere Schwestern.

Brigitte Ullmann, die jüngste Schwester, zwei Jahre jünger als ich, war nicht nur Gabis Tante, sondern auch eine Freundin. Brigitte war eine auffallende Erscheinung, umgeben von einer Aura, die auch für Frauen anziehend war. Gute Voraussetzungen für eine selbständige Tätigkeit im Verkauf. Ihre große Liebe und Ehemann war der charmante und eloquente Eberhard Ullmann, der geborene Verkäufer. Die Beziehung war intensiv, aber problematisch. Man ging auseinander und kam wieder zusammen. Verabredungen waren nur kurzfristig möglich. Aus erster Ehe hatte Brigitte zwei prächtige Buben, Markus und Rafael. Zu ihrem leiblichen Vater hatten sie kaum Verbindung. Brigitte hatte auch eher gebremst als geförderet. Ich wurde zum väterlichen Freund bis heute. Gabis Vater ging es gesundheitlich sehr schlecht. Er verstarb sehr bald nach unserer Hochzeit,  mit nur 55 Jahren. 

Gabis Mutter war nun auf sich allein gestellt. Darauf war sie aber nicht vorbereitet. Es begann für sie eine schlimme Zeit. Aber auch für ihre Töchter war die Zeit mit dem kranken Vater nicht einfach, vor allem für Sandra. Sie lebte noch im Haus der Mutter. Nach ihrem Abi ging Sandra nach Berlin an die Lotteschule, eine Schule für Fotografie. Im Grunewald ist sie mit einem selbständigen Industrie-Fotografen, Idris Kolodziej, verheiratet. Sandra wechselte den Beruf und arbeitet als Steuerfachkraft. Ihr in-zwischen 19jähriger Sohn Lou ist Hildegards einziger Enkel. Martina packte nach ihrer Ausbildung als Großhandelskauffrau der Ehrgeiz und machte auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur. Sie wurde Gymnasiallehrerin für Deutsch und Biologie. Die Liebe brachte sie nach Potsdam. Auch ihr Ehemann Heiko Schäfer arbeitet im Dienste des Landes Brandenburg. Die standesamtliche Hochzeit von Martina und Heiko habe ich leider verpasst. Bevor ich mit Gabi, meiner Schwiegermutter und einer Trauzeugin nach Potsdam in meinem Auto starten konnte, musste ich noch als Zeuge vor dem Gießener Amtsgericht gehört werden. Unterwegs wurde es knapp, wie immer, wenn man es eilig hat. Auf der Autobahn gab es einen schweren Unfall mit einem Gefahrentransporter mit Sperrung der Autobahn und Umleitung. Da gab es Tränen. 

Gabi liebte das Meer und das Strandleben. ich war, geprägt durch Enis Erziehung, eher an kulturellen Besichtigungen interessiert. Eine gute Unterkunft bzw. gutes Essen spielte bei mir keine Rolle. Dagegen war Gabi durch die Urlaube mit ihren Eltern Spitzenhotels mit Halbpension gewohnt. Folglich waren unsere Urlaube immer eine Mischung aus Strandleben und Sightseeing. An meine geringen Ansprüche hinsichtlich der Unterkünfte konnte sie sich nur schwer gewöhnen. Mit zunehmendem Alter nahm der Wunsch nach Bequemlichkeit auch bei mir zu. Heute ist ein Kompromiss für unsere Urlaube nicht mehr nötig. 

Unseren ersten gemeinsamen Kurzurlaub hatten wir im Herbst 1980 in Rothenburg ob der Tauber. Wir übernachteten im Hotel garni des ehemaligen Fernsehkochs Adam, ganz romantisch in einem Haus direkt an der Stadtmauer, neben einem prächtigen Tor zu einem kleinen Park. Eigentlich nicht die Traumvorstellung für eine 22-Jährige. Aber wir hatten uns, mehr brauchten wir nicht, damals. Es wurde ein wunderschönes Wochenende. Dem sollten einige schöne Kurzurlaube folgen. Ein Jahr später fuhren wir rund durch Holland. Unseren letzten Urlaub vor der Hochzeit verbrachten wir Ostern 1982 im Allgäu. Ein Kollege hatte in Oberreute ein wunderschönes, großes Appartement in einem Terrassenhaus. Allerdings waren Gabi und ich nicht allein. Gabis Mutter und ihre kleine Schwester hatte ich eingeladen. Gabis Mutter ist nur fünf Jahre älter als ich und sah recht flott aus. Da gab es schon die eine oder andere Verwechslung.  Das eigentliche Problem war aber die kleine Schwester. Die war mit ihren 11 Jahren an Besichtigungen nicht interessiert und hätte es sich am liebsten mit einem spannenden Buch in der Unterkunft bequem gemacht. Ich war dennoch hartnäckig und schleppte sie vom Bodensee über Füssen bis nach Oberstdorf und auf das Walmendinger Horn. 

Es war ein bereits sommerlicher Tag an einem Wochenende im April 1982 und ideales Wetter für einen Spaziergang in der frühlingserwachenden Natur. Am Waldesrand neben dem Gleibach mit dem schönen Blick auf den Gleiberg war es so weit. Wir waren nun fast zwei Jahre ein Paar. Ich war mir absolut sicher, die Frau fürs Leben gefunden zu haben und machte Gabi einen Heiratsan-trag. Gabi war verblüfft. Darüber hatten wir bisher nicht gesprochen. Auf meinen Antrag war sie nicht vorbereitet. Sie blieb stehen und überlegte. Mir wurde schon heiß. Dann schaute sie mich an und sagte strahlend: ja. Jetzt wurde es hektisch. Gleich am Montag bestellten wir unser Aufgebot.

Hochzeit (1982)
Am 18.06.1982, sechs Tage nach Gabis 24. Geburtstag, heirateten wir im Standesamt Gießen. Unsere Trauzeugen waren Gabis Tante Brigitte und mein Bruder Henning. Ich mag keinen Männerschmuck und war daher an einem Ehering nicht interessiert. Um nicht als Sparfuchs zu erscheinen, machte ich Gabi das Angebot, ihr als Ersatz einen sehr viel teureren Ehering zu kaufen. So gut fand sie die Idee zwar nicht, war aber letztlich damit einverstanden. Bei der standesamtlichen Trauung fiel das Fehlen des zweiten Ringes gar nicht auf. Danach fuhren wir zum Mittagessen auf die Burg Staufenberg. Bei meinem Bruder Henning Am Nahrungsberg wurde am folgenden Abend gefeiert. Im Nachhinein wundere ich mich, dass er und vor allem seine Frau Gabriele dazu bereit waren. Henning war es gewohnt, für Familienfeiern zuständig zu sein. Er war der einzige in der Familie mit einer geräumigen Wohnung und vielen Sitzmöglichkeiten. Wegen des überraschend knappen Hochzeitstermins hatte ich keine geeigneten Räumlichkeiten für die Hochzeitsfeier gefunden. Ich wusste mir keinen anderen Rat und war sehr froh und dankbar, als Henning, ohne mit der Wimper zu zucken, sofort einwilligte. Eine Hochzeitsfeier in einer Privatwohnung beschränkt zwingend den Kreis der Gäste auf die Familie und die engsten Freunde. Es war also eine eher kleine, bescheidene Hochzeit ohne weißes Brautkleid und Hochzeitskutsche, niemand stand Spalier und warf mit Reis, die Braut wurde nicht entführt. Gabi war vor der Hochzeit jedoch sehr aufgeregt und hatte dabei sogar einige Pfunde abgenommen. Noch mehr Trubel wäre ihr sicher nicht bekommen. Von meinen Freunden hatte ich zusätzlich zur Saunagruppe Heinz und Moni bzw. Jan und Elisabeth eingeladen. Ziele unserer Hochzeitsreise waren Venedig und Capri.

 


Prager Fahrstuhlsturz
Zusammen mit Heinrich fuhr ich auf Klassenfahrt gerne nach Prag. Das Preisgefälle zu Deutschland war enorm und wenn man schwarz umtauschte, konnte man sein Geld kaum ausgeben. Diese Fahrten waren aber wegen des billigen Wodkas nicht ganz unproblematisch. Bereits direkt hinter der Grenze gaben Autos Blinkzeichen. Der Busfahrer hielt bei nächster Gelegenheit. Einer der Tschechen stieg in den Bus ein, ging durch den Gang und wechselte Schüler für Schüler. Dies war die sicherste Art, Geld schwarz zu wechseln. Wir saßen 1984 in froher Kollegenrunde in der Hotelbar. Es war gegen 1 Uhr nachts, als ein Schüler aufgeregt in die Bar stürzte und uns mitteilte, es wäre etwas Schreckliches passiert. Ein Schüler von Heinrich, sei in den Fahrstuhlschacht gestürzt. 

Wir kamen gerade hinzu, als der Schüler aus dem Schacht gehoben. Wurde. Er war nur noch mit einer zerrissenen Unterhose bekleidet und blutete am ganzen Körper. Die Hände waren rabenschwarz. Kurz danach kamen Notarztwagen und Polizei. Der Schüler wurde schnell eingeladen und in die Klinik gefahren. Eine Mitfahrt wurde Heinrich verwehrt. Die Polizei hatte in den Zimmern leere Wodkaflaschen gefunden. Wie war so et-was möglich? Die Schüler hatten nicht nur Bier, sondern auch Wodka getrunken. Offen-sichtlich war er so betrunken, dass er nicht mehr allein ein Stockwerk tiefer auf sein Zimmer gehen konnte. Ein Mitschüler begleitete ihn zum Fahrstuhl und lehnte ihn an die Fahrstuhltür. Der Schüler war ein junger Mann von fast 1,90 m und mindestens 120 kg. Dieses Gewicht hielt die Glastür nicht aus und zerbrach. Er fiel in den offenen Schacht oben auf den drei Stockwerke unter ihm stehenden Fahrstuhl. Er hat wohl versucht, sich im Fallen an den Fahrstuhlseilen festzuhalten und ist dabei im engen Schacht hin und her geschaukelt. Seine Kleidung wurde durch die starke Reibung zerfetzt. 

Heinrich fand keine Ruhe und bestellte ein Taxi, mit dem wir alle Krankenhäuser Prags abfuhren, bis wir den Schüler endlich fanden. Der behandelte Arzt meinte nur lächelnd, unser Schüler müsse Russe sein. Er habe sich nichts gebrochen, sei aber voller Schnittwunden wegen des Glases und habe starke Prellungen. Wir könnten ihn gleich wieder mitnehmen. Im Hotel bekam er bald Schüttelfrost und ich war froh, als am Morgen die Reiseleiterin erschien und den Schüler erneut ins Krankenhaus einweisen ließ. Am nächsten Tag war Abreise, wir konnten unseren verletzten Schüler unmöglich allein zurücklassen. Eine Kollegin erklärte sich bereit, noch in Prag zu bleiben. 

In Gießen wieder angekommen, suchte ich als erstes seine Eltern auf, um über den Vorfall zu berichten. Die erste Frage der Mutter war, „wie konnte dies passieren, wo waren Sie denn gewesen?“ Der Vater griff aber sofort ein und sagte, „wir kennen unseren Sohn, außerdem ist er volljährig“. Der Vater war froh, dass sein Sohn diesen Sturz überlebt hatte, vertraute den tschechischen Ärzten aber nicht. Unser Schüler wurde nach einer Woche mit einem Spezialflugzeug des ADAC nach Frankfurt und anschließend in einem Spezialtransporter in die Uniklinik nach Gießen gebracht. Dort wurde er noch einmal gründlich untersucht und die deutschen Ärzte kamen zum gleichen Ergebnis wie ihre ungarischen Kollegen. Was für ein Glück. Danach fuhr ich mit Klassen nie wieder nach Prag.

Das Lernbüro Bürobedarfgroßhandlung Friedrich Feld & Co.
Heinrich bekam 1981 von Gerhard die Projektleitung und die Aufgabe, mit mir etwas aufzubauen, was man bisher nur in Schulen des gewerblichen Bereichs als Lehrwerkstatt kannte: die Verknüpfung von Theorie und beruflicher Praxis in einer Übungsfirma. Wir betraten absolutes Neuland. Es gab weder eine Konzeption noch irgendwelche Unterlagen für den Unterricht. Dennoch war ich von der Idee begeistert und erklärte mich bereit, die notwendige pädagogische und fachliche Konzeption zu erarbeiten. 

Ich hatte auch schon eine Idee. Ich wusste, dass die DAA Träger für die Umschulung Arbeitsloser zu Bürokaufleuten war. Die Umschüler gingen zwei Mal die Woche in die Berufsschule und an drei Tagen arbeiteten sie in einer sogenannten Übungsfirma „Gießener Seifengroßhandlung“ in den Räumen der DAA. Die Übungsfirma war organisiert wie ein echtes Großhandelsunternehmen mit allen Abteilungen und den entsprechenden Arbeitsabläufen, den notwendigen Arbeitsplätzen und Büromaschinen, aber ohne Waren. Um mir ein eigenes Bild zu machen, bat ich um ein Art Praktikum in der Übungsfirma. Die Ernsthaftigkeit und der Arbeitseifer der Umschüler und die Arbeitsweise der Lehrer beeindruckten mich sehr. Eine weitere Vorbereitung bestand in der intensiven Beratung durch Repräsentanten der für das Projekt gewonnenen Patenfirmen „VOKO“ und „Stempel-Kreuter“. 

Gleichzeitig war mir bewusst, dass eine Übertragung des Modells Übungsfirma eins zu eins auf die Schüler der FFS nicht möglich wäre. Für unsere Schüler hatten wir maximal vier Unterrichtsstunden in der Woche zur Verfügung. Die Ansprüche mussten deutlich heruntergeschraubt werden. Somit war der Arbeitstitel Übungsfirma, aber nicht die Idee gestorben. In Anlehnung an den Begriff Lehrwerkstatt erfand den neuen Arbeitstitel Lehrbüro. Ein grobes Unterrichtskonzept hatte ich bereits. Um erste Erfahrungen zu sammeln, unterrichtete ich im Schuljahr 1981/82 im Lehrbüro eine Pilotklasse. Zwischenzeitlich nahm ich an Schulungen verschiedener Bürogeräteher-steller teil, z. B. Wochenkurs zur Einarbeitung in den Schr eibautomaten ET 351 bei der Firma Olivetti, Tageskurs der Firma Berthold für das Fotosatzgerät. In der Einführungsphase des Schuljahres 1982/83 unterrichteten Gudrun Hildebrand und ich drei Klassen der Höheren Handelsschule im 1. Halbjahr und der Zweijährigen Berufsfachschule im 2. Halbjahr. 

Später versuchte ein Kollege von der MES in Alsfeld, die Übungsfirma an Hessischen Schulen als Konkurrenz zum Lehrbüro durchzusetzen. Dies gelang aber nicht. Auch er musste letztlich einsehen, dass die Übungsfirma mit ihren sehr hohen Ansprüchen nur bei einer Unterrichtsstundenzahl möglich ist, die für Vollzeitschüler an Beruflichen Schulen niemals zur  Verfügung stehen würden.Folgende Probleme mussten bei der Entwicklung einer Konzeption beachtet und gelöst werden: Das Lehrbüro stellt für die Ausbildung eine Ausnahmesituation dar. Alle mitarbeitenden Schüler sind neu einge-stellt. Es gibt keine erfahrenen Mitarbeiter, die Azubis einarbeiten und betreuen könnten. Die Rolle des Lehrers verändert sich im Lehrbüro grundlegend. Er ist vor allem Berater und Beobachter. Die aktive Rolle übernehmen die Schüler. 

Mir wurde schnell klar, um das selbständige Lernen und Arbeiten der Schüler zu sichern, ist der Einsatz von Arbeitsablaufheften in den Händen der Schüler unverzichtbar. Da es diese aber auf dem Büchermarkt nicht gab, musste ich sie mir selbst erstellen. Die pädagogische Idee war „Lernen durch Tun bzw. durch die Anwendung theoretischen Wissens“. So, wie man ein neues Spiel nicht allein durch das Lesen der Spielanleitung lernt bzw. die ausführlichen Erläuterungen eines Mitspielers nur einen Eindruck vermitteln, so lernt man ein neues Spiel am besten und schnellsten in der Anwendung. Diese Erkenntnis gilt auch für das Lernen in der Schule. Heinrich hatte die außergewöhnliche Idee, Hersteller von Bü-roartikeln anzuschreiben, unsere Lehrbüro-Idee vorzutragen und um die Zusendung von Waren zu bitten. Die im Kollegium verspotteten „Bettelbriefe“ waren äußerst erfolgreich und über uns brach ausgerechnet in den Sommerferien eine Flut von Paketzusendun-gen herein. Es war toller als an Weihnachten. Unser Lehrbüro war im letzten Stock unter dem Dach untergebracht. Ich sehe mich noch wie heute zusammen mit Heinrich bei 39 Grad nur in Badehose bekleidet die Pakete auspacken und in unser eigens dafür eingerichtetes Lager einzusortieren. 

Heinrich und ich nahmen die Messen in Frankfurt und Hannover zum Anlass, dort an den Ständen mit den bereits gewonnenen Lieferern in persönlichen Gesprächen die Kontakte zu festigen und über den Fortgang des Projektes zu berichten. Darüber hinaus wurden neue Kontakte geknüpft und neue Lieferer gewonnen. Im Jahre 1982 gründeten wir als erste in Hessen unser Lehrbüro, die „Büro-bedarfgroßhandlung Friedrich Feld & Co.“ und am Ende des Schuljahres 1982/83 wurde das Lernbüro mit Einschaltung der Presse offiziell eingeweiht. Da unser Bürobedarfgroßhandlung Friedrich Feld & Co. als einziges Lehrbüro mit konkreten Waren handelte, nannten wir unsere Konzeption „Gießener Modell“. Für den Aufbau des Lehrbüros aus dem Nichts bekam ich im Schuljahr 81/82 zwei und im Schuljahr 82/83 eine Wochenstunde Entlastung. Mehr wollte ich nicht beanspruchen. Ich hätte mich vor der Gesamtkonferenz erklären müssen. Dazu hatte ich keine Lust.

 

Winklers Verlag
Im Frühsommer 1986 trat ich mit dem in Hessen bekannten Schulbuchverlag Winklers Verlag Gebrüder Grimm Darmstadt in Verbindung und bot meine Idee und meine Unterlagen zum Druck an. Bei Winklers rannte ich offene Türen ein, denn die von mir erarbeiteten Unterlagen waren auf dem deutschen Markt einmalig, außerdem hatte der Verlag bereits Dr. Klaus Halfpap und seinem Lehrbüchlein „Das Lernbüro – Zur Theorie und Praxis des Arbeitslernens“ unter Vertrag. Um nicht mit zwei verschiedenen Begriffen zum selben Thema Verwirrung zu schaffen, bat mich der Geschäftsführer Herr Grimm, den von Herrn Dr. Halfpap geprägten Begriff „Lernbüro“ zu übernehmen. Damit hatte ich keine Probleme. Wir einigten uns auf den Druck von drei Arbeitsheften (Verwaltung, Absatz, Beschaffung) und integrierten Übungen mit dem Titel „Das Lernbüro – Lernen durch Anwenden“. Darüber hinaus sollte der Lehrerschaft noch ein kostenloses Lösungsbuch angeboten werden.  Die Einbeziehung von Übungen zu jedem Kapitel mit der Notwendigkeit, die Lösungen in die Hefte zu schreiben, war gut überlegt. Dadurch konnten die Hefte von den Schülern nur ein einziges Mal verwendet werden und wurden zu sogenanntem Verbrauchsmaterial, das am Ende des Schuljahres nicht mehr zurückgegeben wurde. Eine gegenüber dem Lehrbuch höhere Auflage war somit sicher. 

Die Hefte verkauften sich anfangs recht gut. Reich geworden bin ich damit dennoch nicht, nur in ganz Deutschland bekannt. Die alte Regelbeförderung nach fünf Jahren gab es schon lange nicht mehr. Die hatte ich verpasst. Es wurde nur noch befördert, wer eine besondere Aufgabe hatte, aber auch nur dann, wenn eine Stelle vorhanden war. Den ersten Teil der Bedingung erfüllte ich mit dem Aufbau und der Leitung des Lernbüros in hervorragender Weise. Dennoch wurde der Antrag meines Schulleiters, Lothar Surkau, auf Beförderung zweimal mit dem größten Bedauern abgelehnt. Erst beim dritten Anlauf, nach 10 Jahren Schuldienst, war eine Stelle frei. Im April 1986 wurde ich zum Oberstudienrat befördert. Mit dem zunehmenden Sparzwang der Schulen ging der Absatz ständig zurück. Da halfen auch nicht die Zusammenlegung der drei Arbeitshefte zu nur einem Arbeitsheft und die Herausgabe eines eigenen Übungsbuchs. Nach der 7. Auflage, wenige Jahre vor meiner Pensionierung, war Schluss. Die Hefte konnten mit den neuen technischen Innovationen nicht mithalten und der Aufwand für eine Aktualisierung war für eine Person einfach zu groß. Im Rückblick war die Lernbüroidee ihrer Zeit voraus. Sie hat die sehr viel später aufkommende Idee des handlungsorientierten und selbständigen schülerzentrierten Lernens vorweggenommen und in gewisser Weise mitinitiiert. Vor dem 30. Jahrestag des Lernbüros übertrug ich die Leitung des Lernbüros einem EDV-Spezialisten. Ein Lernbüro zu leiten und am Leben zu erhalten, ist sehr aufwendig und benötigt viel Herzblut. Eine Schulleitung ist niemals in der Lage, die vielen Extrastunden auszugleichen. Ich habe es immerhin geschafft, den Kollegen aufgrund seiner Leitungstätigkeit zum Oberstudienrat zu befördern.

Bewerbung um die Stelle des stellv. Schulleiters der FFS
Mit dem Verzicht auf die sehr gut dotierte Stelle bei Eli Lilly in Bad Homburg hatte ich alle Gedanken an Karriere aufgegeben. Ich konnte mir vorstellen, dass mir das aus-kömmliche und sichere Leben eines Studienrates genügte. Das war, wie sich herausstel-len sollte, zu kurz gedacht. Übersehen hatte ich, dass ein Weiterkommen im Beruf auch etwas mit zusätzlichen Annehmlichkeiten, Anerkennung und letztlich dem Selbstwertge-fühl zu tun hat. Anscheinend hatte ich meine Zeit bei der Bundeswehr vergessen. Wa-rum hatte ich als Wehrpflichtiger die Zeit nicht einfach abgesessen und stattdessen frei-willig an einem Fahnenjunkerlehrgang teilgenommen? Ich wollte nicht als Nummer in der Masse verschwinden, nicht mehr morgens mit der Trillerpfeife geweckt werden, vielmehr mich in dem angenehmen Ambiente eines Offizierskasinos zum Mittagessen be-dienen lassen. Dafür und nicht für Geld hatte ich mich im Grunde angestrengt.

In der Schulabteilung beim RP
Meinem stellvertretenden Schulleiter und Freund Gerhard Knetsch ging es gesundheitlich schlecht und er plante seine frühzeitige Pensionierung. Ich hatte immer deutlich gemacht, dass ich an einer Leitungsposition nicht interessiert war. Karriere im öffentlichen Dienst ohne die richtige Parteizugehörigkeit war sowieso nicht einfach. „Gerald, Du musst es machen, ich helfe Dir dabei“, war Gerhards dringlicher Appell. Zunächst vermittelte er mir im Jahre 1989 für ein halbes Jahr eine Stelle als Hilfsdezernent in die Schulabteilung des Regierungspräsidiums. Diese Tätigkeit war ein bekanntes Sprungbrett für höhere Weihen. Mein Dezernent war zuständig für den Bereich Gießen/Vogelsberg. Trotz politischer Differenzen kam ich mit ihm wunderbar aus. Er imponierte mir wegen seiner sehr guten Fachkenntnisse und seiner unaufgeregten Art. Mein Büro teilte ich mit dem Hilfsdezernenten des Bereiches Lahn-Dill/Weilburg-Limburg. Leider saß ich zumeist allein im Büro, denn der umtriebige Kollege war ständig auf Achse. Sein Lieblingsprojekt war die aus Dänemark stammende Idee der Produktionsschule. Manchmal wusste ich schon nicht mehr, bei wem ich Hilfsdezernent war. Die Leiterin des Bereichs Lahn-Dill/Weilburg-Limburg hatte als Hilfsdezernenten zumeist Männer und neigte dazu, ihre „Buben“ auch zu bemuttern. Selbst nach ihrem Ausscheiden aus dem Dienst, hielt sie Kontakt zu ihren Buben und vergaß keinen Geburtstag, auch meinen nicht. Zu mir hatte sie ein besonderes Verhältnis. Ich war für sie wohl so eine Art "Bub" ehrenhalber. Sie fuhr einen VW Scirocco und war ganz stolz, dass der Namensgeber einer ihrer Mitarbeiter war.

Mein Vetter Christian Balser konnte von meinem guten Verhältnis zur Leiterin des Bereichs Lahn-Dill/Weilburg-Limburg auch profitieren. Christian hatte große Probleme mit seinem Ausbilder bzw. Ausbildungsleiter am Seminar und Angst abgeschossen zu werden. Er suchte beim RP Gießen einen Ansprechpartner für sein Problem. An einer Tür las er den Namen Balser. Nun ist der Name Balser in Raum Gießen nicht gerade selten. An mich hatte er nicht gedacht. Umso größer war die Überraschung, mich beim RP anzutreffen. Die Leiterin meinte nur „noch ein nettes Balsergesicht“. Sie kannte und mochte auch meine Mutter. Die Schulabteilung des RP war in einem Hochhaus an der Gabelung Grünberger und Licher Straße untergebracht und die Leiterin aß sehr häufig im gegen-überliegenden Chinarestaurant zu Mittag. Meine Mutter war mit dem Pächterehepaar und vor allem mit der kleinen Tochter ChinChin eng befreundet und im Chinarestaurant öfter anzutreffen. So lernte sie die Leiterin kennen und mochte sie auf Anhieb. Bei der Beerdigung der Leiterin in Watzenborn-Steinberg trafen sich fast alle Rötter-Buben wieder und erwiesen ihrer ehemaligen Chefin die letzte Ehre.

Für meine Mutter wurde ChinChin zur Enkelin. Bei den Beiden stimmte die Chemie. ChinChin konnte die Familiengeschichten erzählen, als wenn sie dabei gewesen wäre. Meine Mutter begleitete die kleine ChinChin gerne ins Ballett. Als ehemalige Balletttänzerin machte dies meiner Mutter besonders viel Spaß. Die Freundschaft hielt ein ganzes Leben. ChinChin hat erfolgreich Jura studiert und geheiratet. Ihr Sohn Tom hat wie Henning am 14. März Geburtstag. Sie zog nach der Heirat in die Nähe von Kiel. Ihr Ehemann leitet dort den väterlichen Handel für Tierfutter. Leider war die Ehe nicht von Dauer. Inzwischen arbeitet ChinChin bei der IHK in Frankfurt. Zu Muttis Geburtstag und Todestag treffen wir uns am Friedhofsparkplatz und gehen gemeinsam mit Henning im Anschluss an das stille Gedenken am Grab nach Lollar in unser Lieblings-Café. Mutti hätte sich sicherlich darüber gefreut.

Bewerbungsverfahren
Inzwischen war der langjährige Schulleiter der FFS überraschend aus gesundheitlichen Gründen von einem auf den anderen Tag ausgeschieden. Neuer Schulleiter wurde Klaus Bonkowski, ein ehemaliger Schüler der FFS und Klassenkamerad von Elisabeth. Wir kannten uns bereits aus dieser Zeit. Er machte mir seine Nachfolge an der Theodor-Heuss-Schule in Wetzlar, auch eine kaufmännische Schule, ungewollt schmackhaft. Er erzählte, sein Schulleiter würde auch sehr bald in Pension gehen. Im Jahr 1980 kam es zum Verfahren, ich war durch meine Tätigkeit beim RP gut vorbereitet. Zu meinem Erstaunen merkte ich, dass meine Krebserkrankung und die aufregende Zeit nach meiner Operation nicht spurlos an mir vorüber gegangen waren. Ich war nervös, nicht so selbstsicher wie gewohnt. Der erste Teil der Überprüfung mit dem Unterrichtsbesuch und der anschließenden Reflexion verliefen noch gut. Aber nach dem Mittagessen in der eigens für die Überprüfung angesetzten Gesamtkonferenz verlor ich die Linie. Das Kollegium in Wetzlar war sehr stark durch die GEW geprägt. Und mein Ruf als „GEW-Fresser“ ging mir voraus. Ich war bei der GEW in ganz Hessen bekannt, weil es mir gelungen war, eine Listenwahl zu verhindern und die Personalratswahl als Personenwahl zu organisieren. Das war mir so gut gelungen, dass die FFS als einzige Schule in Hessen einen Perso-nalrat ohne GEW-Mitglieder besaß. Die Fragen der Kollegen in Wetzlar waren wahrscheinlich mit meinem Konkurrenten, ihrem Hauskandidaten, vorher gut abgesprochen. Der konnte sehr überlegte, ausführliche Antworten geben. Meine spontanen Antworten waren dagegen wenig konkret. Mein zuletzt hinterlassener Eindruck war folglich nicht der Beste.

Nach einigen Wochen wurde ich zum Gespräch ins Kultusministerium geladen. Man wusste von den Absichten Gerhards und nahm an, dass ich doch sicher viel lieber an der FFS bleiben und in Gießen stellvertretender Schulleiter werden wolle. Ein halbes Jahr später im Jahr 1990 wurde ich ein zweites Mal durch die Mühlen gedreht, war aber diesmal trotz dreier Konkurrenten erfolgreich. Dem Vorsitzenden der GEW-Schulgruppe passte diese Entwicklung gar nicht. Er hatte schon im Vorfeld versucht, Tret-Minen zu verlegen. Es gelang ihm sogar nach dem Ende des Verfahrens, eine Abstimmung im Kollegium über die vier Kandidaten durchzusetzen. In dieser Abstimmung erhielt ich zwar nicht die absolute Mehrheit, hatte aber mit Abstand die meisten Stimmen. Als der Kollege dieses Ergebnis als Niederlage für mich verkaufen wollte, hatte er selbst bei wohlgesonnen Kollegen stark an Sympathie verloren. Diesen Schlag konnte er offensichtlich nicht verdauen und ließ sich versetzen. In seiner Antwort auf eine sehr freundliche Abschiedsrede von Schulleiter Bonkowski, verstieg er sich in dem Satz, „er könne gar nicht so viel essen, wie er kotzen müsse“.

Probezeit
Die Stellenübergabe des stellvertretenden Schulleiters erfolgte Ende März 1990. Die Übergabe war wie ein Sprung ins kalte Wasser, denn unmittelbar danach musste mit der Vorbereitung der Unterrichtsverteilung und des Stundenplans begonnen werden. Computer und Programme gab es noch nicht, alles wurde per Hand erledigt. Im Stellvertreterbüro hing eine große Magnettafel. Für jeden der ca. 70 Kollegen gab es ein unterschiedlich markiertes Magnetklötzchen. Die galt es, sich zunächst zu merken. Die Vorarbeit, die Unterrichtsverteilung der Lehrer auf die Fächer und Klassen, konnte ich noch allein erledigen, aber wenn es darum ging, die Stundenpläne zu stecken, brauchte ich mindestens zwei weitere Personen und viel Ruhe. Da wurde schon einmal das Büro von innen verschlossen. Zu Beginn der Sommerferien war Hochkonjunktur. Ich las den Namen des Kollegen, die Anzahl der Stunden, den Wochentag, die Unterrichtsstunde und den Raum vor. Gudrun Hildebrand steckte an der Tafel und ein Dritter kontrollierte. Zu Beginn ging das Setzen recht flott, denn es gab noch sehr viele Möglichkeiten. Das Puzzle ging aber nie auf. Erst jetzt begann die eigentliche Arbeit, das Umstecken. Für diese Geduldsarbeit waren drei Wochen angesetzt, also die Hälfte der Sommerferien. Meinen Sommerurlaub konnte ich folglich immer nur in der zweiten Hälfte nehmen. Trotz permanenter Kontrollen gab es zu Schulbeginn Pannen, z. B. trafen sich zwei Kollegen zu Beginn der Unterrichtsstunde vor dem gleichen Raum. Der Stundenplan war eigentlich erst gegen Ende der zweiten Schulwoche endgültig fertig. Katastrophen gab es auch. Wenn man sich bei der Zahl der neuen Schüler verschätzt hatte – und das kommt bei beruflichen Schulen öfter vor – musste eine zu viel gebildete Klasse wieder geschlossen bzw. eine zusätzliche Klasse gebildet werden. 

Ich hatte mit meiner neuen Tätigkeit eigentlich schon genug zu tun, da beauftragte mich die IHK Gießen-Friedberg mit dem Vorsitz des Prüfungsausschusses Kfz der Groß- und Außenhändler. Ausgerechnet Kfz, ablehnen wollte und konnte ich nicht. Meine Ausschussmitglieder waren Vertreter der Ausbildungsbetriebe von Mercedes (Neils & Kraft), BMW (Autohaus Süd) und Opel (Opel Schmidt). Die Prüfungen fanden zwei Mal im Jahr statt und ich habe mich jedes Mal da-rauf gefreut. Im Jahre 2005 wurde der Ausschuss Kfz aufgelöst. Die Übernahme eines neuen Ausschusses habe ich dankend abgelehnt. Am 22.10.1990, nach einer halbjährigen Probezeit, wurde ich zum Studiendirektor ernannt.

Klassenfahrt zur Reutmühle
Vor meiner Bewerbung war ich einige Jahre Klassenlehrer der neuen Schulform der „Zweijährigen Höheren Berufsfachschule für das Fremdsprachensekretariat“. Mein Freund Eddi, Aufsichtsrats-vorsitzender der großartigen Ferienanlage Reutmühle bei Waldkirchen, bot mir und den Schülerinnen für die Nebensaison einen sehr günstigen Preis für eine Klassenfahrt an. Der Bayrische Wald ist nicht Prag, was sollte hier schon passieren? Als Begleitpersonen hatte ich drei Fachlehrerinnen gewinnen können. Die tüchtigen Kolleginnen nahmen die Forderung der Verordnung nach einem beruflichen Bezug mehr als ernst und hielten sogar am Vormittag praktischen Unterricht. Eddi hatte zur gleichen Zeit in Reutmühle Aufsichtsratssitzung. Er und zwei seiner Aufsichtsratskollegen erklärten sich zu Vorträgen und zur Durchführung von Vorstellungsgesprächen bereit. Als Belohnung für ihren Fleiß bot Eddi den angehenden Fremdsprachensekretärinnen einen Rundflug vom Flugplatz Vilshofen und ich einen Diskobesuch in Passau an.

Nach meiner Beförderung zum stellvertretenden Schulleiter hatte ich keine eigene Klasse mehr und fuhr nur als Begleitperson mit. Die beiden verantwortlichen Klassenlehrerinnen hatten mit ihren Klassen ausgemacht, keinen Alkohol auf der Klassenfahrt. Dies hatte einen triftigen Grund. Eine der Schülerinnen war trockene Alkoholikerin und sollte nicht zum Trinken animiert werden. Der Bus hielt in Waldkirchen vor Aldi. Die Schüler versorgten sich in ihren Appartements selbst. Eine Schülerin sprach mich an, ob ich nicht für sie und den Mitschülerinnen ihres Appartements eine Flasche Rotwein kaufen könnte. An der Kasse fiel mich Doris Helfrich von hinten an. „Gerald, ich weiß genau, dass Du keinen Wein trinkst.“ Ich war ertappt.

Digitalisierung der Schule ab 1994
Inzwischen hatte der Computer die Verwaltungsarbeit erobert. Der Schulbereich hinkte leider wie immer gewaltig hinterher. Von meinem Arbeitgeber, dem Kultusministerium des Landes Hessen, war keine Unterstützung zu erwarten. Angesichts der bereits bestehenden digitalen Möglichkeiten wollte ich aber auf keinen Fall den Stundenplan für viele Jahre aufwendig manuelle erstellen. Ich verfolgte aufmerksam den Markt und fand 1992 bei einem Kollegen im Frankfurter Raum ein erstes, selbst gebasteltes Stundenplanprogramm. Dieses hatte nicht wie heute einen automatischen Verteiler, es half aber beim Stecken an der Tafel und konnte Doppelbesetzungen verhindern. Jedenfalls hatte ich den ersten Schritt gemacht. 

Zwei Jahre später, im Jahre 1994 wurde ich auf die Softwarefirma STÜBER in Koblenz aufmerksam, die sich auf den Schulbereich spezialisiert hatte. STÜBER war bereits in den Schulen von Rheinland-Pfalz stark vertreten. Ich fuhr mit allen Stellvertretern der Gießener beruflichen Schulen zu einer Informationsveranstaltung zum Sitz der Firma nach Koblenz-Bendorf und war von den drei Brüdern Stüber und den Möglichkeiten des Stundenplanprogramms DAVINCI begeistert. Mit dem Kauf und der erstmaligen Anwendung dieses Programms im Schuljahr 1994/95 erlebte meine Stundenplan-gestaltung einen Quantensprung. Sicherlich, am Anfang stand die aufwendige Eingabe aller Daten, danach war ich aber in der Lage, die Stundenpläne ohne fremde Hilfe sogar vor Beginn der Sommerferien fertig zu erstellen. Die übertriebenen Vorstellungen des Kollegiums über die Möglichkeiten der EDV weckten Begehrlichkeiten. Eine Kollegin brachte es sogar fertig, mir ihren für sie maßgeschneiderten Stundenplan abzugeben. Sie habe mir doch Arbeit abnehmen wollen und den Rest würde doch der Computer übernehmen. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder schreien sollte.

Ermutigt durch den erfolgreichen Einsatz des Stundenplanprogramms kaufte die Schule ein Jahr später von STÜBER das mit DAVINCI integrierbare Schulverwaltungspro-gramm MAGELLAN. Ein Budget für einen EDV-Spezialisten, der die Einrichtung und Pflege des EDV-Systems übernimmt, hatten die Schulen nicht. Eigentlich wäre für diese Aufga-ben die EDV-Abteilung des städtischen Schulverwaltungsamtes zuständig gewesen. Eine solche Abhängigkeit wollte ich allerdings nicht. Ich konnte mir den einsamen Sprung ins kalte, digitale Wasser nur deshalb leisten, weil ich mit Arnold Bender einen höchst kompetenten und dazu noch bienenfleißigen EDV-Kollegen hatte, der zumeist in seiner Freizeit die Arbeiten übernahm. 

Aber nicht nur die Schule, auch ich selbst hatte das Glück mit dem Schüler der "Höheren Berufsfachschule für Informationsverarbeitung" Michael Weigand einen "persönliche Assistenten" gefunden zu haben, der mein EDV-Netz und meine Server einrichtete und pflegte, sogar noch viele Jahre nach seinem Ausscheiden aus der Schule. Im Nachhinein kann ich darauf stolz sein, bereits 25 Jahre vor der heutigen Diskussion über die digitale Schule begonnen habe, die FFS sowohl im Bereich Verwaltung als auch im Unterricht durch die Einrichtung von mehreren EDV-Räumen bzw. den Kauf mobiler Laptops, die Errichtung eines Schulnetzes und die Anschaffung von Smart-Boards digital fit zu machen.

Die FFS war im Jahr 2005 eine der ersten Schulen in Hessen, die sich digital mit einer eigenen Homepage schmückte. Ich hatte neben Arnold Bender und Michael Weigand mit Christa Hirt-Weckemann eine dritte an digitaler Technik interessierte Kollegin gefunden, die in kürzester Zeit eine professionelle Homepage aus dem Boden stampfte. Noch heute ist sie mit viel Herzblut bei der Sache und das sieht man der Homepage https://www.wso-giessen.de auch an.

Das Hessische Kultusministerium interessierte sich leider nicht für die Software der Firma STÜBER. Im Kultusministerium saßen engagierte EDV-Kollegen, die glaubten genauso gut, aber deutlich billiger zu sein. Das bereits erfolgreiche Schulverwaltungsprogramm MAGELLAN der Firma STÜBER wurde nicht gekauft, es wurde an dem eigenen Programm LUD (Lehrer- und Unterrichtsdatei) gebastelt. Für mich und das Sekretariat wurde es besonders unangenehm, als im Jahr 2000 die LUD für alle hessischen Schulen verbindlich wurde. Ich wollte mich auf die LUD nicht verlassen und ließ das Sekretariat zweigleisig arbeiten. Die Prophezeiungen der Brüder Stüber wurden nach wenigen Jahren wahr. Die LUD war 2004 technisch am Ende. Inzwischen hatten sich die verantwortlichen Macher mit der Firma STÜBER zerstritten. Leider hatten die drei Brüder ihren Anteil daran. Etwas undiplomatisch ließen sie die "Amateure" spüren, was sie fachlich von ihnen hielten. Hessen kaufte nicht die bereits erprobte STÜBER-Software, sondern beauftragte die Firma CSC mit der Entwicklung des neuen Schulverwaltungsprogramms LUSD (Lehrer- und Schülerdatenbank). Der Schulbereich war für CSC Neuland. Die hessischen Schulen wurden zu Versuchskaninchen. Vorsichtshalber arbeitete unser Sekretariat immer noch zweigleisig. Und tatsächlich, es dauerte weitere Jahre bis dieses neue Programm endlich ausgereift war und funktionierte.

Meine Tür stand offen
In all den Jahren meiner Tätigkeit im Schuldienst hatte ich nie ernste Probleme mit Schülern. Meine Tür stand immer offen. Weder Schüler noch Kollegen mussten sich für ein Gespräch vorher anmelden. Meine eigene zum Teil schlimme Schulzeit hatte ich nie ver-gessen und mich für die Belange meiner Schüler eingesetzt. Natürlich vergaß ich nicht darauf hinzuweisen, dass eine Medaille zwei Seiten hat und hörte mir immer die Meinung beider Seiten an, bevor ich eine Entscheidung traf. Nicht Strafe, sondern eine Art Wiedergutmachung gegenüber dem Geschädigten war mein Ziel. Konsequenzen mussten folgen, eine lediglich gemurmelte Entschuldigung war mir zu wenig. „Was bist Du bereit freiwillig zu tun?“ war meine Standardfrage. Die Schüler akzeptierten zumeist meine Entscheidung und der Fall war damit erledigt. Krumm genommen hat man mir meine Entscheidungen nicht, denn noch heute werde ich auf der Straße von ehemaligen Schülern bereits von weitem freudig begrüßt.

Angemessene Kleidung
Zu meinen Aufgaben als stellvertretender Schulleiter gehörte auch die Aufsicht über die Schulgebäude. Der dicke Schlüsselbund hing schnell greifbar am Hosengürtel. Ich war auf dem Weg zu unserem Nebengebäude über den Schulhof, da sprach mich der Fahrer eines Lieferwagens an: „Sie sind doch der Hausmeister, wo finde ich das Sekretariat?“ Ich hielt es nicht unbedingt für nötig, den jungen Mann darüber aufzuklären, wen er vor sich hatte, aber ich wurde nachdenklich. Einen respektablen stellvertretenden Schul-leiter konnte sich der Fahrer in Jeans und Pullover sowie den Schlüsselbund an der Hose nicht vorstellen. Die Geschichte erzählte ich meinem Freund und Abteilungsleiter Günter.

Dies geschah nicht zufällig, denn Günter sah in seiner täglich wechselnden, geschmackvollen Kombination aus Stoffhose und Jackett mit Krawatte immer sehr gediegen aus. Ihn hätte man sicherlich nicht mit dem Hausmeister verwechselt. Er meinte nur lachend, das Problem könne gelöst werden. Er hatte gut lachen. Ein Klassenkamerad war der Nachrichtensprecher bzw. Redakteur im Studio der ZDF-Nachrichten „heute“ und Krawattenmann des Jahres 1988 Klaus Seibel. Dieser bekam von namhaften Herrenausstattern die Garderobe gestellt und erstickte in Hemden, Hosen, Jacketts und Krawatten. Wir alle drei hatten eine ähnliche Statur. Nun wurde auch ich dankbarer Abnehmer und nach Günter der zweitbeste angezogene Kollege an der FFS. Ich will nicht gerade behaupten, dass ich mit meinem neuen Outlook im Schulbereich einen Trend gesetzt hätte. Aber es fiel schon auf, dass mancher Kollege in der eigenen Schule aber auch Stellvertreter und Schulleiter anderer Berufsschulen peu á peu nachzogen. Der Anti-Modetrend der 68er an der Schule ging langsam zu Ende. Der ZDF-Mann wurde leider mit der Zeit etwas fülliger und stieg in der Konfektionsgröße auf. Diesen Aufstieg wollte ich nicht unbedingt mitmachen. 

Ich hatte Glück. Es war der Beginn des professionellen Fabrikverkaufs von René Lezard, Windsor und JOOP! Gabi setzte sich schnell mit ins Boot und es kamen Firmen wie z. B. St. Emile und STRENESSE hinzu. Schnäppchenjagd wurde zum gemeinsamen Hobby. Merkwürdiger Weise hatte ich mich bei unserer Schnäppchenjagd an Eni erinnert. Die zahlte nie den verlangten Preis, wollte immer einen Rabatt und war zu meiner Verwunderung zumeist erfolgreich. Heute sind Preisverhandlungen fast die Regel. Damals war mir Enis Feilschen ein bisschen peinlich. Meiner Ex-Freundin Ulla hatte Eni mit ihrer Feilscherei sehr imponiert. Vor nicht allzu langer Zeit traf ich sie im Selters-weg. Sie schleppte mich mit auf ihre Einkaufstour. Sie wollte mir zeigen, was sie von Eni gelernt hatte und begann zu feilschen. In allen Geschäften blitzte sie ab. Offensichtlich hatte Ulla etwas falsch verstanden. Eni machte die Ware nie schlecht, sie machte dem Kaufmann auf charmante Art klar, dass ihr der Preis einfach zu hoch sei.

Meine Arbeit als stellvertretender Schulleiter gefiel mir sehr und mehr strebte ich nicht an, zumal mein Schulleiter gerade einmal zwei Jahre älter war. Aber, Dinge lassen sich nie voraussagen. Die Gesundheit von Klaus ließ rapide und ständig nach. Wenigsten das 60. Lebensjahr wollte er schaffen. Danach ging nichts mehr. Die FFS brauchte einen neuen Schulleiter. Zwischendurch hatte ich einen Versuchsballon gestartet und mich als Schuleiter für die Willy-Brandt-Schule beworben. Als ich erfuhr, dass ein prominenter FDP-Mann zu den Bewerbern gehörte, verabschiedete ich mich ganz schnell aus der Runde. In Hessen gab es zu dieser Zeit eine CDU-FDP Regierung. Ich hatte die Situation richtig eingeschätzt. Der Kollege von der FDP wurde ausgewählt. Bei diesen Erfahrungen machte es für mich keinen Sinn, die Position des Schulleiters anzustreben.

Kerbertreff
Der Zufall wollte es. Vor dem Kaufhaus Kerber im Seltersweg kam es im Jahr 2001 zu dem berühmten „Kerbertreff“. Werner kannte ich bereits vom Studium und schätzte ihn als äußerst menschlichen Kollegen. Ich wusste, er hatte die Leitung der Hessischen Bildungsstätte in Weilburg aufgegeben und suchte ein neues Betätigungsfeld. Mit ihm als Schulleiter hätte ich gut leben können. Was dem entgegenstand, war seine GEW- und SPD-Mitgliedschaft. Der Vorteil für die Schule war, dass alles hätte schnell gehen können, es hätte nur einer Versetzung bedurft. Werner gefiel die Idee sehr gut. Er wäre damit aber nur einverstanden, wenn das Kollegium der FFS ihn auch wollte. Dieses Votum konnte ich sehr schnell organisieren und gab es auch umgehend an das Staatliche Schulamt weiter. Nur wenige Monate später hatte die FFS einen neuen Schulleiter. Mit Werner verstand ich mich blind. Wir hatten die gleichen Grundauffassungen darüber, was ein guter Lehrer und eine gute Schule sein sollten. Der Grund dafür war, wie sich später herausstellen sollte, unser gemeinsamer Lehrer Richard Tölg. Er war mein Klassen-lehrer in der Mittelschule in Wieseck und Werners in der Volksschule in Oppenrod. Richard Tölg war unser gemeinsames Vorbild.

Swoboda wird 80
Mein ehemaliger Klassenlehrer an der WO Oberstudienrat Swoboda wurde 80 Jahre alt. Das Kultusministerium verschickt zu solchen Anlässen an die Schule eine Verfügung mit einem Gratulationsschreiben des Ministers. Ein Vertreter der Schule soll das Schreiben möglichst an dem betreffenden Geburtstag persönlich überreichen. Als ehemaliger Schüler von Herrn Swoboda übernahm ich den Auftrag gern. Er war allein zu Hause. Ich stellte mich vor und sagte, dass ich mich ganz besonders freute, ihm meinem ehemaligen Klassenlehrer das Schreiben des Kultusministers überbringen zu dürfen. Seine Reaktion war die Frage „Gibt es auch Geld?“ „Nein, dann können Sie den Wisch gleich wieder mitnehmen“. Ich war leicht irritiert. „Wie heißen Sie, Balser? Welche Mädchen waren denn in ihrer Klasse?“ war der nächste Hammer. An Siglinde Albach und Gabi Muschner, an unsere einzigen Mädchen in der Klasse, konnte er sich aber auch nicht erinnern. „Was haben Sie für eine Position, Stellvertretender Schulleiter? Na ja, heute werden sie alle was.“ Als ich mich mit dem Argument verabschieden wollte, ich wolle nicht länger stören, er bekäme sicher bald Kaffee-Besuch von seiner Familie, verzog er sein Gesicht und meinte trocken, da komme keiner. Irgendwie konnte ich darüber nicht lachen. Aus meinem verehrten Swob, der bei einer fünf in der Klassenarbeit immer die Gelegenheit gab, die schlechte Note mündlich wieder auszugleichen, war ein einsamer Grantler ge-worden.

Bewerbung um die Stelle des Schulleiters an der Friedrich-Feld-Schule
Viele Jahre verbrachten wir Ostern regelmäßig bei meinem Vetter mütterlicherseits Harry in Rosas an der Costa Brava. Meine Mutter hatte von ihren Urlauben mit ihrer Schwäge-rin Hilde bei deren Sohn Harry vorgeschwärmt. Harry und seine Schweizer Lebensgefährtin Marianne betreiben in der neuen Lagunenstadt Santa Margarita das gutgehende Tiki-Lokal „Pago-Pago“ mit dem Schmankerl gegrilltes Hähnchen mit Pommes Frites im Korb. Bei einem unserer vielen Aufenthalte lernte ich einen CDU-Abgeordneten aus Wiesbaden kennen. Gabi und ich standen vor einem Stadtplan und suchten das inter-national bekannte Michelin Drei-Sterne-Lokal „El Bulli“. Er könne mir helfen, er hätte mit seiner Frau dort schon vorzüglich gespeist. Aus der Begegnung wurde eine richtige Ur-laubsbekanntschaft und es kam zu einer Einladung in ihr Haus an einem Berghang oberhalb von Rosas. Auf der Terrasse mit dem schönen Blick auf die Stadt und die gesamte Bucht wurde die eine oder andere Flasche Weißwein der Region gekippt. Als er erfuhr, dass ich stellvertretender Schulleiter war, bemerkte er voller Stolz, dass genau auf meinem Stuhl bereits meine Ministerin Karin Wolff gesessen habe. Er wunderte sich nur, dass ich es nicht zum Schulleiter gebracht hätte. So wie er mich einschätzte, wäre ich sicherlich ein guter Schulleiter geworden. Ich verkniff mir die bissige Bemerkung mit den Parteien, die die öffentliche Hand voll im Griff hätten und meinte nur, dass ich mich mit meinen fast 61 Jahren jetzt für zu alt hielt. Das sah er ganz anders und machte mir Mut. Wieder zurück in Gießen, sprach ich mit meinem Schulleiter über diese Idee. Werner war bereits 64 Jahre alt, seine Pensionierung absehbar. Er sicherte mir sofort seine Un-terstützung bei meiner Bewerbung zu. Gabi dagegen hielt mich für verrückt.

Bewerbungsverfahren
Die Bewerber einer Schulleiterstelle werden zu einem Vorstellungsgespräch ins Kultusministerium eingeladen. Als ich auftauchte, rannte der gesamte Flur zusammen, um sich den alten Knaben zu betrachten, der sich in einem Alter bewirbt, bei dem sich schon sehr viele in Pension befinden. Mein einziger Konkurrent im Verfahren war mein Abtei-lungsleiter, den ich sehr mochte und schätzte. Wir versprachen uns gegenseitig die Entscheidung aus Wiesbaden zu akzeptieren und keine Konkurrentenklage anzustreben. Die Auswahl erfolgte diesmal zu meiner großen Freude, ohne ein stressiges Verfahren. Es wurde nach Aktenlage entschieden. Als stellvertretender Schulleiter hatte ich gegenüber einem Abteilungsleiter einen Bewerbungsvorteil.


Schulleiter der Friedrich-Feld-Schule
Die Einführung zum Schulleiter übernahm meine ehemalige Mitstreiterin, die Leitende Schuldirektorin vom SSA in Gießen. Christiane war meine Nachfolgerin als Hilfsdezernen-tin in der Schulabteilung des RP gewesen. Danach war Sie stellvertretende Schulleiterin an der Aliceschule in Gießen. In ihrer Rede betonte sie unsere Duzfreundschaft und gab ihre Freude über die kluge Auswahl des Kultusministeriums zum Ausdruck. Die Zeit meiner kommissarischen Schulleitung wurde mir angerechnet und bereits nach einem halben Jahr wurde ich zum Oberstudiendirektor befördert. Nicht schon wieder eine Feier. Meinem Wunsch wurde entsprochen.

Dritte Leitungsebene: Schulformleiter
Abteilungsleiter an beruflichen Schulen sind immer für mehrere Schulformen verantwortlich. Dennoch sind sie in erster Linie Lehrer und bekommen für die umfangreiche Leitertätigkeit lediglich vier Unterrichtsstunden Entlastung. Dies wurde schon immer als ungerecht empfunden, aber nie geändert. Besonders heftig wird die Belastung beim längeren Ausfall eines Abteilungsleiters. Die verwaisten Schulformen werden auf die anderen Abteilungsleiter verteilt. Bei der Pensionierung von Günter beauftragte ich die Koordinatorin für Fachpraxis mit der kommissarischen Abteilungsleitung. Mit diesem Amt gehörte sie zwar zur Schulleitung, aber auf die Idee einer Beauftragung war noch niemand ge-kommen. Die Beauftragung wurde ein Volltreffer. Von diesem Erfolg ermutigt, ging ich einen Schritt weiter und baute in unsere Schulorganisation Schritt für Schritt die zusätzliche Leitungsebene „Schulformleiter“ ein. Die Idee stieß zunächst bei den Abteilungslei-tern auf Skepsis und beim Personalrat auf Widerstand. Am einfachsten war es für mich, die Abteilungsleiter von der neuen Idee zu überzeugen, denn gerade sie waren die Profiteure der Neuorganisation. Den Personalrat konnte ich zunächst mit dem Versprechen beruhigen, alles nur auf freiwilliger Basis durch Ausschreibung zu organisieren. 

Der Erfolg der neuen Organisation war sensationell, wie Wolle Lehman später anerkennend sagte. Mit der Beauftragung der Schulformleiter hatte ich gleichzeitig einen Pool geeigneter und bereits leitungserfahrener Kollegen gebildet und den offiziellen Wunsch des Kultusministeriums nach Personalentwicklung optimal erfüllt. Nun waren Teile des Kollegiums bei schulischen Entscheidungen unmittelbar eingebunden und mitverantwortlich. Gesamtkonferenzen organisierte ich nicht mehr als „One-Man-Show“ des Schulleiters. Ganz gezielt verteilte ich die Tagesordnungspunkte auf viele Personen. Die Kollegen konnten ihre Anliegen selbst vortragen bzw. ihre Erfolge selbst darstellen. Die Zeiten prinzipieller Opposition waren vorbei. Probleme wurden sachlich argumentiert. Die Gesamtkonfe-renzen zogen sich nicht mehr künstlich in die Länge. Abstimmungen erfolgten häufig einstimmig. Um gegenseitige Vertretungen bei den Schulformleitern auszuschließen, bin ich noch einen Schritt weiter gegangen und habe stellvertretende Schulformleiter ernannt. Meine Abteilungsleiter waren fortan im hohen Maße entlastet und bei der Neu-besetzung einer Abteilungsleiter-Stelle hatte ich es zum Erstaunen des SSA nicht mehr eilig. Ich hatte meine Schule so organisiert, dass ich auf Dienstreise gehen konnte, ohne mir Sorgen machen zu müssen. Das Beispiel FFS machte Schule. Selbst das Hessische Kultusministerium hat inzwischen meine Organisations-Idee übernommen. Das Schullei-tungsteam der FFS wurde in wenigen Jahren komplett erneuert. Schulformleiter wurden bevorzugt zu Abteilungsleitern bzw. zum Stellvertretenden Schulleiter berufen. Meine Neuorganisation hat maßgeblich dazu beigetragen, diese gewaltige Organisationsaufgabe reibungslos zu meistern.

Das Digitale Schwarze Brett und der Tritt in Berlin
Bei einer Informationsveranstaltung in Berlin-Wuhlheide – ich war bereits Schulleiter – präsentierte die Firma Stüber ihr „Digitales Schwarze Brett“. Für das Sekretariat war diese Neuerung eine große Hilfe, ersparte es doch das ständige Neuschreiben von Vertretungsplänen. Das Digitale Schwarze Brett ist ein großer, flacher Bildschirm in den Lehrerzimmern und Fluren der Schulgebäude und wird vom Computer des Stellvertreters gesteuert. Die Lust, nach Berlin zu reisen, war mir im Jahr 2008 für einige Jahre verdorben worden. Am Samstagmittag nach Schluss der Veranstaltung bei der Firma Stüber im Innovationspark Wuhlheide traf ich mich mit Gabi bei den Hackeschen Höfen. Hier hatte sich eine neue Szene gebildet und die wollten wir uns ansehen.

Im Sonntag-Morgenmagazin Mittelhessen berichtete ich wie folgt:
Berlin: Passanten schützen Gießener Schulleiter vor Gewaltattacke
Dass die Bundeshauptstadt Berlin ein recht gefährliches Pflaster ist – und zwar nicht nur an den bekannten Brennpunkten wie Kreuzberg oder Neukölln – musste ein Gießener Schulleiter (64) am Freitagnachmittag vergangener Woche nach einem Kongress für Schulsoftware am eigenen Leibe erfahren. Auf dem Weg mit seiner Gattin zur Museumsinsel nahe der S-Bahnstation am „Hackeschen Markt“ knallte eine Bierflasche direkt neben dem Gießener auf den Boden. Ein Blick entlang der Häuserfront nach oben brachte zunächst keine Klärung. Plötzlich tauchte von hinten ein großer, junger Mann brüllend auf: „Was willst Du hier? Du hast mehr Geld als ich. Verpiss Dich!“ Es war klar, dass man mit diesem Mann, der voller Hass und Aggression war, nicht vernünftig reden konnte. Er rief unentwegt „verpiss Dich“. Das Ehepaar hatte das Gefühl, es mit einem Geisteskranken zu tun zu haben, drehte sich um und wollte sich in Richtung S-Bahnstation zurückziehen.

Unmittelbar danach spürte der Gießener einen heftigen Fußtritt. Jetzt war klar, dass die Situation für den 64jährigen sehr gefährlich werden würde. In der letzten Zeit häufen sich in Deutschland die Berichte von Gewaltattacken am helllichten Tage auf offener Straße, ohne dass einer der vielen Passanten einschreitet. Im Gegenteil. Es wird die Straßenseite gewechselt und sich das Schauspiel aus sicherer Entfernung angeschaut. Diesmal war alles ganz anders. Unmittelbar nach dem Fußtritt standen drei bis vier Passanten schützend um ihn und seiner Frau herum. Einer dieser Passanten rief sofort die Polizei per Handy an. Der junge Mann ließ sich aber nicht von seinem aggressiven Verhalten abbringen. Der Gießener war gezwungen, im Kreis, um die Gruppe zu flüchten. Einer der Passanten hatte die rettende Idee und gab ihm den Rat, sich in das nächste Ladengeschäft zu flüchten. Als der Angreifer bemerkte, dass sein Opfer verschwunden war, wollte er den Ort verlassen. Dies ließen die hilfreichen Passanten jedoch nicht zu, verfolgten ihn bis zur S-Bahnstation und hielten ihn fest bis zum Eintreffen der Polizei. Das Verfahren wurde sehr bald eingestellt. Der junge Mann hatte so viele Straftaten begangen, da gegen war dieser Vorfall nur eine Lappalie.

Schulinspektion
Das neue Hessische Kultusministerium hatte die Schulinspektion eingeführt. Es war nur eine Frage der Zeit, wann auch die FFS an die Reihe käme. Auf eine Schulinspektion war die FFS allerdings nicht vorbereitet. Worauf eine Inspektion Wert legte, war kein Geheimnis. Man konnte es nachlesen. Mir war schon klar, wenn die Inspektoren kommen, wird mein Schulleiter schon weg sein und es wird mich treffen. Noch als Stellvertreter begann ich mit den Vorbereitungen. Zunächst erstellte ich anhand des vorgegebenen Schemas eine eigene Übersicht unserer Stärken und auch Schwächen. Ein Schulpro-gramm musste in Windeseile erarbeitet werden. Die Mitteilung, dass die FFS Anfang Januar 2008 inspiziert würde und die Inspektoren unangekündigte Unterrichtsbesuche durchführen würden, verbreitete im Kollegium großes Unbehagen. Lehrer prüfen und beurteilen Schüler ständig, reagieren aber sehr empfindlich, wenn es sie selbst einmal trifft. Die Klarstellung, dass sich die Inspektoren nicht für den einzelnen Kollegen interes-sierten, sondern nur für die Unterrichtskultur der Schule insgesamt, half nur bedingt. Der Vorsitzende der Inspektion war ein noch recht junger, pfiffiger Mann, mit dem ich mich glänzend verstand. Ich selbst empfand die Inspektion eher als Hilfe. Unter dem Strich fiel das Ergebnis recht gut aus. Besonders gewürdigt wurde die hervorragende Schulorganisation. Der Vorsitzende meinte mit der Note zwischen 2 und 3 lägen wir im oberen Bereich.

Verlängerung der Dienstzeit
Ich war so begeistert von meiner neuen Tätigkeit, dass ich ein Jahr vor meiner Pensionierung nach Wiesbaden ins Kultusministerium fuhr, um eine Verlängerung Der stellvertretende Abteilungsleiter im Kultusministerium schaute zunächst kritisch. Der Zeitpunkt war jedoch gut gewählt, da die Diskussion Rente mit 67 voll im Gange war. Im Laufe des Gesprächs schwanden seine Bedenken und er stimmte zu. „Sie wissen, dass ich nun der erste Schulleiter in Hessen bin, dem eine Verlängerung seiner Dienstzeit über das Regelalter von 65 Jahren hinaus genehmigt wird“, fragte ich ihn leicht überrascht. „Ja und wenn ich Sie mir so betrachte, könnten Sie auch bis 67 arbeiten“. Das war mir dann doch etwas zu voreilig und ich bat, mich im Bedarfsfalle auf sein Angebot berufen zu dürfen. Wenige Tage später erhielt ich meine Verfügung. Auch meinem zweiten Antrag auf Verlängerung der Dienstzeit auf 67 Jahre wurde umgehend entsprochen. Böse Zungen behaupteten, ich hätte einen Antrag auf Verlängerung nur wegen der zu erwartenden höheren Pension gestellt. Dies war Unsinn, denn einen Anspruch auf die Pension der Höhergruppierung erwirbt man in Hessen bereits nach zwei Jahren Dienstzeit und bei mir waren es bis zur Erreichung der Altersgrenze schon drei Jahre. Die insgesamt fünf Jahre als Schulleiter habe ich nie bereut. Im Gegenteil, ich habe sie regelrecht genossen.

Assistenzberufe
Meine Sorge galt der Schulform Zweijährige Höhere Berufsfachschule mit den drei Assistenzberufen Fremdsprachensekretariat, Informationsverarbeitung und Bürowirtschaft. Diese Schulform war in Zeiten knapper Ausbildungsstellen entstanden. Ein Ende dieser Situation war bereits absehbar. Durch den demographischen Wandel würde es zukünftig genügend Ausbildungsplätze geben. Eine rein staatliche Berufsausbildung würde nicht mehr nötig sein. Ich hatte die Idee, die Schulform durch das Angebot einer Doppelqualifikation, Berufsausbildung und allgemeine Fachhochschulreife, attraktiv zu halten. Für die EDVler sollte der Zusatzunterricht zur Erlangung der Fachhochschulreife verbindlich, für die Bürowirtschaftler optional sein und für die Fremdsprachensekretärinnen nur bei genügender Nachfrage eingeführt werden. Die Idee kam gut an. Das eigentliche Ziel der Berufsausbildung trat bei den Schülern mit der Zeit sogar in den Hintergrund. Interes-sierte erkundigten sich vor allem über die Möglichkeit der Fachhochschulreife. Die Zwei-jährige Höhere Berufsfachschule hat sich inzwischen zur Hauptsäule der FFS entwickelt.

Berufliches Gymnasium
In Gießen gibt es drei berufliche Gymnasien: die FFS mit dem Schwerpunkt Wirtschaft, die Theodor-Litt-Schule mit den Schwerpunkten Datenverarbeitungstechnik und Mechatronik und die Aliceschule mit den Schwerpunkten Ernährung, Biologietechnik, Gesundheit und Pädagogik. Die Gießener beruflichen Gymnasien haben es bis heute nicht geschafft, ihr Fachabitur-Image abzulegen und eine echte Alternative zu den Traditionsgymnasien zu werden. Die Vorteile der Schwerpunktsetzung von beruflichen Gymnasien sind weitestgehend unbekannt. Diese Wissenslücke darf man aber nicht der Öffentlichkeit vorwerfen, sondern ist vor allem ein Versäumnis der beruflichen Schulen selbst. Die Schülerzahlen der dreien Gießener beruflichen Gymnasien sinken kontinuierlich und bedrohen bereits deren Existenz. Allein eine Kooperation, wie sie zurzeit zwischen Aliceschule und Theodor-Litt-Schule besteht, löst das Problem nicht. Mein Vorschlag, die Kräfte zu bündeln und geschlossen als ein „Gießener berufliches Gymnasium“ aufzutreten, ging leider ins Leere.

Selbständige Schule
Schon immer forderten die beruflichen Schulen größere Selbständigkeit, mehr Flexibilität und größere Handlungsspielräume, um auf eigene Bedürfnisse besser reagieren zu können. Was fehle und was man benötige, wüssten die Betroffenen am besten, war das einleuchtende Argument. Das Hessische Kultusministerium hatte ein Einsehen und schaffte den rechtlichen Rahmen für eine selbständige Schule. Keine Schule wurde zur Selbständigkeit gezwungen, interessierte Schulen konnten sich für das Projekt anmelden. Elementarer Bestandteil der Konzeption ist die Bewirtschaftung eines eigenen Budgets für eine individuelle Profilbildung. Schulleiter erhalten erweiterte Entscheidungsbefugnisse bei der Personalgewinnung sowie Personalentwicklung und können über freie Personalmittel eigenverantwortlich verfügen. Eine über die Grundunterrichtsversorgung hinausgehende Stellenzu-weisung solle die Entwicklung schulspezifischer Fachcurricula, Schulcurricula und den Auf- und Ausbau eines Feedback-Systems ermöglichen. Ich war von den neuen Möglichkeiten begeistert und warb in Gesamtkonferenzen mit viel Herzblut für diese Idee. Leider konnte ich weder das Kollegium noch mein Schulleitungsteam überzeugen. Man hatte das Konzept der selbständigen Schule als reine Sparmaßnahme der Landesregierung in Verdacht und außerdem fürchtete man sich vor dem zukünftig höheren Verwaltungsaufwand für die Schulleitung und für das Kollegium, vor allem vor dem notwendigen, aber fehlendem kaufmännischen Denken und Handeln. Die Stimmung im Kollegium war so eindeutig gegen die selbständige Schule, dass ich auf die erforderliche Abstimmung in der Gesamtkonferenz verzichtete. Lediglich die Einführung des kleinen Budgets mit der gegenseitigen Verrechnung und Übertragbarkeit von Lernmittel konnte ich erreichen.

Ich fand die Einstellung der Kollegen für eine Wirtschaftsschule äußerst beschämend. Verantwortlich für die schwache Position eines Schulleiters ist das geltende Schulgesetz. Für einen Amtsleiter kaum zu verstehen, der Schulleiter ist lediglich das ausführende Organ der Gesamtkonferenz. Konkret heißt dies, dass er ohne eine Mehrheit im Kollegium Änderungen im Schulbetrieb nicht durchsetzen kann. Er ist noch nicht einmal Hausherr seiner Schule, denn Eigentümer des Schulgebäudes ist die Kommune und deren Vertreter ist der Hausmeister. Disziplinarvorgesetzter seiner Kollegen ist er auch nicht. Diese Aufgabe und die Einstellung neuer Kollegen obliegen wiederum dem Staatlichen Schulamt. Da bleibt nicht mehr viel übrig. Den notwendigen Spielraum zur Weiterentwicklung meiner Schule musste ich mir selbst erarbeiten.

Leitsätze
Zwei Leitsätze unseres Schulprogramms habe ich als Schulleiter in den Mittelpunkt meiner Tätigkeit gestellt: gegenseitige Achtung und Wertschätzung, Kooperation und Transparenz. Die Beachtung dieser Leitsätze hatte an der FFS ein Klima hoher Zufriedenheit erzeugt, sowohl im Kollegium als auch in der Schülerschaft. Bei meiner Abschiedsrede in der Gesamtkonferenz habe ich alle ausdrücklich und eindringlich beschworen, sich dieses hohe Gut zu bewahren. Exemplarisch nur zwei Beispiele: In der Presse fällt auf, dass vor allem die Schulleiter genannt und gezeigt werden. Die eigentliche Arbeit machen al-lerdings andere und selbst die Initiativen gehen häufig nicht vom Schulleiter aus. Für die fleißigen Kollegen ist dies enttäuschend und demotivierend. Auch ich selbst hatte diese schmerzvolle Erfahrung bei der Verabschiedung meines Schulleiters machen müssen, der als Vater des Lernbüros hoch gelobt wurde. Mein Schulleiter hatte mit dem Aufbau des Lernbüros absolut nichts zu tun. Wegen dieser Erfahrung machte ich mir zum Prinzip, beim Herausstellen von Erfolgen vor allem die in den Mittelpunkt zu stellen, die auch die eigentliche Arbeit geleistet hatten. Unserer Gesundheitsgruppe wurde vom SSA die Zerti-fizierung „Gesunde Schule“ zugesprochen. Der Vertreter des SSA hatte sich zur Überrei-chung der Urkunde im Rahmen einer Gesamtkonferenz angekündigt. „Herr Balser, kommen Sie bitte“, forderte er mich zur Entgegenahme auf. „Nein, nein, ich habe damit keine Arbeit gehabt“, entgegnete ich abwehrend. „Sie sind der Schulleiter“. Sein Ton war schon nicht mehr so freundlich. Ich winkte die Kollegen trotzdem zu mir. Nun musste der Herr vom SSA viele Hände schütteln. Vor allem habe ich darauf geachtet, dass die Schulformleiter nicht zu kurz kamen, und war bei den Fotos der Abschlussveranstaltungen für die Presse zumeist nicht auffindbar. Diese Zurückhaltung hat den Nachteil, dass man als Schulleiter in der Öffentlichkeit nicht so stark wahrgenommen wird. Aber damit konnte ich leben.

Einsame Entscheidungen sind die schlimmsten Fehler bei der Leitung einer Schule. Probleme sollten immer im Team gelöst werden. Ich hatte meinen Personalrat grundsätzlich in alle wichtigen Entscheidungen eingebunden, auch wenn formalrechtlich keine Notwendigkeit bestand. Diskutiert wurde immer ergebnisoffen, der hohe Sachverstand meiner Mitarbeiter war für mich immer wertvoll. Gleichzeitig sorgte diese Vorgehensweise für ein Höchstmaß an Transparenz und verhinderte Verdächtigungen und Misstrauen. Probleme waren bereits gelöst, bevor sie in die Gesamtkonferenz getragen wurden. Nur in seltenen Fällen musste ich in Besprechungen darauf hinweisen, dass das Schulgesetz eine Überstimmung des Schulleiters nicht vorsieht, da er allein die Verantwortung trägt.

Ein ehemaliger Schüler und treuer Freund
Mein guter, treuer Freund Michael ist ehemaliger Schüler der Zweijährigen Höheren Be-rufsfachschule für Informationsverarbeitung und hat die nicht ganz einfache zweijährige schulische Ausbildung zum Assistenten für Informationsverarbeitung sehr erfolgreich absolviert. Michael war ein ehrgeiziger Schüler und nahm freiwillig am Zusatzunterricht zur Erlangung des schulischen Teils der allgemeinen Fachhochschulreife teil. Am Ende seiner Ausbildung besaß er eine Doppelqualifikation. Es fehlte nur noch der praktische Teil, ein einjähriges Berufspraktikum. Michael ist mitverantwortlich für meine exzellente EDV-Ausstattung. Ich wollte seine Unterstützung nicht verlieren und bot ihm im Anschluss an seine schulische Ausbildung die Absolvierung des notwendigen einjährigen Praktikums an der FFS an. Nun hatte ich einen Assistenten und sogar einen qualifizierten EDV-Spezialisten. 

Mit Michael begann mein persönliches Update. Ich war ab sofort immer auf dem neuesten Stand und die Technik in meinem Geschäftszimmer funktionierte ein-wandfrei. Leider ging das Jahr zu schnell um. Seinen Zivildienst konnte er leider nicht an der FFS absolvieren, den machte er im Gießener Universitätsklinikum. Hier erlebte er eine Überraschung. Anstatt, wie von der FFS gewohnt, die Kenntnisse und Fertigkeiten des jungen EDV-Mannes in der EDV-Abteilung zu nutzen, steckte die Klinik ihn in die Allgemeine Verwaltung und ließ ihn zunächst einmal Rechnungen sortieren. Er hatte den Verdacht, dass man ihm vor allem die bei den Angestellten unbeliebten Tätigkeiten überließ. Seine erste Stelle bekam Michael bei der Baufirma Züblin in Frankfurt. Den Kontakt zu seiner alten Schule, an der er sich sehr wohl fühlte, wollte er aber nicht verlieren. Neben seiner anspruchsvollen Tätigkeit in Frankfurt installierte und pflegte Michael in seiner Freizeit, auch in seinem Urlaub, für die FFS ein Verwaltungsnetz. Beim Hausmeister erntete er für sein außergewöhnliches Engagement nur ein ungläubiges Kopfschütteln. Seine speziellen Kenntnisse als „Netzwerker“ konnte ich für seine ehemalige Schulform, die HBFS, sehr gut gebrauchen. Daher war ich froh, dass er einem Einsatz in der HBFS als Lehrer auf Basis BAT-Vertrag zustimmte. In Frankfurt hat sich Michael sehr wohl gefühlt, hat aber schnell feststellen müssen, dass seine beruflichen Perspektiven dort sehr beschränkt waren. Er wechselte in die Zentrale nach Stuttgart. Michael hat den Anspruch auf eine leitende Position. Die konnte ihm Züblin auch in Stuttgart so schnell nicht anbieten. Er wurde Abteilungsleiter für den IT-Bereich bei einer Stuttgarter Firma. Zurzeit arbeitet Michael bei Arvato in Gütersloh, eine Firma des Bertelsmann-Konzerns.

Immer, wenn Michael bei seinen Eltern in Rodheim zu Besuch ist, treffen wir uns zu einem Kaffee. Michael ist immer hilfsbereit und löst wie in alten Zeiten an der FFS alle meine EDV-Probleme. Ich wiederum stehe ihm als Berater in beruflichen Fragen immer gerne zur Verfügung, auch am Telefon. Wir haben zueinander ein absolutes Vertrauensverhältnis.

Abschied und Nachfolge
Jörg nahm für die FFS viel auf sich. Seine tägliche Fahrt am frühen Morgen nach Gießen war eine kleine „Weltreise“. Er wohnt mit seiner Familie im Dreiländereck im tiefen Westerwald bei Burbach. Dennoch war er morgens der Erste in der Schule. Als bekennender Langschläfer erschien ich nicht vor 9 Uhr. Die Kollegen waren mir deshalb nicht böse und Jörg hatte alles im Griff. Er wusste, wie man mit den Kollegen umging. Zum Ende des Schuljahres verteilte er in seinem eigenen trockenen Humor kleine Geschenke an Jedermann. Im sensiblen Umgang mit Kollegen konnte ich von ihm lernen. Noch als Stellvertreter und Verantwortlicher für die Stundenpläne hatte ich ihm, der jeden Morgen von weit her anreisen musste, ausnahmsweise eine Viertagewoche beschert. Daran muss er sich sehr gern erinnert haben und führte an der FFS die Viertagewoche allgemein ein. Das bekam ich erst mit, als Kollegen ihm auf einer Gesamtkonferenz für die hervorragenden Stundenpläne dankten. Der Applaus machte mich stutzig, den hatte ich für meine Stundenpläne nie bekommen. Sein hohes Ansehen im Kollegium begründete sich aber nicht allein auf seine großzügige Stundenplangestaltung.

Bald galt es, meine Nachfolge zu regeln. Jörg hatte großes Interesse, mich erneut zu beerben. Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass es sehr hilfreich ist, in der Schulaufsicht gearbeitet zu haben. Keiner kauft gerne die Katze im Sack. Wenn man sich als Hilfsdezernent bewährt hatte, standen die Karriere-Türen offen. Das Staatliche Schulamt Gießen hatte Interesse an seiner Mitarbeit. Jörg ist aber kein Kaufmann, sondern Philologe mit den Fächern Evangelische Religion, Geschichte und Politik. Von einem Gespräch mit meinem Abteilungsleiter Wolle Lehmann und dem stellvertretenden Abteilungsleiter vom Kultusministerium wusste ich, dass die Chancen für Nichtkaufleute, im beruflichen Bereich Schulleiter zu werden, nahezu null waren. Auch Wolle hatte Interesse an meiner Nachfolge und war von dem Ergebnis des Gespräches tief enttäuscht. Diese Information schreckte Jörg aber nicht ab und er mobilisierte zu seiner Unterstützung das Kollegium. Die Entwicklung war jedoch für ihn nicht günstig. Inzwischen hatte sich die stellvertretende Schulleiterin der Max-Weber-Schule, Annette Greilich, beworben. Sie war Berufsschullehrerin, eine Frau und FDP-Mitglied. Unter diesen Umständen sah ich für Jörg keine Chancen und riet ihm, sich lieber Unterstützung für eine Bewerbung an einer anderen Schule zu holen. Jörg trat tatsächlich vom Verfahren zurück und fand wie erwartet beim SSA in Gießen die notwendige Unterstützung. Inzwischen ist er Schulleiter der Teo-Koch-Schule in Grünberg, der größten Gesamtschule Hessens.

Ich wollte bewusst keine der sonst üblichen großen Abschiedsfeiern. Nicht der Vertreter des SSA in Gießen oder gar des Ministeriums in Wiesbaden, sondern mein Stellvertreter Jörg hielt die Abschiedsrede im Rahmen der letzten Gesamtkonferenz des Schuljahres. Da er zu dieser Zeit immer noch mit halber Stelle im SSA tätig war, hatte er Zugriff auf meine Personalakte und konnte dem Kollegium so manche Anekdote zum Besten geben. Eine bessere Laudatio hätte ich mir nicht vorstellen können. Anschließend lud ich das gesamte Kollegium zum Abendessen beim Griechen ein. Bereits Wochen vorher hatte ich mich im kleinen Kreis, nach Gruppen jeweils getrennt, persönlich bei meinem Schulleitungsteam, meinem Personalrat und schließlich den Schulleitern sowie deren Stellvertreter aller beruflichen Schulen in Gießen verabschiedet. Es war Sommer und wir hatten dreimal schönes Wetter. Der kleine Platz vor meinem Lieblingsrestaurant „Adria“ in Wetzlar war dafür der ideale Ort. Für mich unvergesslich werden die humorvollen Abschiedsworte vom Sprecher der Chemiker sein. Er hatte eine Vision. Die alte Turnhalle der FFS hätte man endlich abgerissen und eine große, moderne mit einem Penthaus gebaut. In dem Penthaus wohne Gerald Balser, inzwischen zum Schulleiter auf Lebenszeit ernannt. Das war eine amüsante Anspielung auf meine Dienstzeit-verlängerung.

 

IAA Frankfurt am Main
Mein Freund Dr. Rüdiger Maskus, Chefradakteur des Sonntag-Morgenmagazins, fragte mich, ob ich Lust hätte, im Bereich Auto für seine Zeitung zu schreiben. Bezahlen könne er mich nicht, aber er würde für mich eine Akkreditierung für die Internationale Automobilausstellung (IAA) in Frankfurt und für das Grand Prix-Rennen der Formel 1 in Hockenheim organisieren. So eine Akkreditierung ist sehr viel mehr als nur eine Eintrittskarte. Seit 1999 schrieb ich bis zum Ende der IAA in Frankfurt im Sonntag-Morgenmagazin alle zwei Jahre einen umfangreichen Bericht. Als Insider gebe ich in meinen Zeitungsberichten dem an Autos interessierten Leser Informationen, die über den Standard hin-ausgehen. Die ersten zwei Tage der IAA sind reine Pressetage mit freiem Eintritt, reser-viertem Parkplatz und freier Verpflegung bei den Ständen der Hersteller. Die Marken buhlen um die Gunst der Pressevertreter aus aller Welt und bekanntlich geht die Liebe durch den Magen. Auf der IAA 2013 war ich zum Frühstück bei Skoda und habe mich von Maggies Tochter Verena bedienen lassen.

Wenn auf der IAA die Tore für jedermann geöffnet werden, ist das Messegelände brechend voll. Das Publikum, fast ausschließlich Männer, wälzt sich durch die Hallen. An die ausgestellten Fahrzeuge kommt man kaum heran. Ganz anders ist dies an den Pressetagen. Die große Zahl der Pressevertreter verteilt sich auf dem Gelände. Für die Überwindung der großen Entfernungen zwischen den Hallen stehen den Journalisten chauffierte Fahrzeuge zur Verfügung, die man per Handzeichen stoppen kann.

Frauen findet man auf der IAA vor allem als Blickfang für die ausgestellten Autos. Die Aufmachung der jungen Damen ist dem Stil der Fahrzeuge und der Marke angepasst. Die Spanne reicht von supersexy bei Sportwagen bis bieder brav bei den chinesischen Herstellern. Bereitwillig posieren die Schönen in die Objektive der Fotoapparate und Filmkameras. Hier knippst niemand nur für sein Privatalbum. Die schönen Mädels der IAA sind inzwischen eine eigene Sparte im Internet und ihre Bilder füllen die Zeitschriften der Boulevardpresse. Ein Markenzeichen der IAA in Frankfurt sind die aufwendigen Mes-sestände und die professionellen Shows der Hersteller. Die besten Shows werden von den Sendern aufgenommen und zur Auflockerung des Themas in den weltweiten Fern-sehberichten über die IAA gerne gezeigt. Natürlich bin ich besonders gerne beim VW-Stand und unterhalte mich mit dem VW-Standpersonal. Schließlich gehörte ich auf der IAA 1973 auch dazu. Im Jahr 1999 habe ich meinen ehemaligen Volontärkollegen Peter Giffhorn besucht. Der war inzwischen als Vertriebsleiter der Marke VW tätig und für die deutsche Händlerorganisation zuständig. Es hat uns beiden sehr viel Spaß bereitet, sich an die alten unbeschwerten Zeiten unseres Volontariats zu erinnern. Während der Pressetage ist auf der IAA viel Prominenz aus Kultur und Wirtschaft und somit sind auch viele Klatschreporter unterwegs.

Nach fast 45 Jahren bei meinem Besuch von Audi auf der IAA 2015 in Frankfurt stand mein ehemaliger oberste Chef und Leiter des Vertriebs von VW Prof. Dr. Carl Horst Hahn (später Vorstandsvorsitzender und Vorgänger von Dr. Ferdinand Piëch) mit drei Herren von Audi im Gespräch neben der neuen Langversion des Audi A8. Prof. Hahn war inzwischen 89 Jahre alt und wirkte in seinem mittelgrauen Slim-Anzug mit sportlich kleinkariertem Hemd ohne Krawatte fast jugendlich. Ich habe ihn sofort erkannt. Er hatte sich nicht wesentlich verändert. Ich fragte Herrn Dr. Hahn, ob ich ein Foto von ihm machen dürfte. Gut gelaunt stimmte er zu und meinte scherzhaft, ausnahmsweise diesmal kostenlos. Ich bedankte mich und versicherte ihm, dass ich mich besonders darüber freute, da ich ehemaliger VW-Werksangehöriger wäre und er in den frühen 70ern als Leiter des Vertriebes mein oberster Chef gewesen sei. Das fand Herr Hahn interessant, könne sich aber auf Anhieb nicht an mich erinnern. Da ich seine Unterredung nicht länger stören wollte, machte ich schnell mein Foto und bedankte mich für das Ge-spräch. Herr Dr. Hahn versicherte mir, er habe sich darüber gefreut, ihn angesprochen zu haben und wünschte mir noch einen schönen Tag auf der IAA.

Ich hatte zunächst gezögert, Herrn Prof. Hahn eine Rückmeldung zu geben, da ich mir eigentlich nicht so richtig vorstellen konnte, dass er sich dadurch nicht eher erneut be-lästigt fühlen würde. Dann gab ich mir einen Ruck und habe ihn über seine „Carl und Marisa Hahn-Stiftung“ in Wolfsburg – seine Privatadresse war mir nicht bekannt – eine E-Mail gesendet. Als Anlage fügte ich meine Erinnerungen an Wolfsburg und VW bei. Für mich völlig überraschend erhielt ich bereits nach zwei Tagen von Prof. Hahn eine wun-derbare E-Mail. Er schrieb von einer schönen Begegnung auf der IAA. Er hätte es sich nie träumen lassen, eine so vielschichtige, interessante Antwort zu erhalten. Rüdiger hat die Schwierigkeit, in seiner „Klatschecke“ wöchentlich interessante, die Region betreffende Geschichten zu finden. Im Laufe der Jahre hat er mich dort schon des Öfteren unterge-bracht. Also schickte ich ihm das Bild von Herrn Prof. Hahn und die Geschichte der Be-gegnung zusammen mit meinem Bericht zur IAA in Frankfurt. Vielleicht könne er aus der Begegnung etwas machen.

Wenige Tage nach Beginn der IAA platzte die Bombe. VW gestand, in den USA den viel-gerühmten TDI-Dieselmotor manipuliert zu haben, um die – von Kalifornien ausgehend – sehr strengen Abgasnormen zu erfüllen. Der Messestand von VW wurde zum Mittelpunkt der IAA, aber leider nur im negativen Sinne. Die Presse, vor allem die deutsche, stürzte sich wie ein Rudel Löwen auf das weidgeschlagene Unternehmen. Der Vorstandsvorsitzende Prof. Winterkorn übernahm die Verantwortung und trat als einziger freiwillig zurück. VW bietet nun all seinen Kunden mit Hilfe einer Rückrufaktion eine Löschung der Mogel-Software an. Mir stellt sich allerdings die Frage: Ist der Betrug von VW wirklich so ein Riesenskandal, der Milliardenstrafen und Milliardenentschädigungen rechtfertigt und den Konzern in den Abgrund schauen lässt? Welcher große Schaden ist dem Kunden durch VW eigentlich entstanden? Der VW-Kunde befand sich niemals in Gefahr. Anders z. B. bei Toyota, wo sich 2010 der Konzernchef Akio Toyoda vor dem US-Kongress in Washington einem Kreuzverhör unterziehen musste. Im Vorjahr war ausgerechnet der US-Konzern GM mit Abstand der Spitzenreiter bei Rückrufen und musste sich sogar für 19 Todesfälle wegen fehlerhafter Zündschlösser verantworten. Der Defekt war GM seit Jahren bekannt. Und nun soll VW der Schlimmste gewesen sein. Mit dem Löschen der Mogel-Software und dem Update zeigt die Anzeige die Abgaswerte zwar wieder korrekt, auch wird die Umwelt leicht geschont, aber der Fahrer erfährt eine Verschlechterung hinsichtlich Leistung und Verbrauch. Die Frage ist, hätte der Kunde das Fahrzeug auch dann gekauft, wenn es eine Zulassung ohne Manipulation gegeben hätte? Mit meinem Kommentar in dem SM wollte ich der doch sehr einseitigen Berichterstattung und der deutschen Lust an der Selbstzerfleischung entgegentreten, die Relationen wieder zurechtrücken und auf die Gefahren einer möglichen Verteufelung des traditionellen Motors hinweisen.

Formel 1 Grand Prix in Hockenheim 2001
Was die Klatschreportage anbetrifft sind die drei Tage des großen Preises von Deutsch-land am Hockenheimring nicht zu toppen. Die zahlreichen Stars und Sternchen benut-zen das Fahrerlager der Formel 1 als Laufsteg. Beim hoch und runter Schlendern im Hochsommer 2001, vorbei an den großen Lkws der Rennställe, begegnete ich Willi Weber, dem Manager der Schuhmacher-Brüder, im Gespräch mit dem ehemaligen Body-builder und Hollywood-Schauspieler Ralf Möller. Den „Gladiator“ traf ich später nach dem Mittagessen in der Box von Mercedes – wir schauten uns auf einem Monitor den Rennverlauf an – zusammen mit Schauspielerin Veronika Ferres und ihrem damaliger Ehemann Martin Krug. Links hinten in der Ecke des kleinen Raumes brutzelte in zwei großen Pfannen die Paella vom Mittagessen noch still vor sich hin. Ich saß mit zwei Klatschreportern am Nachbartisch und konnte ungewollt die Gespräche der drei mithören. Sie unterhielten sich angeregt über alte Zeiten und über Ralf Möllers neue Filmpläne in Hollywood.

Wo richtig was los ist, darf der ewig gut gelaunte Schlagersänger Roberto Blanco nicht fehlen. „Roberto, nur ein Foto“, rief ich ihm zu. Dazu lässt er sich nicht zweimal bitten, vor allem dann, wenn ihm für das Foto ein hübsches blondes Mädel zur Seite gestellt wird. Die junge Frau hatte mir vorher ihren Fotoapparat gegeben und mich gebeten, von ihr zusammen mit Roberto Blanco ein Foto zu schießen. Auf dem Hockenheimring gibt sich die Prominenz und diejenigen, die sich gerne dazu zählen, ein Stelldichein:  Schauspieler Herbert Knaup, Opernsänger Rene Kollo mit Söhnchen und Schlagersänger Roland Kaiser, Renault-Teamchef Flavio Briatore, BMW-Sportdirektor Dr. Mario Theissen, Rennsportlegende Nikki Lauda. Bei Ferrari unterhielt sich der früh ausgeschie-dene Michael Schuhmacher mit seinem Teamchef Jean Todt. Bei so viel Prominenz treten die berühmten F1-Piloten schon einmal in den Hintergrund.

Nach dem Rennen wird die Boxengasse für die Presse frei gegeben. Hier sind die Boliden der drei Sieger abgestellt und können fotografiert werden. Von dort ging es im Laufschritt unter die Empore der Siegerehrung und zur Champagnerdusche. Den großen Preis von Deutschland 2001 gewonnen hatte wieder ein Schuhmacher, diesmal Ralf Schuhmacher von Williams-BMW. Zweiter wurde Rubens Barrichello von Ferrari und Dritter Jacques Villeneuve von BAR-Honda. Die Begeisterung war ansteckend und ich ju-belte tüchtig mit. Anschließend eilte ich schnell zum Interview der drei Sieger. Die Akkreditierung beim Hockenheimring wurde wenige Jahre später leider stark eingeschränkt. Meine Urlaubsplanungen für den Sommer dagegen waren wieder uneingeschränkt.

Das persönliche Hobby meines Freundes, des Chefredakteurs des Sonntag-Morgenmagazins Mittelhessen, Dr. Rüdiger Maskus, ist seine allwöchentliche Klatschecke. Es ist gar nicht so einfach, Woche für Woche speziell für die Leser der Region interessante Beiträge zu finden. Rüdiger war ein dankbarer Abnehmer meiner Berichte. Durch die Klatschecke haben viele in der Region erfahren, dass ich bei VW verantwortlich war für die Erarbeitung von Namensvorschlägen der Erfolgsprodukte Golf, Polo und Scirocco. Obwohl ich bereits vor so vielen Jahren von VW ausgeschieden bin, interessiere ich mich noch immer für den Automobilmarkt und insbesondere die Marke VW. Über Neuigkeiten von VW in der Welt berichte ich im Sonntag-Morgenmagazin besonders gerne. Aber auch interessante Beiträge von meinen Reisen, insbesondere nach Florida werden gerne gelesen.

Leider ist inzwischen mein guter Draht zum Sonntagmorgen-Magazin durch die Verrentung des Chefredakteurs abgerissen. Der von mir traditionell verfasste große Bericht über die IAA Frankfurt und der freie Eintritt an den Pressetagen verschwanden in die Versenkung. In meiner Not besann ich mich auf mein Hobby die Website „automobil-marktdeutschland.de“. Die bekam neben der vielen Arbeit plötzlich einen erfreulichen Aspekt. Da man das Betreiben einer solchen Website als journalistische Tätigkeit ansehen kann, habe ich 2017 beim Deutschen Journalistenverband eine Mitgliedschaft samt Presseausweis beantragt und anstandslos bekommen. Nun bin ich mein eigener Herr und auf andere nicht mehr angewiesen.

 



Veronika Ferres mit Ex-Ehemann


 

 

SAUNAGRUPPE

Silvester 1981
Eine gemeinsame Leidenschaft von Gabi und mir war das Saunieren. Seit Herbst 1980 gingen wir jeden Freitagabend ins Kurbad Weiß und Jahre später nach der Schließung ins Kurbad Gröschel. Wir wurden mit den Stammgästen schnell bekannt und verabredeten uns nach der Sauna zum Abendessen beim Italiener. Es waren „Siggi“ Siegfried und Christa, die den ersten Schritt taten und uns zu Silvester 1981 zum Elchessen in ihr neues Haus in Wißmar einluden. Anwesend waren noch Eddi mit Lilian und Kai mit Prisca, die ich bereits aus Kindertagen kannte.

Über die Jahre veränderte sich die Zusammensetzung der Sauna-Gruppe. Horst und Elke kamen hinzu. Nun war ich nicht mehr der Älteste. Kais Schwimmfreund Gerd mit Freundin Heike und Gerds Lehrer-Kollege Gerhard mit Ehefrau Ursula schlossen sich uns ebenfalls an. Seit dem Elchessen 1981 bei Siggi und Christa in Wißmar feierten wir bis zu meiner OP und Corona in der Saunagruppe jährlich reihum gemeinsam Silvester. Tradition hat das Fleischfondue mit den leckeren Saucen. Eddi und Gerhard sind begeisterte Feuerwerker. In jedem Jahr fand eine Steigerung statt. Einfache Kracher und Raketen sind out. Beliebt sind große Kartuschen Made in China, die im Sekundentakt Salven in die Luft schießen. Nur wenige Male haben wir Silvester außerhalb unserer Wohnungen gefeiert. Leider besteht die Gruppe heute so nicht mehr.

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die Feier 1998 im Hotel und Restaurant Alte Mühle in Kobern-Gondorf an der Mosel bei Koblenz. Kai und Prisca hatten die bezaubernde, wunderbar restaurierte Mühle, ein kleines Ensemble in einem Seitental der Mosel entdeckt und dort zur Probe übernachtet und gegessen. Begeistert haben sie uns darüber berichtet und wir waren alle damit einverstanden, ausnahmsweise auswärts Silvester zu feiern. Die Übernachtung und das Silvesteressen waren für mich als sparsamer Ökonom nicht gerade billig, aber es sollte ja auch etwas Besonderes sein. Dem Ort und Anlass entsprechend fein angezogen, waren wir gespannt, was uns in dem kellerartigen Restaurantgewölbe erwartete. Der Ober servierte uns in weißen Handschuhen eine dicke Suppe. Danach gab es Fleisch, eingehüllt in einem kräftigen Brotmantel. Ich stutzte und überlegte, ob dies bereits der Hauptgang war. Als der schließlich kam, waren wir alle bereits gesättigt.

Aus Frankreich waren wir andere Menus gewohnt. Eine weitere Enttäuschung hatten wir um 24:00 Uhr. Wären unsere Feuerwerker Eddi und Gerhard nicht dabei gewesen, hätte wir gar nicht gewusst, dass Silvester war. Das Restaurant hatte jedenfalls dafür nichts vorbereitet. Draußen war es bitterkalt und rasch verschwanden wir wieder im Gastraum.

Wanderungen
Wir nannten uns zwar Sauna-Gruppe, unsere Aktivitäten waren aber vielfältig. Es begann mit mehrtägigen Wanderungen im heimischen Raum, die reihum organisiert wurden. Die erste Wanderung hatte Prisca ausgearbeitet mit zwei Übernachtungen in Bottenhorn und Bicken-Mittenaar. Nach ca. 25 km kurz vor Bottenhorn machte ich schlapp. Meine Füße waren durchgelaufen. Mit den leichten Halbschuhen hatte ich das falsche Schuhwerk. Ich konnte mich gerade so in unsere Unterkunft schleppen. Für mich war die Wanderung zu Ende. Erst zum Abendessen und der Übernachtung in Bicken-Mittenaar tauchte ich wieder auf. Unsere Wirtin überraschte uns mit leckeren Schnitzeln und Salat satt. Wir waren noch jung und hatten viel Kraft für große, schwere Rücksäcke. Alles war am Mann auch Gerätschaft für die Vesper unterwegs. Legendär sind die Eierpfannenkuchen à la Eddi.

Von den vielen Wanderungen besonders gut in Erinnerung geblieben sind mir die Li-meswanderung mit Übernachtung in der Maybacher Schweiz, die Wanderung zur „Tante Lina“ nach Dannenrod und ihre unvergesslichen Schnitzel und die Wanderung mit Übernachtung in Cleeberg und in Braunfels. Der Solmser Hof unterhalb des Schlosses am Marktplatz von Braunfels verabschiedete sich von uns Wanderern in unvergesslicher Art. Kai bat am Morgen, unsere Thermosflaschen für die Rückwanderung mit Kaffee zu füllen. Dann passierte das Unglaubliche. Das Hotel berechnete uns die Flaschen tassenweise mit dem Restaurantpreis. Da war selbst der forsche Kai sprachlos und wir alle zahlten wie unter Schock brav den geforderten Betrag.

Eine Kollegin brachte mir regelmäßig große, saftige Äpfel aus dem Herbsturlaub mit. Die hatte sie in Südtirol auf dem Annenhof in Kaltern selbst gepflückt. Annas Frühstückspension lag inmitten eines Weinberges, als eines der letzten Häuser ganz oben am Hang mit herrlichem Blick ins Tal, auf das Mittelgebirge und dem darüber liegenden alpinen Hochgebirge, dem Rosengarten. Mit unserer Begeisterung für Südtirol haben wir unsere Saunagruppe angesteckt und dort einige gemeinsame herbstliche Wanderurlaube verbracht.

Radtouren
Auch Radtouren kamen nicht zu kurz. Besonders ereignisreich waren die beiden Touren durch die Normandie und an der Elbe. Die in der Normandie gewählte Strecke erwies sich als „suboptimal“. Die Landschaft ist durchzogen von Tälern mit vielen kleinen Flüsschen, die alle in die gleiche Richtung zum Meer verlaufen. Leider fuhren wir mit unseren Rädern nicht parallel, sondern quer bergauf und oben angekommen, gleich wieder bergab. Umso schöner war bei strahlendem Sonnenschein die Einfahrt in den Hafen von Honfleur. Es war Frühsommer 1994 und bereits recht warm. Die Cafés und Restaurants hatten Tische und Stühle herausgestellt. Was isst man im Hafen von Honfleur? Natürlich Meeresfrüchte und Ähnliches. Nicht aber Gabi. Eddi bot ihr 50 DM, wenn sie eine Schnecke probierte. Da hätten 1.000 DM nicht gereicht. Am Tag danach war Regen an-gesagt und der hörte auch nicht mehr auf. Kein Mensch fährt bei so einem Wetter mit dem Fahrrad, nur die Engländer dachten die Normannen. Völlig durchnässt kamen wir in unserer Unterkunft an und durften uns erst einmal in dem schönen, großen Wohn-zimmer der Gastgeberin am offenen Kamin wärmen und trocknen. Dazu gab es heißen Tee, was Prisca die Teeliebhaberin besonders freute.

Die Unterkunft, ein ehemaliger großer Bauernhof, war nur auf Bed & Breakfast eingestellt. Unsere Gastgeberin hatte Mitleid und schickte uns nicht wieder in den Regen. Eine Kleinigkeit, Eierpfannenkuchen und Salat aus dem Garten könne sie uns anbieten. Eddi war begeistert, Pfannenkuchen à la Eddi war sein Markenzeichen. Leider gingen die Eier bei unserem Appetit sehr schnell aus. Eine Attraktion besonderer Art war der große, brave Hund unserer Gastgeberin. Sie legte ihm ein Stück Baguette auf die Schnauze. Erst nach einem Schnippen mit den Fingern schnickte er seine Schnauze noch oben und fing das Stück Brot mit dem Maul auf. Ob es mit Wurst auch funktioniert hätte? Am nächsten Tag bei unserer Rundfahrt der „Route du Cidre“ war es wieder ziemlich warm und alle hatten Durst. In der nächsten Kneipe machten wir einen Stopp. Nachdem unser Durst gelöscht war, bekamen wir Hunger. Die Dame hatte aber außer einem recht großen Camembert nichts anzubieten. Der war im nu weg. Als sie unsere fragenden Augen sah, gab sie sich einen Ruck und überließ uns den Camembert aus ihrer Wohnung, den sie eigentlich für den Besuch am Abend gekauft hatte.

Bereits ein Jahr später fuhren wir mit Eddi und Lilian nach Dannenberg an die Elbe bzw. nach Röbel an die Müritz. Die Zonengrenze gab es nicht mehr, wir konnten die Ufer der Elbe wechseln. Insbesondere auf der Ostseite fielen uns die vielen Storchennester mit den Jungstörchen auf. Unterhalb des Elbe-Damms stand ein mit Reet frisch gedecktes und renoviertes, altes Gasthaus mit einem wunderschönen Garten. Es roch verführerisch nach Kaffee. Heißer Kaffee und frischer Kirschkuchen, die Welt war in Ordnung. Eddi, der immer zu Späßen aufgelegt ist, wurde übermütig. Er rief die Bedienung, wir wollten auf dem Rückweg hier zu Abend essen und dann alles zusammen bezahlen. Die nette Bedienung stutzte zunächst, wolle aber ihre Chefin fragen. Strahlend kam sie zurück, man war einverstanden. Der noch unverdorbene Osten. Die guten Leute hatten noch keine schlechten Erfahrungen gemacht. Eddi hatte es sich nicht vorstellen können, dass man sein Ansinnen ernst nahm. Was nun? Geplant war eine andere Route. Also, nach kurzer Diskussion ruderten wir zurück und baten um die Rechnung. Wir wären uns doch nicht sicher, ob wir tatsächlich noch einmal vorbeikämen. Die Bedienung schien richtig enttäuscht zu sein.

Eine Radtour der besonderen Art hatten wir im Herbst 2000 an der Mosel. Ich bekam den Tipp für eine Unterkunft bei der Winzergroßfamilie Melsheimer in Reil. Hier lebten vier Generationen, wie es schien, harmonisch zusammen. Ich hatte das gesamte neu renovierte Nebengebäude gebucht. Leider mussten Eddi und Lilian kurzfristig absagen und mein alter Freund Gunt und seine Ehefrau Helga sprangen ein. Ursel hatte sich kurz zuvor an beiden Füßen operieren lassen und hätte die Beine eigentlich ruhig halten müssen. Sie wollte uns aber den Spaß nicht verderben, biss die Zähne zusammen und radelte wenigsten mit. Gerhards Sohn Johannes und Gunts Sohn Christian waren im gleichen Alter und durften auch mit, wurden aber wegen Platzmangel in der Nähe untergebracht. Der Wegfall direkter Kontrolle durch die Eltern war den beiden nicht unrecht.

Die Radtour entlang der Mosel über Traben-Trabach nach Bernkastel-Kues war eigentlich als Hauptattraktion gedacht, unvergesslich wurde aber unsere Steillagenwanderung, geführt vom jungen Winzer und dessen Vater. Ausgerechnet an diesem Tag war es brütend heiß und am Hang gab es keinen schützenden Schatten. Vorausschauend hatten die Herren in regelmäßigen Abständen Wein und Sekt gebunkert. Die Flaschen waren sogar kalt. Der Großvater, der eigentlich unseren Jahrgängen näherstand, war ein sehr humorvoller Erzähler und dadurch spürten wir die Anstrengungen der Wanderung durch die steilen Weinberge nicht. Am Ende der Wanderung oben am Hang vor dem beginnenden Wald, wartete eine Überraschung auf uns. Wie bei Tischlein deck` dich, stand vor uns ein durch die Last der Vesper sich fast biegender Tisch. Am Morgen unse-rer Abreise ließen sich die beiden Winzer nicht nehmen, uns ihren Weinkeller zu zeigen. Natürlich wurde auch die eine oder andere Flasche aufgemacht. Wir Männer mussten uns als Autofahrer allerdings zurückhalten. Gabi bekam zum Abschied sogar eine Mag-num-Flasche Sekt geschenkt. Gegenüber von Cochem klingelte mein Handy. Teds Frau Hannelore war am Apparat und lud mich als Überraschungsgast zu Teds 66. Geburtstag ein.

Wildwasserpaddeln
Durch Kai angeregt, fuhren wir gemeinsam zum Wildwasser-Paddeln nach Frankreich. Nicht die überlaufene Ardeche, sondern der Nachbarfluss Tarn bzw. der Orb im Langue-doc-Rousillon und Lou im Jura waren unsere Ziele. Der Tarn ist ähnlich schluchtenreich wie die Ardeche, aber nicht ganz so spektakulär, daher weniger bekannt und nicht so stark befahren. Das Wasser ist aber genauso glasklar. Im Sommer 1987 auf dem Weg zum Atlantik machten wir einen Paddelstopp am Tarn. Kai hatte vorgeschlagen, die lange Strecke an den Atlantik nicht ohne Unterbrechung zurückzulegen. Ein schöner Stopp am Paddelfluss Tarn wäre ideal. Ich war damit einverstanden. Den Urlaub mit Gabi an der Ardeche hatte ich in guter Erinnerung. Auf die Schnelle kaufte ich mir ein preiswertes Gummiboot, denn ich war mir nicht sicher, ob mir die Paddelei überhaupt gefallen würde. Die Knauserigkeit stellte sich als ein schwerer Fehler heraus. Bereits bei der ersten Paddeltour wurde das eher für den Baggersee geeignete Boot leck. Dabei waren auch Eddis fast erwachsene Kinder Ulrike und Frank. Unsere naturverbundenen Freunde schliefen in Zelten am Fluss auf einem Campingplatz, Gabi und ich wohnten hochherrschaftlich im Schloss von La Malene. Prisca hatte oberhalb des Tarn auf dem Hochplateau ein einfaches, aber vorzügliches Gasthaus ausfindig gemacht, wo man sogar Wachteln essen konnte. Die Mutter kochte selbst. Dies gibt es in Frankreich heute nicht mehr bzw. ist nicht zu bezahlen. Der Hit war allerdings unser mehrgängiges Abschiedsessen in unserem Schloss in La Malene. Der Hotelier war offensichtlich beleidigt, dass Gabi und ich nur bei ihm übernachteten und wollte uns wohl zeigen, was wir versäumt hatten. Die einzelnen Gänge waren klein, aber zahlreich. Mitgezählt hatte ich nicht. Irgendwann war Schluss, wir konnten alle nicht mehr. Da gab es noch einen Paukenschlag. Zum Kaffee wurden auf einem mehrstufigen Tablett selbst hergestellte Pralinen und Schokoladen-Trüffel angeboten. Und jetzt geschah das Unglaubliche. Niemand griff nach diesen Köstlichkeiten.

Bei Ornans im Jura wohnten wir in einer zum Hotel ausgebauten Mühle „Moulin de Pri-eureé“. Man übernachtete auf dem Grundstück in kleinen Chalets. Das Abendessen war, wie immer in Frankreich, exquisite und das Personal zuvorkommend. Den Herren hat besonders die junge Auszubildende mit dem sehr tiefen Ausschnitt gefallen, vor allem wenn sie sich überbeugte, um die Krümel vom Tisch zu fegen. Plötzlich ging das Licht aus und ein mit Wunderkerzen gespickter Kuchen wurde hereingetragen. „Happy Birth-day, dear Gabi“ sang das komplett angetretene Personal im Chor. Prisca hatte die kleine Feier heimlich mit ihrem guten Französisch organisiert. Leider hatte sie sich im Datum geirrt, Gabi wurde erst einen Tag später 34 Jahre alt. Im Jura regnet es oft. Der Lou war randvoll und hatte sehr viel Strömung. Kai, der einzige mit Paddelerfahrung, wagte mit Prisca eine spektakuläre Fahrt, allerdings auf dem kleineren Nebenfluss Cusancin. Kai hatte mit dem reißenden, vollgelaufenen Bach keine Probleme. Er bot sogar an, jeden von uns für eine wilde Fahrt mitzunehmen. Zusammen mit Kai waren wir mutiger. Einen nach dem anderen brachte er sicher ans Ziel.
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Der Orb im Langedoc-Roussilon sollte für Gabi der Schicksalsfluss werden. Ich weiß nicht, warum wir uns ausgerechnet diesen Fluss ausgesucht hatten. Die Landschaft ist lange nicht so imposant wie am Tarn und das Wasser auch nicht klarer, aber wilder und voller großer Steine. Beim Paddeln konnte man sich nicht treiben lassen, man musste genau aufpassen, wohin man paddelte. Der Fluss war für einen unerfahrenen Wildwasserpaddler nicht einfach. Gabi hätte vorne im Boot entspannt sitzen können, aber sie gab die Kommandos. „Nicht nach rechts fahren, nach links, weiter nach links!“ Da war es auch schon passiert. Wir saßen an einem Felsen fest und konnten uns aus eigener Kraft nicht befreien. Ich bat Gabi, aufzustehen und nur kurz mit einem Bein den Felsen zu betreten, um das Gewicht vom Bug zu nehmen. Sie stieg aber komplett aus und stand auf dem Felsen. Das Boot war wieder frei und Gabi hätte sehr rasch ins Boot zu-rücksteigen müssen, sie bekam es aber mit der Angst zu tun und blieb auf dem Felsen stehen. Allein fuhr ich die starke Strömung im hohen Tempo abwärts, konnte mich gerade noch umdrehen und ihr zuwinken, da ging es auch schon um die nächste Kurve. Erst viele Meter später ließ die Strömung nach und endlich war ich in der Lage, am Ufer anzulegen. Einladend war das Ufer nicht. Es war der reinste Dschungel mit dichtem Dornengestrüpp.

Nur mühsam und sehr langsam kam ich voran. Als ich um die Kurve blicken konnte, traute ich meinen Augen nicht. Der Felsen, auf dem Gabi eben noch stand, war leer. Hatte sie die Nerven verloren, war sie ins reißende Wasser gesprungen und unbemerkt an mir vorbei getrieben? Also, wieder zurück ins Boot und den anderen hinterher. Hinter einer Flussbiegung sah ich schon die beiden langen Kerls Kai und Eddi am Ufer und signalisierte ihnen ganz aufgeregt, Gabi ist verschwunden. Als ich näherkam, konnte ich es kaum glauben, Gabi strahlte mir entgegen. Wie war das möglich? Kai hatte unser Missgeschick beobachtet und sich mit Eddi auf den Weg gemacht. Was mir nicht aufgefallen war, an der Stelle meiner Havarie teilte sich der Fluss und machte mit seinem Hauptarm einen großen Bogen nach links. Rechts dagegen ging es seicht und ruhig gerade aus. Diesen kurzen, schnellen Weg im Fluss gingen Kai und Eddi zurück und nahmen Gabi in Empfang. Ich hatte noch tagelang schmerzhafte Erinnerungen an dieses Abenteuer, denn meine Beine und Arme waren vom Dornengestrüpp zerkratzt. Für Gabi war das Erlebnis traumatisch und das Thema Wildwasserpaddeln endgültig erledigt. Danach wurde unsere Paddelausrüstung verkauft.

Skilaufen
Mein Ski-Urlaub in den Dolomiten war leider nur ein leichtes Aufflackern des Alpinen Ski-sports gewesen. So schloss ich mich im Winter Eddis Aktivitäten an und gemeinsam ging es zur Fuchskaute bei Cleeberg. Die Loipe führt sehr abwechslungsreich durch Wald und über Wiesen und war zumindest am Wochenende gespurt. Leider wurden die Schneewinter in unserer Gegend mit der Zeit immer seltener. Eine super Alternative war der Bayerische Wald. Bei Waldkirchen hatte Eddi ein Appartement im Feriendorf „Sporthotel Reutmühle“. Er war der Aufsichtsratsvorsitzende der Eigentümergesellschaft und hatte dadurch exzellente Verbindungen. Noch heute schwärme ich von der Bahndammloipe. Sie verläuft auf der Trasse einer stillgelegten Bahnlinie von Alt Reichenau nach Haidmühle und führt in sanften Steigungen durch Wälder, über Dämme, über Brücken hinweg und unter Brücken hindurch. In Haidmühle erwartete uns ein uriges Gasthaus und ausgezeichnete, riesige Heidelbeerpfannenkuchen. Eddi ist ein begeisterter Ski-Langläufer. Alljährlich nimmt er am Engadin-Skimarathon in St. Moritz in der Schweiz im klassischen Stil teil.

Mit Kai und Prisca fuhren wir danach viele Jahre in den Osterferien und manchmal auch zusätzlich im Januar zum Skilaufen nach Ischgl in Österreich. All die Jahre wohnten wir in der Frühstückspension Schmid und konnten den Aufstieg Ischgls zum lauten und schon fast protzigen Szene-Skiort miterleben.

Buggy Surfen am Atlantik
Der Atlantik war für viele Sommer das Urlaubsziel der Saunagruppe. Dort hatten wir uns Häuschen gemietet. Von Vieux Boucau aus haben wir viele Besichtigungsfahrten unternommen, z. B. nach Biarizz, Bayonne, San Sebastian (bereits in Spanien) und den Cirque de Garvarnie in den hohen Pyrenäen. Bei den Touristen beliebt war das Surfen mit kleinen weißen Styroporbrettern. Die haben wir uns auch gekauft. Sie hielten aber nicht viel länger als einen Urlaub. In jedem Sommer steigerte ich mich. Als erstes musste ein richtiges Buggy-Surfbrett her. Im nächsten Jahr kaufte ich mir einen Shorty, also einen Neoprenanzug zum Schutz gegen das doch recht frische Atlantikwasser und schließlich Schwimmflossen samt Taucherbrille. Jahre später wechselten wir wenige Kilometer weiter nördlich nach Vielle bzw. auf den Campingplatz „arnaoutchot“.

Flüge mit Eddi
Eddi brachte uns zur Fliegerei. Im Aero-Club Butzbach fing er mit Motorseglern bescheiden an. Er ist begeisterter Flieger und dachte, er könne auch mich mit dem Fliegervirus infizieren. Dieser Wunsch konnte nicht in Erfüllung gehen. Es war nicht die Angst vor dem Fliegen, sondern vor der Übelkeit, die ihn ausbremste. Fliegen mit der Gruppe war zum Leidwesen von Eddi und den anderen Mitfliegern nur bei bestem Wetter möglich. Positiv betrachtet, war ich Garant für wunderbare Flüge. Der Start zum Fliegerleben ging gründlich daneben. Eddi hatte Gabi und mich zu einem Rundflug über Butzbach eingeladen. Der Motorsegler war noch in der Luft. Wir saßen im Vereinsheim, als plötzlich die Nachricht kam, dass der Flieger abgestürzt sei und in den Baumwipfeln hänge, die beiden Piloten sich nicht selbst befreien könnten. Die herbeigerufene Feuerwehr pflückte die Piloten unverletzt von den Bäumen. Fazit: Motorsegler Totalschaden, Rundflug gestrichen, die Fliegerei für mich zunächst auch.

Erst nach meiner Krebsoperation fasste ich wieder Mut und flog mit Eddi im Motorsegler von Lützellinden nach Vilshofen an der Donau. Es war herrliches ruhiges Flugwetter – war ja schließlich die Voraussetzung – und ich durfte sogar das Steuer übernehmen. Nun war ich mit der Fliegerei wieder versöhnt. Mit Eddis fast amerikanisch anmutendem beruflichem Erfolg wurden die Flugzeuge immer größer und teurer. Sein Steuerbüro hatte er inzwischen seiner Frau übergeben und konzentrierte sich zunächst auf den Verkauf von neu gebauten Immobilien für die Kerkerbachbahn AG. Die ersten Jahre waren sensationell erfolgreich, aber die Geschäftsführer wurden leider übermütig. Eddi erkannte die Gefahr. Außerdem stand er nicht mehr hinter diesen Objekten und beschloss, eigene Projekte zu entwickeln und zu verkaufen. Mit seiner Entscheidung lag er goldrichtig, denn die Kerkerbachbahn AG verschwand vom Markt und Eddi baute sich einen guten Ruf auf, ganz ohne Werbung, nur durch Mund zu Mund Propaganda. Eddi ist der geborene Verkäufer, aber auch im Einkauf nicht schlecht. Kaum hatte er ein neues Flugzeug, wurde es auch schon wieder gegen ein besseres eingetauscht. Der „Einmot“ folgte die „Zweimot“. Nach dem Erwerb der Lizenz zum Instrumentenflug musste wieder ein neues Flugzeug her, natürlich eines mit der entsprechenden Technik. Die Balken an den Schulterklappen wurden immer zahlreicher. Er besitzt den deutschen Berufspiloten-schein und den amerikanischen Pilotenschein mit Instrumentenflugberechtigung auch für mehrmotorige Flugzeuge. Eine Steigerung ist nicht mehr möglich, sollte man denken. Doch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bot sich in Kasachstan die Gelegenheit, einen russischen Kampfjet zu fliegen. Er war zweimal dort. Bei der Vielzahl von Eddis Flugzeugen weiß ich nicht mehr, mit welchem wir wohin geflogen sind.

Eddi fing bei seinen Vorschlägen für einen Flug schlauerweise klein an. Nach einem Rundflug über Gießen, machten wir Ausflüge an die Mosel und den Bodensee, nach Lahr, Dresden, Prag und Rothenburg ob der Tauber und schließlich auf die Inseln Borkum, Rügen und Sylt. Danach kamen die mehrtägigen Flüge nach Cork in Irland, nach Korsika und nach Istrien. Wie bereits erwähnt, immer bei bestem Flugwetter. Bei Gewitter auf der geplanten Strecke, wurde auch schon einmal umdisponiert.

Badminton
Unser Supersportler Kai hat die Saunagruppe mit Squash zum Hallensport gebracht. In der Sporthalle Linden entdeckten wir aber bald, dass Badminton für Paare geselliger und besser geeignet war. Da wir aber nur drei Paare waren (Eddi und Lilian, Kai und Prisca und Gabi und ich), mussten wir uns immer wieder ein viertes Paar suchen. Nach Gabis Bandscheibenvorfall wurde das paarweise Spielen ganz aufgegeben. Nun spielten wir Männer im Einzel auf zwei Plätzen. Als vierter Mann wurde Eddis Sohn Frank bei uns aufgenommen. Leider schied Kai nach seiner Hüftoperation aus. So blieben aus der eins-tigen Saunagruppe nur noch Eddi und ich übrig. Vorrübergehend konnten wir Franks Kommilitonen Ralf akquirieren. Mit der Zeit wurde Frank für uns zu spielstark und Ralf hatte nach dem Studium als Ehemann und Vater für das Badminton keine Zeit mehr. Mit zunehmendem Alter wurde uns das Einzelspiel zu anstrengend. Reumütig kehrten wir zum Doppel zurück. Immer am Montag, um 18:15 Uhr spielten wir im Sportpoint ein Männer-Doppel mit anschließendem Saunagang und Abendessen bei Navid im No. 10 in der Plockstraße. Der harte Kern der Badmintongruppe bestand aus Eddi, Gerhard, Sven und mir. Ersatzmann ist Gerhards Kollege Eric bzw. seine Ehefrau Ina. Mein Spiel-partner Sven könnte vom Alter her mein Sohn sein. Er ist Rechtsanwalt und ein „Hans Dampf“, immer aktiv und überall bekannt. Sein besonderer Stolz sind die Rollstuhlbasketballer des RSV Lahn-Dill, die anscheinend auf die Deutsche Meisterschaft abonniert sind. Als Sponsoring-Manager des überaus erfolgreichen Vereins war er mit in Tokyo, wo seine Rollis Vereins-Weltmeister wurden. Seine Lebensgefährtin Caroline, eine Bretonin, sieht ihn wohl nicht so häufig.

Im Alter von 50 Jahren hatte ich mir bereits überlegt, ob ich mit 60 Jahren noch Bad-minton spielen kann. Mit über 70 Jahre wurde es mir fast unheimlich, dass ich immer noch so viel Spaß am Badminton hatte und meine Mitstreiter auch mit mir. Mein Haus-arzt sagte mir auf meine Frage, wie lange ich denn aus ärztlicher Sicht noch spielen kön-ne, ganz trocken „turne bis zur Urne“. Ich hatte verstanden. Dann ist es tatsächlich passiert.  Immer ging ich davon aus, dass ich, als ältester der Gruppe wohl als erster die Segel streichen müsse. Unglücklicher Weise bekamen Eddi und Gerhard nahezu gleichzeitig erheblich Probleme mit den Gelenken und standen nun nicht mehr zur Verfügung. Leider fielen auch die schönen gemeinsamen Runden bei Navid aus. Sven hatte mich ermutigt nicht auch aufzugeben. Also spielte ich alter Knabe montags nun ausschließlich mit jungen Leuten. Mit 71 Jahren hatte ich den Sturz in der Halle, den ich ohne Schaden überstand. Dies nahm ich zum Anlass, endlich die Segel zu streichen. Von den Badmintonkameraden gab es keinen Widerspruch. Also, alles richtig gemacht. Im Gegensatz zu uns trifft sich der weibliche Teil der alten Saunagruppe (Gabi, Prisca und Lilian) am Mittwochnachmittag regelmäßig zum wöchentlichen Plausch im Café.

Mit der Badmintongruppe auf Korsika und in Istrien
Der Wetterbericht zu Pfingsten 2009 war hervorragend. Eddi bot der Männerrunde ei-nen Flug nach Korsika an. Für Sven war es der erste Flug in einer Privatmaschine und er war von Eddis Vorschlag begeistert. Zwischengelandet sind wir in Donaueschingen. Dort wechselten wir in eine Zweimot. Die Sicht über den Alpen war absolut klar. Unter uns lag der Vierwaldstädter See, danach passierten wir das Matterhorn und überflogen meinen geliebten Lago Maggiore. In der Ferne schimmerte schon das Meer, Genua war schnell überflogen und die korsische Küste überraschend schnell erreicht. Wir landeten sicher auf dem recht großen Flugplatz von Ajaccio. Eddi sorgte zunächst für sein leibliches Wohl. Mit Schrecken beobachtete ich die vielen Kurzzeittouristen aus den Urlaubsfliegern strömen. Ich ahnte nichts Gutes. Und so war es dann auch. Korsika war zu Pfingsten praktisch ausgebucht und wir hatten keine Vorausbuchung. Wir waren froh, dass wir noch einen Mietwagen bekamen. Von der Mietwagenfirma bekamen wir einen Hoteltipp das Sofitel Porticcio Thalassa, eine luxuriöse Anlage südlich vom Flughafen direkt am Meer gelegen. Der Tipp war gut, leider war nur noch ein Appartement frei und das teuer. Im Gegensatz zu uns hatte Eddi mit dem Preis keine Probleme und mietete sich sofort ein. Der Herr an der Rezeption, der zunächst kein Deutsch sprach, hatte ein Einsehen. Wir wollten doch als Gruppe sicherlich beisammenbleiben, bemerkte er sehr richtig, plötzlich in bestem Deutsch. Er fand uns wohl sympathisch und erzählte stolz, einige Jahre in einem Hotel in München gearbeitet zu haben. Nach einer halben Stunde Telefonat hatte er für uns in der Altstadt von Ajacco ein Doppelzimmer für Sven und Gerhard und zwei Einzelzimmer für Eddi und mich reserviert. Eddi holte sein Gepäck wieder aus dem Zimmer und wir fuhren nach Ajacco.

Inzwischen war es spät geworden und wir marschierten geradewegs in eine der netten und sehr gut besuchten Straßenrestaurants. Auffallend im Straßenbild waren die vielen, sehr modisch gekleideten jungen Leute. Die jungen Damen trugen nahezu uniformhaft abends schwarz und tagsüber weiß. Am nächsten Morgen sind wir nach einem ausgiebigen Frühstück in der Altstadt nach Norden an die steile und schroffe Küste des Golfe de Porto gefahren. Die enge D81 führt südlich von Porto durch eine bizarre Felsenland-schaft, die Calanche. Die Felsen aus rötlichem Granit schienen im Sonnenschein rot zu glühen. An den besten Aussichtspunkten machten wir einen Stopp. Nicht weit vor Porto, hinter dem Örtchen Piana fanden wir direkt an der Straße ein Hotel (Cap Rosso Ho-tel Piana) mit großer Terrasse und herrlichem Blick auf den Golf, die roten Felsen und das tiefblaue Meer. Zum Baden ging es etwas abenteuerlich auf einer engen, steilen und sehr kurvenreichen Straße hinunter an den engen Sandstrand mit den großen Felsen als Schattenspender. Am Abend nach einem guten Abendessen (Wildschweingulasch) in dem einfachen Restaurant „A Casa Corsa“ des nahen Piana hat Sven in der Hotelbar in Spendierlaune eine Runde Bier ausgegeben, die Miniflasche 0,25 l zum Schnäppchen-preis von 5 €. Das gute Wetter hielt die drei Tage und wir hatten erneut einen ruhigen, großartigen Flug über die Alpen.

Unverhofft konnte ich Eddi nach Kroatien bringen. Eddi hatte einen Flug nach Sardinien ausgearbeitet und ich die Unterkunft vorgebucht, etwas voreilig, wie sich später herausstellte. Die Badmintongruppe war bereits auf dem Flugplatz in Lützellinden zum Abflug nach Sardinien, als Eddi eine große Gewitterfront über den Westalpen meldete. Ein Flug über die Alpen wäre bei diesem Wetter zwar möglich, aber wahrscheinlich nichts für mich. Damit hatte Eddi genau Recht. Als südlicher Ausweich-Flugplatz infrage käme Por-toroz in Slowenien. „Wunderbar, dann sind wir nicht weit weg von Rovinj“. Wir flogen in einer kuriosen Zweimot mit Propellern vorn und hinten (Push-Pull) Richtung Südos-ten mit Zwischenlandung in Vilshofen (dort musste ich die reservierten Hotelzimmer kurzfristig kanzeln) bei fast wolkenlosem Himmel am Gewitter vorbei und landeten auf dem Flugplatz direkt an der Grenze zu Kroatien. Ein Hotel wurde schnell gefunden und zunächst einmal die historische Altstadt des slowenischen Piran aufgesucht.

Sven war am nächsten Tag der Fahrer und ich der ideale Reiseführer. Meine Ortskenntnisse zahlten sich besonders in Pula aus. Ich kannte den Schleichweg, dem Hauptverkehr und den vielen Ampelanlagen ausweichend, zum großen Parkplatz im Hafen. Nach einem Bummel durch die Gassen der Altstadt steuerte ich in der Nähe des Amphitheaters die beste Eisdiele Pulas an. Vor der Stadtmauer, unter schattigen Bäumen erholten wir uns prächtig. Von Rovinj war Gerhard begeistert. So malerisch hätte er sich die Stadt nicht vorgestellt. Bei Eddi geht nichts ohne ein ordentliches Mittagessen. Es war Anfang Juni und noch keine Saison, aber bereits schön warm. Den Tisch im Restaurant am Hafen konnten wir uns aussuchen. Der Ober hatte seinen Spaß mit uns und meinte nur, als das Bier uns nicht kalt genug war, Schuld hätten seine Kollegen, die blöden Italiener. Er war wohl keiner. Gebadet haben wir in meiner Bucht in Valalta und zu Abend gegessen außerhalb von Rovinj in meinem italienischen Lieblingslokal „Figarola“ auf der Terrasse direkt am Meer. Bei unserer Ankunft eilte der Wirt sofort auf mich zu und be-grüßte mich wie einen alten Freund. Er hatte mich wohl inzwischen als treuen Gast ab-geschrieben. Als Vorspeise empfahl ich Vitello Tonnato. Davon schwärmt Gerhard noch heute. Egal, ob Fisch oder Fleisch, alles hatte vorzüglich geschmeckt. Es war noch lange warm und wir verbrachten einen unvergesslichen Abend am Meer. Solche Restaurants findet man nicht, die muss man eben kennen.

Gerhard und Maggie
Seit vielen Jahren ist Maggie Gerhards Lebensgefährtin und Ehefrau. Sie stammt aus Südtirol. Ihr Elternhaus steht in Völs am Schlern. Sie hat dort eine eigene große Wohnung. Mehrmals im Jahr fährt sie mit Gerhard in die Heimat zur alten Mutter. Gabi und ich waren auch schon dort. Gerhard ist inzwischen ein halber Südtiroler, zu erkennen an der blauen Männer-Schürze. Hier schließt sich der Kreis. Südtirol hat uns wieder. Bei Maggies Umzug von Wieseck nach Marburg hörte ich bereits die Hochzeitsglocken läuten. Gerhard ist stolzer Eigentümer eines großen, schönen Hauses auf herrlichem Grundstück in einer ruhigen Villengegend von Marburg unweit der Innenstadt. Für ihn allein war das Haus eigentlich viel zu groß. Mit dem Einzug von Maggie erwachte in Gerhard der Tatendrang. Sein Haus erstrahlt inzwischen außen und innen in neuem Glanz.

In den letzten Jahren hat sich zu Gerhard und Maggie eine sehr enge Freundschaft entwickelt. Meine Gabi ist über die gute Freundschaft zu den Beiden sehr glücklich, denn sie war bisher immer das Küken. Mit Maggie hat sie endlich eine Freundin ihres Jahrgangs gefunden. Beide sind im Juni geboren. Beide Frauen sind Verwaltungsangestellte, Maggie bei der Universität, Gabi beim Regierungspräsidium. Gerhard ist wie ich von Beruf Lehrer und auch inzwischen in Pension. Gerhard und ich bzw. Maggie und Gabi haben ähnliche Interessen. So ist es kein Wunder, dass wir sehr viel Freizeit gemeinsam verbringen. Gerne unternehmen wir Autofahrten, insbesondere in den Rheingau nach Eltville bzw. zum Lieblingsrestaurant von Gerhard das „Come Back“ in der Goldgasse in Wiesbaden. Das schöne Restaurant kennt er von seinen Sitzungen am Kultusministerium in Wiesbaden. Gerhard gehörte dem Hauptpersonalrat von Hessen an. Das nahe Bad Nauheim und der Kirschenort Ockstadt gehören ebenfalls zu unserem ständigen Repertoire. Einmalig war Maggies 53. Geburtstag in Holland. Das Hotel Van der Valk in Blijdorp bei Rotterdam, das nur wenige Kilometer entfernte Bilderbuchstädtchen Delft mit seinen schönen Grachten und das Wetter waren gleichermaßen super. Gerhard ist ganz begeistert von der lieblichen Pfalz und dem Flair der Südlichen Weinstraße, dem Südtirol Deutschlands. Die alte freie Reichsstadt Speyer war für uns bereits eine Reise wert. Ich hoffe auf viele weitere gemeinsame Ausflüge und schöne Erlebnisse, z. B.  in Landau und Wissembourg.

Nach zwei sehr harmonischen gemeinsamen Kurzurlauben in Holland konnten wir im Sommer 2015 Maggie und Gerhard zu einem Urlaub in Baska gewinnen. Ich hoffe, wir hatten nicht zu viel versprochen. Udine ist für Gabi und mich auf dem Weg nach Baska ein Muss. Zwei Übernachtungen hatte ich im Internet gebucht. Die kurze Anreise für Maggie und Gerhard, aus Südtirol kommend, ersparte ihnen eine Übernachtung. Am frühen Freitagmorgen trafen wir uns in unserem Hotel. Nach kurzem Einchecken ging es gemeinsam nach Cividale del Friuli, der alten Langobarden-Hauptstadt mit der imposanten Teufelsbrücke über den glasklaren Wassern des Natisone. Mit unserer „Italienerin“ hatten wir auf der hübschen Piazza Paolo Diacono bei der Bestellung unseres Mittagessens keine Schwierigkeiten. Maggie weiß, was gut und günstig ist. Durch das berühmte Weinanbaugebiet des Collio ging es weiter nach Aquileia. Gerhard war von der uralten römischen Basilika mit ihren berühmten Mosaiken und der außergewöhnlichen Deckendekoration sehr beeindruckt. Das kleine Aquileia war zu Zeiten der Römer eine große und bedeutende Hafenstadt. Die vielen, über eine große Fläche verteilten Ausgrabungsstätten lassen es erahnen. Kaffee und Kuchen gab es unter schattigen Bäumen mit Blick auf die Basilika. Für unser drittes Ziel, die Lagunenstadt Grado, war leider keine Zeit mehr. Die Mädels wollten nach Udine shoppen. Das war auch gut so, denn so konnte Maggie im besten italienisch bei unserem Lieblingsrestaurant Osteria Alla Ghiacciania vier begehrte Plätze auf der Terrasse am bezaubernden Bach reservieren. Meine Vorspeise, wie konnte es anders sein, San Daniele-Schinken. Unseren obligatorischen „Aperol Spritz“ mit den von Gabi geliebten Kartoffel-Chips tranken wir danach auf der einmalig schönen Piazza San Giacomo.

Am Samstag läutete in der Früh mein Hoteltelefon. Ob ich einen Mercedes führe, es hätte einen kleinen Unfall gegeben, ich solle doch schnell zur Rezeption kommen. Ein weiß-russischer Bus hatte beim Rangieren mein Auto touchiert und die Stoßstange und Teile darüber leicht beschädigt. Ich verspürte bei all dem Ärger doch eine gewisse Erleichterung, denn ich hatte Schlimmeres befürchtet und mein Auto im Geiste bereits in der Werkstatt gesehen. Bei der komplizierten Unfallabwicklung mit kyrillischer Schrift war mir schon klar, dass der Schaden an mir hängen bleiben würde. Trotz des Ärgers nah-men wir uns die Zeit für einen kleinen Umweg über die Küstenstraße und mitten durch Triest. Mangels Parkplätze blieb uns eine Stadtbesichtigung verwehrt. Recht früh am Nachmittag erreichten wir Baska und verbrachten eine Woche bei bestem Wetter und angenehmen Temperaturen in unserer Luxus-Villa Pearl in der Nähe unserer Badebucht. Die beiden Sonnenanbeter Maggie und Gerhard kamen voll auf ihre Kosten. Gourmet und Hobbykoch Gerhard konnte nicht meckern. Unsere Lieblingsrestaurants, vor allem das Lanterna, fanden seine Anerkennung. Eine Entdeckung waren die vielen Feigenbäu-me, mit vielen leckeren, reifen Früchten. Gemeinsam mit Herrn Petric machten wir uns über einen der vielen Feigenpflaume auf dem Grundstück her. Die Feigen sahen für mich eher unreif grün aus. Die weiche Frucht in der Hand haltend wurde mir klar, die werden nicht, wie angenommen, blau. Dies waren grüne Feigen, zuckersüß und saftig, kein Vergleich mit den bei uns im Supermarkt erhältlichen, in edles Papier gewickelten blauen Feigen aus der Türkei. Der Feigenklau am Abend gehörte von nun an zum täglichen Ritual. 

Regen hatten wir während unseres Urlaubs lediglich an einem Vormittag und es sah nicht unbedingt nach Besserung aus. Die Gelegenheit zu einem kleinen Ausflug in die 25 km entfernte gleichnamige Inselhauptstadt Krk. Dort ist es etwas quirliger und städtischer als in Baska und wie überall in Dalmatien und Istrien wunderschön. Wir hatten uns gerade zum Cappuccino hingesetzt, blitzte auch bereits die Sonne zwischen den Wolken hervor. In spätestens einer Stunde würden wir in Baska wieder bestes Wetter haben. Damit war unser Ausflug beendet. Die Sommerferien verbringen unsere beiden Freunde gerne in der eigenen Wohnung in Völs unterhalb der Seiser Alm in der Nähe von Maggies Mutter. Von dort fahren sie normaler Weise für eine Woche zum nahen Strand von Jesolo bei Venedig. Ich hoffe, sie haben die etwas weitere Anfahrt nach Baska nicht bereut. Wenn ja, am Wetter kann es nicht gelegen haben. Leider wurde die Vil-la Pearl verkauft. Seitdem waren wir nicht mehr in Baska. Auf unserer Nachhausefahrt, Gabi und ich blieben in Baska drei Tage länger, legten wir nach kurzer Besichtigung von Treviso und Grappa-Einkauf direkt beim Produzenten Nardini an der schönen, über-dachten Brücke in Basano einen Zwei-Tage-Stopp In Eppan an der Weinstraße ein. Ein gemeinsamer Bummel mit Maggie und Gerhard durch Bozen mit anschließendem Abendessen im „Weißen Rössel“ (Maggies Tipp) rundete den gemeinsamen Urlaub ab. Viele Jahre war Kaltern unser Urlaubsziel in den Herbstferien. Vom hoch über Kaltern gelegenen Annenhof war es nicht weit zum Jagerkeller. Hier wollten wir, in Erinnerungen schwelgend, Abschied von Südtirol nehmen. Das, wie wir, in die Jahre gekommene Gastwirtspaar empfing uns mit Staunen und großer Freude. Wir wären so viele Jahre nicht mehr hier gewesen, sie hätten uns aber sofort wieder erkannt. Maggie und Gerhard haben wir  mit Unserer Liebe zu Holland angesteckt.

Maggies 58. Geburtstag feierten wir um 00:00 Uhr auf Maggies Hotelzimmer im Van der Valk Hotel bei Delft mit Sekt aus Plastikbechern. Eiskalt war das edle Getränk auch nicht mehr, aber wir hatten unseren Spaß. Wir hatten nur zwei Übernachtungen zum Wochenende und wie immer habe ich es gut gemeint, aber leider schlecht gemacht. Letztlich haben wir uns Holland aus dem Auto betrachtet. Gar nicht angenehm für Maggie, die sich mit Gerhard lieber in ein Straßencafé setzt und die Sonne genießt. Beim nächsten Holland-Kurzurlaub sollte es besser werden. Das Wetter war hervorragend. Die Sonne brannte vom Himmel und heizte die Luft tüchtig auf. Badewetter. Auf der Fahrt nach Zandvoort ging es hinter Haarlem nur noch im Schritttempo vorwärts. Glücklicher Weise kannte ich den riesigen Parkplatz am Meer. Liegen und Sonnenschirme gab es bei dem Ansturm nicht mehr. Wir hatten dennoch Glück, denn der für die Ausgabe verantwortliche junge Mann war ein deutscher Student. Wir sollten uns gemütlich in die Strandbar setzten. Es wäre ein Kommen und Gehen. Er würde uns informieren, wenn etwas frei würde. Holland erlebt man am intensivsten und schönsten auf dem Fahrrad. Fahrradwege gibt es im Überfluss, Parkplätze dagegen nicht und die wenigen sind fecht teuer. Das Business-Hotel Hilton Garden Inn bei Leiden hielt ich für ideal. Zur Innenstadt war es nur ein Katzensprung und zum Strand nach Katwijk aan Zee auch nicht allzu weit weg. Am Wochenende und nicht direkt am Wasser liegend bekommt man einen Schnäppchenpreis. Das Hotel hatte eine reiche Auswahl an Fahrrädern, also konnten auch wir unsere E-Bikes mitnehmen. Der Forderung von Gabi, beim nächsten Auto eine Anhängerkupplung zu bestellen, bin ich bei meinem neuen VW Tiguan gefolgt. Hätte man schon eher machen sollen. Am nächsten Morgen sollte es bei schönstem Wetter per Pedes auf dem schönen Radweg nach Katwijk aan Zee gehen. Unsere Fahrräder standen in Fahrradständern in der Hoteltiefgarage. Gerhard hatte wohl, entgegen seiner Aussage, lange nicht mehr im Sattel gesessen, denn er wirkte auf mich nicht sehr „sattelfest“. Raus aus der Garage ging es leicht bergauf und am Ende gab es eine geschlossene Schranke, an der ohne abzusteigen kein Vorbeikommen war. Die wenigen Meter bergauf hätte Gerhard das Fahrrad lieber schieben sollen. Er fuhr leider direkt an die Schranke heran, strauchelte direkt vor der Schranke und kippte um. Mit vereinten Kräften hievten wir Gerhard wieder hoch. Er verzog keine Miene, es wäre alles in Ordnung, aber der Spaß am Radfahren war im gleich zu Beginn verdorben. Ein Unglück kommt selten allein. Nach dem Tag am Strand erreichten wir unser Hotel, als gerade ein Auto durch die geöffnete Schranke fuhr. Ich stand direkt davor und nutzte die Gelegenheit. Maggie, die direkt hinter mir stand, wollte ebenfalls noch durchhuschen, die Schranke war jedoch sehr schnell und hatte offensichtlich keinen Sensor. Knapp hinter ihrem Kopf schlug die Stange auf ihr Fahrrad und brachte Maggie zum Stürzen. Wieder großes Glück gehabt. Für das Radfahren konnten wir die Beiden sicherlich nicht begeistern. Trotzdem war es für den „fußkranken“ Gerhard sehr viel angenehmer, das schöne Leiden nicht zu Fuß, sondern mit dem Fahrrad zu erkunden.

 

 

 

PENSIONÄR

Frühstücken bei Moos
Im September 2011 wollten die Sommerferien nicht enden. Mir wurde klar, ich musste meinen Tagesrhythmus ändern. Ich begann, nicht mehr zu Hause zu frühstücken, sondern ging raus aus der Wohnung unter die Leute. Ganz in der Nähe meiner Wohnung gibt es in der Marburger Straße einen sehr großen EDEKA-Supermarkt (Herkules) mit angeschlossener Bäckerei und einem Café. Hier hatte ich schon in den letzten zwei Jahren vor meiner Pensionierung des Öfteren gefrühstückt.  Es liegt auf dem Weg zur Schule, es gibt einen Park-platz und es hat ab 8:00 Uhr geöffnet. Ich hatte morgens keine Eile. Als Schulleiter erschien ich in den letzten beiden Jahren – also ab 65 Jahren – nicht vor 9:00 Uhr in der Schule. Das war auch nicht unbedingt erforderlich, denn auf meinen Stellvertreter konnte ich mich verlassen und die Kollegen waren sicherlich nicht traurig, wenn ich etwas später in der Schule auftauchte.

 




Seit Mitte 2021 treffen wir uns regelmäßig zum Frühstück im neuen, sehr weitläufigen Café und Bäckerei Moos, am Ende der Marburger Straße. HIer ist alles noch viel besser und mit dem Personal haben wir uns regelrecht angefreundet. Wir „Kaffe-Opis“ haben unsere eigenen Kaffe-Tassen, werden von den jungen Leuten freudig begrüßt und richtig verwöhnt, trotz Selbstbedienung.  Mein Spezi „Hartmut Neufeld“ ist ein wunderbarer Maler. Seine beiden großformatigen Bilder „Chevy in den Straßen von Havanna“ hängen gut sichtbar bei meinem Bruder in der Küche bzw. „Montmatre“ im Arbeitszimmer und werden von jedem Besucher bewundert. Hartmut ist aber auch ein begnadeter Porträtist. Sein Porträt meiner Gabi hängt in meinem Arbeitszimmer.

Vor Corona traf ich mich am Nachmittag bei Mario Gatti im Vechia Cittá in der Mäusburg, gegenüber dem Stammhaus der Balsers, mit Toni (Anton Helfrich), der Ehemann meiner Kollegin Doris, und Rudi (Rudolf Launspach). Beim Cappuccino und hin und wieder einer Kugel Eis mit Sahne wird eifrig politisiert. Da wir dabei nicht gerade leise sind, fühlen sich die Nachbartische häufig animiert mitzudiskutieren. Wir drei sind der harte Kern, aber meistens zu viert oder sogar noch zahlreicher. Leider haben wir es nicht geschafft, uns nach Ende von Corona wieder zu treffen. Wir telefonieren.

Homepage „automobilmarktdeutschland.de
Bei meinen Recherchen nach Neuwagen war mir aufgefallen, dass der Neuwagenkäufer in Deutschland zwar aus einem riesigen Angebot an Marken und Modellen auswählen kann, er aber zunehmend das Problem hat, bei der Vielfalt der Fahrzeuge sowie der Segmente und Nischen den Überblick zu behalten. Dieser Eindruck wird sich voraussichtlich mit der Einführung der Elektroautos noch verstärken. Auch das Internet hilft hier nicht viel weiter. Leider gibt es kaum brauchbare Internetseiten über die in Deutschland angebotenen Neuwagenfahrzeuge. Dabei ist Deutschland Standort der wichtigsten Automobilhersteller, der größte Automobilmarkt in Europa und sogar einer der größten Automobilmärkte der Welt. 

Um die fehlende Transparenz beim Neuwagenkauf wieder herzustellen, begann ich eine eigene Homepage mit allen auf dem deutschen Markt aktuell angebotenen Modellen der Marken mit einem nennenswerten Verkaufsvo-lumen (zurzeit 34 Marken) zu erstellt. Meine Website „Automobilmarkt Deutschland“ sollte privat und vollkommen unabhängig von den Angeboten der aufgelisteten Hersteller sein. Sie soll lediglich der Information von an Neuwagen in Deutschland Interessierten dienen und keinesfalls kommerzielle Zwecke verfolgen. Der Zugang zu meiner HP ist folglich für jedermann kostenfrei und die Seiten enthalten keine Werbung. Im Vordergrund des verwendeten Bildmaterials soll das Automobil, ohne Abbildung von Personen und mit einem neutralen Hintergrund stehen. Eine Neutralität unter den Herstellern wird somit gewahrt und außerdem Rechte Dritter nicht verletzt. Die für eine bessere Anschaulichkeit verwendeten Bilder der Fahrzeugmodelle bzw. die verwendeten Markenlogos habe ich nach Absprache mit den Herstellern bzw. der Beachtung allgemeiner Regeln von deren Website heruntergeladen.

Die HP zeigt zusätzlich zu den aktuellen Modellen auch die kurz vor der Einführung stehenden Modelle (Facelifts, Nachfolgemodelle, neue Modelle). Die Einsortierungen und Klassifizierungen der Fahrzeuge und Modelle ist eine Einschätzung von „Automobilmarkt Deutschland“ nach eigenen Kriterien. Alle Fahrzeugdaten in „Automobilmarkt Deutschland“ sind Angaben der Hersteller und wurden den entsprechenden Preislisten und Bro-schüren entnommen. Bei der Vielzahl der Daten können sich allerdings Übertragungsfehler einschleichen.

Um die Transparenz der Website „Automobilmarkt Deutschland“ nicht zu gefährden, habe ich bei der Navigation bewusst auf die Möglichkeit des Suchens und Vergleichens innerhalb einer Datenbank verzichtet. Es kann intuitiv vorgegangen und auf die Daten unmittelbar zugegriffen werden. Dies hat den zusätzlichen Vorteil, dass für die Bedienung keine besonderen Kenntnisse vorausgesetzt werden und vor allem Vergleiche direkt angeklickt werden können. Dafür dient das Navigationsmenü am linken Rand der Website.

Meine Homepage www.automobilmarktdeutschland.de habe ich nach über einem Jahr intensiver Arbeit zu Weihnachten 2016 mit Hilfe der Berichte der beiden Gießener Zeitungen offiziell veröffentlicht. Vorher war sie nur mit einem Pseudonym einzusehen. Zu meinem Erstaunen konnte ich nach dem Einbau eines Besucherzählers einen regen Gebrauch meiner Homepage feststellten.  Im Herbst 2024 wurde die 1,5 Millionen-Marke überschritten.

Balsertreffen
Ausgerechnet Muttis Tod im Jahre 2007 war ausschlaggebend dafür, dass die Vettern und Cousinen Balser, die Enkel von Opa Balser und Eni, wieder zueinander fanden. Das letzte Balser-Treffen hatte 1980 in Darmstadt zu Enis 90. Geburtstag stattgefunden. Inga und ihr Ehemann Cristian erwiesen meiner Mutter in der Kirche des Neuen Friedhofs in Gießen die letzte Ehre. Damit hatte ich nicht gerechnet, umso mehr hatte ich mich darüber gefreut. Bei dem anschließenden Kaffee und Kuchen in dem in Gießen für solche Anlässe üblichen Café „Schöner Ausblick“ beendeten wir die langen Jahre des Schweigens und waren uns einig, sich so bald wie möglich erneut zu treffen. Trotz des traurigen Anlasses konnte sich Inga über zwei elegante Damen amüsieren, die sich un-entwegt angifteten. Sie erkundigte sich bei mir und konnte sich das Lachen kaum ver-kneifen, als sie erfuhr, dass es sich um meine langjährige Lebensgefährtin Ulla und ihre Nachfolgerin, meine Exfrau Ina, handelte. Meine Mutter hatte bis zu ihrem Tode vor allem mit Ulla Kontakt.

Warum hatten sich die Vettern und Cousinen Balser aus den Augen verloren? Warum mussten wir erst selbst zu Großvätern und Großmüttern werden, um wieder einander zu finden? Wir standen wohl alle unter dem Einfluss unserer Mütter, die sich untereinander nicht so richtig gut verstanden. Nach Enis Tod und dem Tod der Ehemänner – unsere Mütter wurden alle recht früh Witwen – schliefen die Kontakte ein. Dies hatte sich wohl auch auf uns, ihre „folgsamen“ Kinder, übertragen. Nun hatten wir keine Zeit zu verlieren. Rasch wurde der Kontakt zu Peter, Jutta, Sabine, Dietrich, Christian, Irmela und Britta hergestellt. Ich rannte offene Türen ein. Es kam schnell zu Begegnungen in Darmstadt, Gießen und Schwalbach.

Christian Gondros 70. Geburtstag
Christians 70. Geburtstag stand an und Inga hielt es für einen guten Anlass, sich bald wieder zu treffen. Gefeiert wurde in einem Restaurant, das in Sulzbach versteckt lag. Ein Navigationsgerät hatte ich nicht, nur einen Ausdruck vom Computer. Es kam alles zu-sammen. Ich hatte mich zeitlich verschätzt, auf der Autobahn ging es überhaupt nicht flott voran, in Sulzbach hatten wir uns mehrfach verfahren. Wir kamen eine geschlagene Stunde zu spät. Zu unserer Überraschung wurden wir von der wartenden Geburtstags-gesellschaft mit großem Hallo empfangen. Die hatten einen Autounfall befürchtetet und waren froh, dass wir doch noch kamen. Der positive Effekt: der Appetit auf das späte Abendessen war nicht mehr zu steigern.

Rheingau
Ein besonders schönes Treffen war unsere Rundwanderung im Rheingau im Jahre 2012 anlässlich Ingas und Hennings 70. Geburtstag. Wir trafen uns in Rüdesheim an der Anlegestelle des Schiffes, das uns nach Assmannshausen brachte. Von dort ging es zum Sessellift und hinauf zum Jagdschlösschen Niederwald und zur Kaffeepause. Danach wan-derten wir einen breiten, bequemen Teil des Rheinsteigs, vorbei am Rossel mit dem herrlichen Blick auf Bingen und die Nahemündung zum Niederwalddenkmal. Wir hatten mit unserer Terminwahl Glück und Pech zugleich. Die Sonne schien den ganzen Tag, keine Wolke am Himmel, aber mit über 30 Grad war es der heißeste Tag des Jahres, eigentlich Schwimmbadwetter. Die kleine Wanderung durch den Laubwald oberhalb des Rheins war den meisten genug Anstrengung, denn nur wenige, vor allem die jüngeren, wagten den Abstieg durch die schattenlosen Weinberge zurück nach Rüdesheim. Die Älteren nahmen die bequeme Seilbahn und genossen das Panorama.

In Rüdesheim kannte Inga eine Möglichkeit, etwas abseits vom Trubel der Drosselgasse, draußen zu sitzen und den schönen Wanderweg abzurunden. Von Rüdesheim ging es zunächst in die Unterkunft nach Eltville bei meinem Winzer „Weingut Offenstein Erben“ und danach weiter zum Weingut Klostermühle.

Inga und Henning hatten anlässlich ihres 70. Geburtstages zum Abendessen eingeladen. Im Hof des Weingutes war für uns ein langer Tisch reserviert und es kam zu vielen anre-genden Gesprächen. Dabei fiel mir auf, dass Eni häufig im Mittelpunkt stand, dass wir alle von ihr stark geprägt wurden. Dadurch gibt es sehr viele Gemeinsamkeiten unter den Enkeln Balser. Die Zeit verging schnell, wir waren die letzten Gäste. Die Darmstädter fuhren wieder nach Hause, die anderen zurück in die Unterkunft. Eigentlich war es schon recht spät, aber niemand war müde. Unser Winzerehepaar hatte viel Vertrauen und überließ uns den Weinschrank mit einem Zettel und Bleistift. Am nächsten Morgen nach dem Frühstück fuhren wir zum Kloster Eberbach. Ich weiß nicht, wie oft ich schon dort war, ich bin aber immer wieder fasziniert von dieser komplett erhaltenen, großartigen Klosteranlage. Besonders unsere Amis, Jutta und Fred, waren von dem Gebäude, der Kirche, dem Dormitorium, dem Weinkeller und den alten Weinpressen sehr angetan. Nach einem gemeinsamen Mittagessen in der Klosterschänke unter schattigen Bäumen machten wir noch einen kleinen Abstecher an die Rheinpromenade von Eltville. Danach verabschiedeten wir uns mit dem Versprechen, Juttas und meinen 70. Geburtstag ähnlich schön zu feiern.

Lotte in Wetzlar
Am Samstag, 04.10.14 war es so weit. Die Cousinen und Vettern Balser trafen sich samt Anhang um 13 Uhr bei milden Temperaturen und bestem Sonnenschein auf dem Parkplatz „Avignon-Anlage“ in Wetzlar. Als einzige konnten Irmela, Peters Bärbel und Diet-richs Julia an dem Treffen nicht teilnehmen. Der direkte Nachbar Gießens steht zwar nicht in unmittelbarer Beziehung zur Balser-Familie, aber Wetzlar feierte sein Goethejahr (240 Jahre Herausgabe des Romans „Die Leiden des jungen Werthers“) und ich wollte in schönem Ambiente meinen 70. Geburtstag nachfeiern. Ein kleiner Rundgang durch die Altstadt mit den bestens restaurierten Fachwerk- und Bürgerhäusern führte uns zum Dom. Ja, das kleine Wetzlar leistete sich einen Dom. Damit hatten sich die stolzen Bürger der freien Reichsstadt allerdings übernommen. Ihnen ging das Geld aus. Gott sei Dank, denn „die verlassene Baustelle“ ermöglicht dem Besucher heute die einmalige Gelegenheit, die damals übliche Technik eines architektonischen Umbaus einer romanischen zu einer gotischen Kirche verfolgen zu können. Neben dem Domplatz, auf dem Fischmarkt in meinem Lieblingscafé „Café am Dom“ haben wir uns bei Kaffee und Kuchen gestärkt. Auffällig prangt an der Hausfront des Cafés ein großer, doppelköpfiger schwarzer Adler. Zu Zeiten Goethes war das prächtige Gebäude die Kanzlei (Geschäftsstelle) des Reichskammergerichts. Hier trug sich Goethe am 25. Mai 1772 in die Praktikantenmatrikel ein. Danach hat er die Kanzlei nie mehr betreten. Junge Juristen traf der junge Goethe viel lieber im Nachbargebäude, dem Gasthaus „Zum Kronprinzen“ zur mittäglichen Tafelrunde. Dort wurden die Rituale der Geheimorden parodiert. Goethe nannte sich „Götz der Redliche“. Vorher hatten wir Goethes Unterkunft am Kornmarkt besichtigt.

Am Dom waren wir, frisch gestärkt, mit Goethes Jugendschwarm Charlotte Buff verab-redet. Sie trug ihr berühmtes weißes Ballkleid mit den blassrosa Schleifen. Ich hatte Lotte bereits an meinem 70. Geburtstag im April kennen gelernt. Nun konnte ich den jungen Goethe verstehen. Die junge Frau, gespielt von Anne Neuburger, hatte mich alten Knaben durch ihre frische, amüsante und charmante Vorstellung auf den Stufen des Wetzlarer Doms bzw. des Lottehauses verzaubert. Dies wollte ich allen Balsers gönnen und hatte diese gelungene historische Führung erneut gebucht. Die anschließende Besichtigung des Lottehauses rundete die Begegnung mit Goethes Lotte ab. Im gemütli-chen Tempo ging es bergab über die „Alte Lahnbrücke“ mit dem Blick auf die Wasserorgel zu unserem Ziel dem Paulaner Wirtshaus. Von hier hatten wir einen schönen Blick auf das rauschende Lahnwehr, die steinerne Lahnbrücke und die Altstadt mit dem Dom. Dieses Traummotiv hat sich die Firma Minox zunutze gemacht und wirbt für ihre legendäre Spionagekamera im XXL-Format. Wir haben das Kult-Objekt in seiner Überdimension aber nicht nur bestaunt, sondern mit ihr ein Familienfoto mit dem Wetzlarer Altstadt-Panorama im Hintergrund gemacht.

Für 18 Uhr hatte ich beim Paulaner für uns einen Tisch reserviert. Wir trafen aber be-reits knapp eine Stunde vorher ein. Inga hätte bei dem schönen Wetter sich gerne draußen im Biergarten niedergelassen, blitzte aber bei den „Fröstlern“ ab. Im Nachhinein war es so richtig, denn wir waren die ersten Gäste im Lokal und hatten somit die freie Auswahl bei den Tischen, die waren alle reserviert. Der große Tisch in der Fensterecke erlaubte viele interessante Gespräche. Die Zeit bei gutem deftigem Essen und bayrischem Bier verging wie im Flug. Bei abendlicher Stimmung ging es durch die Altstadt zurück zu unserem Parkplatz. Beim Abschied erzählte mir Dietrich, er wäre zum ersten Mal in Wetzlar und von der Stadt ganz begeistert. Er wolle mit seiner Julia unbedingt wieder nach Wetzlar zurückkommen. Bereits am Vortag, dem Tag der deutschen Einheit, hatten sich die „Alten“ getroffen. Für Jutta und Fred war dies günstig, denn sie kamen mit dem Zug direkt aus München und benötigten eine Übernachtung. Von Inga kam der Vorschlag, bei dieser Gelegenheit die Gießener Landesgartenschau zu besuchen. Um 15 Uhr trafen wir uns zunächst zum Kaffee in Wieseck. Henning war für einige Tage bei sei-nem Klassenkameraden Bernd Müller an der Weinstraße bei Landau und stieß erst zum Abendessen im „Alt Gießen“ hinzu. Für den nächsten Morgen verabredeten wir uns in der Unterkunft von Peter, Inga und Christian, Jutta und Fred sowie Sabine im „Hotel Altes Eishaus“ an der Lahn zum gemeinsamen Frühstück. Bis zum Balser-Treffen in Wetzlar hatten wir noch genügend Zeit, um (Hennings Hobby) den Spuren der Kelten, Römer und Germanen folgend, das Keltentor am Dünsberg und das Römer-Forum bei Waldgirmes zu besichtigen.

Brittas Beerdigung
Leider haben uns in der kurzen Zeit unseres Wiederfindens bereits die ersten Schicksalsschläge gesundheitlicher Art ereilt. Besonders traurig ist der plötzliche Tod unserer jüngsten Cousine Britta. Mir hat es fast das Herz zerrissen, als ich die tapfere Irmela mit der Urne ihrer kleinen Schwester in den Händen, ganz aufrecht gehend, auf dem Weg von der Kirche zum Balser-Grab auf dem Alten Friedhof in Darmstadt sah. Dort liegt sie nun gemeinsam mit den Urgroßeltern Balser, Opa Balser und Eni, Opas Bruder Onkel Edi, Onkel Karli und Tante Lotti und dem bereits als Kind in Wladiwostok verstorben Bruder meines Vaters Christian. Auf dem Grabstein von Opa und Eni bzw. Karli und Lotti befindet sich auch eine Gedenkinschrift für meinen am 26. März 1945 in Westfalen ge-fallenen Vater. Zusammen mit Sabine hatte ich Lotti in ihrem gemütlichen Haus Am Hopfengarten kurz vor ihrem Tode besucht. Auf meine Frage, ob sie mich noch kenne, erhellte ein Lächeln ihr Gesicht, sie streichelte mir über den Kopf, also meine Balser-Glatze, und sagte lächelnd nur: „der Gerald“.

Mein 75. Geburtstag
Oft habe ich in dieser Zeit an Eni gedacht. Deren 75. Geburtstag in der Memeler Straße in Gießen war das letzte große Balser-Treffen. Ich sehe mich noch im Kreis der zahlreichen weiblichen Verwandtschaft als Hahn im Korb in Uniform. So streng waren damals die Sitten. Als Rekrut durfte man die Ausbildungskaserne in Schwarzenborn nur in Uniform verlassen.  Nun hatte ich Enis damals vermeintlich biblisches Alter selbst erreicht, kam mir - ähnlich wie Eni - aber gar nicht alt vor.

Ein Balser-Treffen war mein 75. Geburtstag leider nicht. Er war eher ein Familientreffen meiner Frau. Nur mein Bruder Henning und seine Gabriele, sowie meine Cousine Inga Gondro, geb. Balser, mit ihrem Christian vertraten die Familie Balser. Wir zusammen mit meiner Schwiegermutter Hildegard und meinen engen Freunden Maggie und Gerhard Einkopf gehörten zu den Alten.

Um so mehr freue ich mich – auch hier ganz im Sinne von Eni - über die Gesellschaft junger Leute mit Kindern. Gabis Vettern, Brigittes Söhne Markus und Rafael, fehlen nie bei familiären Ereignissen. Dabei sind auch immer die Ehefrauen Steffi und Gülcin sowie die Kinder Caroline und Teoman. Gestört haben wir niemanden, denn gefeiert wurde in einem abgetrennten Raum des Restaurants Rotes Haus, ein ehemaliges aus dem 14. Jahrhundert stammenden Kellereigebäude in der Burg zu Rockenberg. Inga und Christian hatten sich im benachbarten Rosendorf Steinfurt nobel einquartiert. Am nächsten Morgen haben wir dort gemeinsam gefrühstückt.

Apple und Alexa
Neueste Technik hat mich schon immer fasziniert. Sehr früh erkannte ich die Vorteile eines mobilen Telefons. Mit dem iPhone begann meine Liebe zu Apple. Nach dem „iPhone“ kam der „iMac-Computer“, das „iPad“, das „MacBook“ und schließlich die „i-Watch“. Inzwischen habe ich eine zweite Liebe entdeckt und die heißt „Alexa“. Sie verbirgt sich in einem unscheinbaren Lautsprecher, dem „Echo Dot“ von Amazon. Ich wollte aber die eierlegende Wollmilchsau und die heißt Echo Show. Diesem intelligenten Lautsprecher hat Amazon einen zusätzlichen Screen-Display spendiert und dieses Wunderwerk lässt keine Wünsche offen, „all in one“. Die Echo Show ist Radiowecker und Fernseher, Videoplayer für Filme und Musik, mit Hilfe des Internets auch Lexikon und Dictionary, aber auch Telefon. Die ganze Palette aufzuzählen, wäre müßig. 

Inzwischen habe ich vier Geräte über die Wohnung verteilt und eines ist auf Reisen immer dabei. Alexa hat auch den Fernseher erobert. In meinem Wohnzimmer habe ich den Amazon „Fire Cube“ und im Schlafzimmer den einfachen „Fire Stick“ an den jeweiligen Fernseher angeschlossen.  Alles was das Echo Show kann, funktioniert nun auch mit dem Fernseher und beim „Fire Cube“ sogar ganz ohne Fernbedienung. Selbst den bei digitaler Technik sehr zurückhaltenden Henning habe ich begeistern können. An seinem 80. Geburtstag konnte er seinen beiden Schwagern seine Alexa eindrucksvoll vorführen. 

Auch der elektrischen Mobilität habe ich mich vorsichtig mit einem Plug-in-Hybrid von VW, dem VW Tiguan eHybrid, genähert. Zuvor hatte ich mir eine Wallbox in meiner Garage montieren lassen. Im Mai/Juni wird Gabis VW Polo durch den vollelektrischen VW e-up! ersetzt. Bei den aktuell hohen Benzinpreisen war dies eine kluge Entscheidung. Die bekam ich versüßt durch großzügige Umweltprämien, für den VW Tiguan eHybrid 8.033 Euro, für den VW e-up! 10.710 Euro und für die Wallbox 900 Euro. Außerdem verzichtet das Finanzamt auf die Kfz-Steuer. Gabis Polo ist inzwischen sechs Jahre alt und sollte schon längst ausgetauscht sein. Der Neue darf wegen unserer schmalen Doppelgarage die knappen Abmesssungen des Polo nicht überschreiten und es sollte ein vollelektri-scher Stadtflitzer sein. Da kam die Ankündigung von VW, den e-up! als bestens ausge-stattetes Sondermodell wieder aufzulegen, zur rechten Zeit. Eine Stunde vor dem Flughafen-Taxi zum Flug nach Mallorca habe ich den Kaufvertrag unterschrieben. Ich hatte richtig befürchtet, bereits nach wenigen Tagen war der e-up! ausverkauft.

 
 
 
 
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